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Auch bei dem raffiniertest ausgeklügelten System können Fehler vorkommen. Der Volksgerichtshof zu Berlin, ein Gerichtshof, der nichts mit dem Volke zu tun hatte und zu dem das Volk nicht einmal als stummer Zuschauer zugelassen war, denn seine meisten Sitzungen waren geheim – dieser Volksgerichtshof war so ein raffiniert ausgeklügeltes System: ehe der Angeklagte noch den Verhandlungssaal betreten hatte, war er praktisch schon verurteilt, und nichts schien es zu geben, das dafür sprach, daß ein Angeklagter in diesem Saale etwas Erfreuliches erleben könnte.
An diesem Morgen stand nur eine kleine Sache an: gegen Otto und Anna Quangel wegen Landes- und Hochverrats. Der Zuhörerraum war kaum zu einem Viertel gefüllt: ein paar Parteiuniformen, einige Juristen, die aus unerforschlichen Gründen dieser Verhandlung beizuwohnen wünschten, und in der Hauptsache Studenten der Jurisprudenz, die lernen wollten, wie die Justiz Menschen aus der Welt schafft, deren Verbrechen darin bestand, ihr Vaterland mehr geliebt zu haben, als es die verurteilenden Richter taten. Alle diese Leute hatten nur durch »Beziehungen« Eintrittskarten bekommen. Woher der kleine Mann mit dem weißen Spitzbärtchen und den von klugen Fältchen umgebenen Augen, woher der Kammergerichtsrat a. D. Fromm seine Karte bezogen hatte, bleibt unbekannt. Er saß jedenfalls unauffällig zwischen den andern, in einem kleinen Abstand von ihnen, das Gesicht gesenkt und häufig seine goldgefaßte Brille putzend.
Um fünf Minuten vor zehn Uhr wurde Otto Quangel von einem Schupo in den Gerichtssaal geführt. Man hatte ihm die Kleider angezogen, die er bei seiner Verhaftung in der Werkstatt getragen hatte, ein sauberes, aber vielfach geflicktes Alltagsgewand, bei dem die dunkelblauen Flicken sehr lebhaft von dem verwaschenen Blau der Grundfarbe abstachen. Sein immer noch scharfes Auge glitt gleichgültig von den noch leeren Plätzen hinter der Gerichtsschranke zu den Zuschauern hinüber, leuchtete einen Augenblick auf beim Anblick des Kammergerichtsrats – und Quangel setzte sich auf die Bank der Angeklagten.
Kurz vor zehn Uhr wurde die zweite Angeklagte, Anna Quangel, von einem zweiten Schupo hereingeführt, und nun geschah eben jenes Versehen: kaum hatte Anna Quangel ihren Mann gesehen, so ging sie, ohne zu zögern, ohne die Menschen im Saal zu beachten, zu ihm hin und setzte sich neben ihn.
Otto Quangel flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: »Sprich nicht! Noch nicht!«
Aber ein Aufleuchten in seinem Auge sagte ihr, wie erfreut er über dieses Wiedersehen war.
Es war natürlich nie und nirgends in der Geschäftsordnung dieses erlauchten Hauses vorgesehen, daß zwei Angeklagte, die seit Monaten sorgfältig voneinander isoliert worden waren, eine Viertelstunde vor Beginn der Verhandlung sich zusammensetzen und gemütlich miteinander plaudern konnten. Aber sei es nun, daß die beiden Schupos zum ersten Male diesen Dienst versahen und ihre Vorschriften vergessen hatten, oder sei es, daß sie dieser Strafsache keine große Bedeutung beimaßen, oder sei es, daß ihnen die beiden einfachen, fast dürftig angezogenen ältlichen Leutlein ganz unwesentlich erschienen, genug, sie erhoben keinen Einwand gegen den von Frau Anna gewählten Sitzplatz und kümmerten sich auch in der folgenden Viertelstunde so gut wie gar nicht um die beiden Angeklagten. Vielmehr begannen sie ein aufregendes Gespräch über irgendwelche Dienstbezüge, eine ihnen vorenthaltene Nachtzulage und unberechtigte hohe Lohnsteuerabzüge.
Auch im Zuschauerraum wurde – natürlich außer vom Kammergerichtsrat Fromm – von niemandem der Fehler bemerkt. Alle waren nachlässig und schlampig, niemand rügte diesen zum Nachteil des Dritten Reiches und zum Vorteil zweier Hochverräter begangenen Fehler. Ein Prozeß, der nur zwei Angeklagte aus dem Arbeiterstand aufzuweisen hatte, konnte hier keinen großen Eindruck machen. Hier war man Monsterprozesse gewöhnt, mit dreißig, vierzig Angeklagten, die sich meist gar nicht kannten, die aber zu ihrer Überraschung im Verlauf des Prozesses erfuhren, daß sie alle miteinander verschworen gewesen waren, und die demgemäß auch verurteilt wurden.
So konnte Quangel, nach einigen Sekunden sorgfältigen Rundblickes, sagen: »Ich freue mich, Anna. Geht's dir gut?«
»Ja, Otto, jetzt geht's mir wieder gut.«
»Sie werden uns nicht lange beieinander sitzen lassen. Aber wir wollen uns dieser Minuten freuen. Dir ist doch klar, was kommen wird?«
Sehr leise: »Ja, Otto.«
»Ja, das Todesurteil für uns beide, Anna. Es ist unausbleiblich.«
»Aber, Otto ...«
»Nein, Anna, kein Aber. Ich weiß, du hast den Versuch gemacht, alle Schuld auf dich zu nehmen ...«
»Sie werden eine Frau nicht so schwer verurteilen, und du kommst vielleicht mit dem Leben davon.«
»Nein, nicht. Du kannst nicht gut genug lügen. Du wirst nur die Verhandlung in die Länge ziehen. Laß uns die Wahrheit sagen, dann geht es schnell.«
»Aber, Otto ...«
»Nein, Anna, jetzt kein Aber. Denke nach. Laß uns nicht lügen. Die reine Wahrheit ...«
»Aber, Otto ...«
»Anna, ich bitte dich!«
»Otto, ich möchte dich doch retten, ich möchte wissen, daß du lebst!«
»Anna, ich bitte dich!«
»Otto, mach es mir doch nicht so schwer!«
»Sollen wir gegen die anlügen? Uns streiten? Denen ein Schauspiel bieten? Die reine Wahrheit, Anna!«
Sie kämpfte mit sich. Dann gab sie nach, wie sie ihm immer nachgegeben hatte. »Gut, Otto, ich verspreche es dir.«
»Danke, Anna. Ich danke dir sehr.«
Sie schwiegen. Sie sahen vor sich nieder. Beide schämten sich, ihre Rührung zu zeigen.
Die Stimme des einen Polizisten hinter ihnen wurde vernehmbar: »Und da ha'ck den Leutnant jesacht, Leutnant, ha'ck jesacht, so wat könn Se doch mit mir nich machen, Leutnant, ha'ck jesacht ...«
Otto Quangel gab sich einen Ruck. Es mußte sein. Wenn Anna es während der Verhandlung erfuhr – und sie mußte es im Verlauf der Verhandlung erfahren –, war alles noch viel schlimmer. Die Folgen waren ganz unübersehbar. »Anna«, flüsterte er. »Du bist stark und mutig, nicht wahr?«
»Ja, Otto«, antwortete sie. »Jetzt bin ich es. Seit ich bei dir bin, bin ich es. Was ist noch Schlimmes?«
»Ja, es ist etwas Schlimmes, Anna ...«
»Was ist es denn, Otto? Sage es doch, Otto! Wenn selbst du Angst hast, es mir zu sagen, bekomme ich auch Angst.«
»Anna, du hast nichts mehr von der Gertrud gehört?«
»Von welcher Gertrud?«
»Von der Trudel doch!«
»Ach, von der Trudel! Was ist mit der Trudel? Nein, seit wir in der Untersuchungshaft sind, habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie hat mir sehr gefehlt, sie war so gut zu mir. Sie hat mir verziehen, daß ich sie verraten hatte.«
»Du hast sie doch nicht verraten, die Trudel! Erst habe ich es auch gedacht, aber dann habe ich es verstanden.«
»Ja, sie hat es auch verstanden. Ich war so verwirrt während der ersten Verhöre durch diesen schrecklichen Laub, daß ich nicht wußte, was ich sagte, aber sie hat es verstanden. Sie hat mir verziehen.«
»Gottlob! Anna, sei mutig und stark! Die Trudel ist tot.«
»Oh!« stöhnte Anna nur und legte die Hand aufs Herz. »Oh!«
Und er setzte rasch hinzu, um jetzt alles auf einmal hinter sich zu bringen: »Und ihr Mann ist auch tot.«
Jetzt kam lange keine Antwort. Sie saß da, die Hände vor dem gesenkten Gesicht, aber Otto fühlte, daß sie nicht weinte, daß sie noch wie betäubt war von der schrecklichen Nachricht. Und unwillkürlich sprach er die Worte, die der gute Pastor Lorenz zu ihm beim Überbringen dieser Nachricht gesagt hatte: »Sie sind tot. Sie haben den Frieden. Ihnen ist viel erspart geblieben.«
»Ja!« sagte Anna jetzt. »Ja. Sie hat sich soviel um Ihren Karli geängstigt, als keine Nachricht kam, aber nun hat sie den Frieden.«
Sie schwieg lange, und Quangel drängte sie nicht, obwohl er an der Unruhe im Saale merkte, daß der Gerichtshof bald kommen würde. Leise fragte Anna: »Sind die beiden hingerichtet?«
»Nein«, antwortete Quangel. »Er ist an den Folgen eines Schlages gestorben, den er bei der Verhaftung abbekommen hat.«
»Und Trudel?«
»Sie hat sich dann selbst das Leben genommen«, sagte Otto Quangel schnell. »Sie ist über das Gitter im fünften Stock gesprungen. Sie ist sofort tot gewesen, hat der Pastor Lorenz gesagt. Sie hat nicht gelitten.«
»Das ist in der Nacht geschehen«, erinnerte sich Anna Quangel plötzlich, »als das ganze Gefängnis schrie! Jetzt weiß ich es, oh, es war schrecklich, Otto!« Und sie verbarg das Gesicht.
»Ja, es war schrecklich«, wiederholte Quangel. »Auch bei uns war es schrecklich.«
Nach einer Weile hob sie den Kopf wieder und sah Otto fest an. Noch zitterten ihre Lippen, aber sie sagte: »Es ist besser, wie es gekommen ist. Wenn sie hier neben uns säßen, es wäre so schrecklich. Nun haben sie ihren Frieden.« Und ganz leise: »Otto, Otto, wir könnten es auch so machen.«
Er sah sie fest an. Und sie sah in den harten, scharfen Augen ein Licht, wie sie es nie gesehen, ein spöttisches Licht, als sei alles nur ein Spiel, das, was sie jetzt sagte, und das, was kommen würde, und das unvermeidliche Ende. Als sei es nicht wert, so ernst genommen zu werden.
Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, Anna, wir tun das nicht. Wir stehlen uns nicht weg, als seien wir überführte Verbrecher. Wir nehmen ihnen das Urteil nicht ab. Wir nicht!« Und in einem ganz andern Ton: »Für all so was ist es zu spät. Wirst du nicht gefesselt?«
»Doch«, sagte sie. »Aber als der Schupo mich bis an die Tür hier geführt hatte, hat er mir das Kettchen abgenommen.«
»Du siehst!« sagte er. »Es würde mißlingen.«
Er verschwieg ihr, daß er, seit man ihn aus dem Untersuchungsgefängnis fortgeführt hatte, gefesselt war, mit Handschellen und einer Kette, mit Fußschellen und einer Eisenstange. Wie bei Anna hatte der Schupo ihm erst an der Tür des Verhandlungssaals diesen Schmuck abgenommen: der Staat sollte nicht um sein Schlachtopfer betrogen werden.
»Nun gut«, fand sie sich drein. »Aber du glaubst doch, Otto, daß wir zusammen hingerichtet werden?«
»Ich weiß nicht«, sagte er ausweichend. Er wollte sie nicht belügen und wußte doch, jedes würde allein sterben müssen.
»Aber man wird uns doch zur gleichen Stunde hinrichten?«
»Sicher, Anna, bestimmt wird man das!«
Aber er war nicht so sicher. Er fuhr fort: »Aber denke jetzt nicht daran. Denke nur daran, daß wir jetzt stark sein müssen. Wenn wir uns schuldig bekennen, wird alles sehr schnell gehen. Wenn wir keine Ausflüchte machen und nicht lügen, haben wir vielleicht schon in einer halben Stunde unser Urteil.«
»Ja, so wollen wir es machen. Aber, Otto, wenn es so schnell geht, werden wir auch schnell wieder getrennt, und vielleicht sehen wir uns nie wieder.«
»Bestimmt sehen wir uns – vorher noch wieder, Anna. Das hat man mir gesagt, wir dürfen noch Abschied nehmen voneinander. Bestimmt, Anna!«
»Dann ist es gut, Otto, dann habe ich doch was, auf das ich mich jede Stunde freuen kann. Und jetzt sitzen wir beisammen.«
Sie saßen nur noch eine Minute beisammen, dann wurde der Fehler entdeckt, und die beiden wurden weit auseinander gesetzt. Sie mußten den Kopf wenden, um einander zu sehen. Gottlob war es der Anwalt von Frau Quangel, der den Fehler entdeckte, ein freundlicher, grauer, etwas versorgter Mann, den das Gericht als Pflichtanwalt bestellt hatte, da Quangel dabei geblieben war, kein Geld an eine so nutzlose Sache wie ihre Verteidigung zu wenden.
Da der Anwalt den Fehler entdeckt hatte, ging es ohne alles Geschrei ab. Auch die beiden Schutzpolizisten hatten alle Ursache, den Mund zu halten, und so erfuhr der Präsident des Volksgerichtshofes, Feisler, nie, was hier Unverzeihliches geschehen war. Die Verhandlung hätte sonst wahrscheinlich noch viel länger gedauert.