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Die Verlegung in das Untersuchungsgefängnis hatte Trudel Hergesell von Anna Quangel getrennt. Es wurde Trudel schwer, die »Mutter« entbehren zu müssen. Sie hatte längt vergessen, daß Anna der Grund ihrer Verhaftung gewesen war, nein, sie hatte es nicht vergessen, aber sie hatte es verziehen. Mehr noch, sie hatte eingesehen, daß es eigentlich auch nichts zu verzeihen gab. In diesen Verhören war niemand seiner ganz sicher, die gerissenen Kommissare konnten eine harmlose Erwähnung zu einer Schlinge machen, in der man sich rettungslos fing.
Nun war Trudel ohne die Mutter, sie hatte niemanden mehr, mit dem sie sprechen konnte. Von dem Glück, das sie einmal besessen, von der Sorge um Karli, die sie jetzt ganz erfüllte, mußte sie schweigen. Ihre neue Zellengenossin war ein ältliches, gelbes Frauenzimmer – die beiden hatten sich vom ersten Augenblick gehaßt, und immer hatte dieses Weib mit den Wärterinnen und Aufseherinnen zu tuscheln. War der Pastor in der Zelle, entging kein Wort ihrer Aufmerksamkeit.
Durch den Pastor hatte Trudel freilich doch etwas über ihren Karli erfahren. Frau Hansel, ihre Zellengenossin, war gerade mal wieder vorne auf der Verwaltung, sicher, um irgendeinen Menschen durch ihre Klatschereien ins Unglück zu stürzen. Der Pastor hatte Trudel erzählt, daß ihr Mann mit ihr im gleichen Gefängnis sei, daß er aber krank liege, meist ohne klare Besinnung – immerhin könne er ihr aber einen Gruß von Karli ausrichten.
Seitdem lebte Trudel nur in der Hoffnung auf des Pfarrers Besuche. Wenn auch die Hansel dabei war, immer brachte es der Geistliche fertig, ihr eine Nachricht zuzuschanzen. Oft saßen sie dabei unter dem Fenster, die Schemel eng aneinandergerückt, und der Pastor Lorenz las ihr ein Kapitel aus dem Neuen Testament vor, während die Hänsel meist an der andern Zellenwand stand, den Blick aufmerksam auf die beiden gerichtet.
Für Trudel war die Bibel etwas ganz Neues. Sie war religionslos durch die Hitlerschulen gegangen, und sie hatte nie ein religiöses Bedürfnis gespürt. Gott war für sie kein Begriff, Gott war für sie nur ein Wort in Ausrufen wie: »Ach, du lieber Gott!« Man konnte ebensogut »Ach, du lieber Himmel!« sagen – es machte keinen Unterschied.
Auch jetzt, als sie aus dem Evangelium Matthäi vom Leben Christi erfuhr, sagte sie dem Pastor, sie könne sich darunter, daß er »Gottes Sohn« sei, nichts vorstellen. Aber der Pastor Lorenz hatte dazu nur sanft gelächelt und gemeint, das schade jetzt nichts. Sie solle nur darauf achten, wie dieser Jesus Christus auf der Erde gelebt habe, wie er die Menschen geliebt habe, auch seine Feinde. Die »Wunder« solle sie nehmen, wie sie wolle, als schöne Märchen, aber sie solle doch erfahren, wie einer auf dieser Erde gelebt habe, so daß seine Spur noch nach fast zweitausend Jahren unvergänglich strahle, ewiges Abbild dessen, daß die Liebe stärker sei als der Haß.
Trudel Hergesell, die ebenso kräftig hassen wie lieben konnte (und die beim Empfang dieser Lehre die Frau Hänsel in drei Metern Entfernung aus tiefstem Herzen haßte), Trudel Hergesell hatte sich zuerst gegen eine solche Lehre aufgelehnt. Sie kam ihr gar zu weichlich vor. So war es nicht Jesus Christus, der ihr Herz empfänglicher machte, sondern sein Pastor Friedrich Lorenz. Wenn sie diesen Mann betrachtete, dessen schwere Krankheit niemand übersehen konnte, wenn sie erlebte, daß er an ihren Sorgen teilhatte, als seien es seine eigenen, daß er nie an sich selbst dachte, wenn sie seinen Mut erkannte, der ihr beim Lesen einen Zettel in die Hand spielte, auf dem eine Botschaft über Karli stand, und wenn sie ihn dann mit der Angeberin Hänsel genauso freundlich-gütig sprechen hörte wie mit ihr selbst, mit dieser Frau, von der er doch wußte, sie war zu jeder Minute fähig, ihn zu verraten, ihn dem Henker auszuliefern, so empfand sie etwas wie Glück, einen tiefen Frieden, der von diesem Mann ausging, der nicht hassen, sondern nur lieben wollte, auch noch den schlechtesten Menschen lieben.
Dieses neue Gefühl bewirkte nun freilich nicht in ihr, daß die Trudel Hergesell milder zur Hänsel geworden wäre, aber sie wurde ihr vielleicht gleichgültiger, der Haß war ihr nicht mehr so wichtig.
Sie konnte manchmal auf ihren Wanderungen durch die Zelle plötzlich vor der Hänsel stehenbleiben und sie fragen: »Warum machen Sie das eigentlich? Warum verklatschen Sie jeden? Hoffen Sie eine geringere Strafe zu bekommen?«
Die Hänsel wendete bei einer solchen Ansprache den Blick ihrer gelben, bösen Augen nicht von Trudel ab. Entweder antwortete sie gar nichts, oder sie sagte: »Denken Sie denn, ich habe nicht gesehen, wie Sie Ihre Brust gegen den Arm vom Pastor gedrückt haben? So 'ne Gemeinheit, einen halbtoten Mann noch verführen zu wollen! Aber warte, ich erwisch euch beide noch mal! Ich erwisch euch!«
Bei was die Hänsel den Pastor und die Trudel Hergesell erwischen wollte, blieb unklar. Trudel hatte für solche Schmähungen auch nur ein kurzes, spöttisches Auflachen und nahm dann wortlos ihre endlose Zellenwanderung wieder auf, immer mit dem Gedanken an Karli beschäftigt. Es war nicht zu verkennen, daß die Nachrichten über ihn stets schlechter wurden, so vorsichtig und schonend sie der Pastor auch abfaßte. Wenn es etwa hieß, daß nichts Neues vorlag, da sein Zustand unverändert sei, so bedeutete das, daß Karli ihr keinen Gruß bestellt hatte, was wieder so zu verstehen war, daß er besinnungslos lag. Denn der Pastor log nicht, das hatte Trudel auch schon gelernt, er bestellte keinen Gruß, wenn ihm keiner aufgetragen war. Er verschmähte jeden billigen Trost, der sich eines Tages doch als Lüge entpuppen mußte.
Aber auch durch die Vernehmungen durch den Untersuchungsrichter wußte Trudel, daß es schlimm mit ihrem Manne stand. Nie wurde auf eine neuere Aussage von ihm Bezug genommen, über alles sollte sie Auskunft geben, und sie wußte doch wirklich nichts über den Koffer des Grigoleit, der sie beide ins Unglück gerissen hatte. Wenn die Vernehmungsmethoden des Untersuchungsrichters auch nicht so bodenlos gemein und brutal waren wie die des Kommissars Laub, die gleiche Hartnäckigkeit wie Laub hatte er auch. Trudel kam von diesen Sitzungen immer völlig erschöpft und mutlos in ihre Zelle zurück. Ach, Karli, Karli! Ihn nur einmal wiedersehen dürfen, an seinem Lager sitzen, seine Hand halten dürfen, ganz still, ohne ein Wort!
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie geglaubt, sie liebte ihn nicht, sie würde ihn nie lieben können. Nun war sie wie durchtränkt von ihm, die Luft, die sie atmete, war er, das Brot, das sie aß, er, die Decke, die sie wärmte, er. Und er war so nahe, ein paar Gänge, ein paar Treppen, eine Tür – aber auf der ganzen Welt war kein Mensch so barmherzig, daß er sie einmal, ein einziges Mal nur zu ihm hingeführt hätte! Auch dieser schwindsüchtige Pastor nicht!
Sie hatten eben alle Angst um ihr liebes Leben, sie wagten nichts Ernstliches, um einer Hilflosen wirklich zu helfen. Und plötzlich kommt in ihre Erinnerung der Leichenkeller aus dem Gestapobunker, der lange SS-Mann, der sich eine Zigarette ansteckte und zu ihr »Mädel! Mädel!« sagte, ihr Suchen zwischen den Leichen, nachdem Anna und sie die tote Berta entkleidet hatten – und es scheint ihr, als ob das damals noch eine milde, barmherzige Stunde war, als sie Karli suchen durfte. Und nun? Eingeschlossen das zuckende Herz zwischen Eisen und Stein! Allein!
Die Tür wird geschlossen, viel langsamer und sachter, als es die Aufseherinnen tun, klopft es gar: der Pastor.
»Darf ich eintreten?« fragt er.
»Kommen Sie bitte, kommen Sie doch, Herr Pastor!« ruft Trudel Hergesell weinend.
Während die Frau Hänsel mit einem gehässigen Blick murmelt: »Was will der denn schon wieder?«
Und da lehnt Trudel plötzlich ihren Kopf gegen die schmale, rasch atmende Brust des Geistlichen, ihre Tränen fließen, sie verbirgt das Gesicht an seiner Brust, und sie fleht: »Herr Pastor, mir ist so angst! Sie müssen mir helfen! Ich muß den Karli sehen, nur einmal noch! Ich fühle, es wird das letzte Mal sein ...«
Und die grelle Stimme der Frau Hänsel: »Das melde ich! Das melde ich aber sofort!« Während der Pastor ihr tröstend über den Kopf streicht und sagt: »Ja, mein Kind, Sie sollen ihn sehen, einmal noch!«
Da schüttelt sie ein immer stärkeres Schluchzen, und sie weiß, daß Karli tot ist, daß sie ihn nicht umsonst im Leichenkeller gesucht hat, daß es eine Vorahnung war, eine Warnung.
Und sie schreit: »Er ist tot! Herr Pastor, er ist tot!«
Und er antwortet, er spendet den einzigen Trost, den er diesen Todgeweihten spenden kann, er sagt: »Kind, er leidet nicht mehr. Du hast es schwerer.«
Sie hört es noch. Sie will darüber nachdenken, es richtig verstehen, aber es wird ihr dunkel vor den Augen. Das Licht erlischt. Ihr Kopf sinkt vornüber.
»Fassen Sie doch mit an, Frau Hänsel!« bittet der Pastor. »Ich bin zu schwach, sie zu halten.«
Und dann ist auch draußen Nacht, Nacht zu Nacht, Dunkel zu Dunkel.
Trudel, verwitwete Hergesell, ist aufgewacht, und sie weiß, daß sie nicht in ihrer Zelle ist, und sie weiß wieder, daß Karli tot ist. Sie sieht ihn wieder liegen auf seiner schmalen Zellenpritsche, mit dem so klein und jung gewordenen Gesicht, und sie denkt an das Gesicht des Kindes, das sie geboren, und beide Gesichter gehen ineinander über, und sie weiß, daß sie alles verloren hat auf dieser Welt, Kind und Mann, daß sie niemals wird lieben, nie wird Kinder gebären dürfen, und alles dies, weil sie für einen alten Mann eine Postkarte auf ein Fensterbrett gelegt hat, daß darum ihr ganzes Leben zerbrochen ist und das von Karli dazu, und daß es nie wieder Sonne und Glück und Sommer für sie geben wird, und keine Blumen ...
Blumen auf mein Grab, Blumen auf dein Grab ...
Und bei dem ungeheuren Schmerz, der sich immer weiter in ihr ausbreitet, der sie durchkältet wie Eis, schließt sie die Augen wieder und will zurück in Nacht und Vergessen. Aber die Nacht ist draußen, sie bleibt dort, sie dringt nicht in sie ein, aber plötzlich durchströmt Hitze sie ... Sie springt mit einem Schrei vom Bett auf und will fort, nur laufen, diesem gräßlichen Schmerz entlaufen. Aber eine Hand faßt nach ihr ...
Es wird hell, und wieder ist es der Pastor, der bei ihr gesessen hat, der sie nun festhält. Ja, es ist eine fremde Zelle, es ist Karlis Zelle, aber sie haben ihn schon fortgebracht, und der Mann, der hier mit Karli in der Zelle lag, ist auch fort.
»Wo ist er hingebracht?« fragt sie atemlos, als sei sie einen weiten Weg gelaufen.
»Ich werde an seinem Grab meine Gebete sprechen.«
»Was helfen ihm jetzt noch Ihre Gebete? Hätten Sie um sein Leben gebetet, als noch Zeit dafür war!«
»Er hat den Frieden, Kind!«
»Ich will hier fort!« sagt Trudel fieberhaft. »Bitte, lassen Sie mich zurück in meine Zelle, Herr Pastor! Ich habe dort ein Bild von ihm, ich muß es sehen, jetzt gleich. Er sah so anders aus.«
Und während sie so spricht, weiß sie sehr wohl, daß sie den guten Pastor belügt und daß sie ihn betrügen will. Denn sie besitzt kein Bild von Karli, und sie will nie in ihre Zelle zu der Frau Hänsel zurück.
Und flüchtig schießt es ihr durch den Kopf: Ich bin ja wahnsinnig, aber jetzt muß ich mich gut verstellen, daß er es nicht merkt ... Nur fünf Minuten noch meinen Wahnsinn verstecken!
Der Pastor führt sie sorglich an seinem Arm aus der Zelle über viele Gänge und Treppen in das Frauengefängnis zurück, und aus vielen Zellen hört sie tiefes Atmen – die schlafen – und aus andern rastlose Schritte – sie sorgen sich – und wieder aus andern Weinen – die tragen Leid, aber niemand trägt soviel Leid wie sie.
Aber als der Pastor eine Tür auf- und hinter ihr wieder abgeschlossen hat, nimmt sie seinen Arm nicht wieder, und schweigend gehen die beiden weiter durch den nächtlichen Gang mit den Dunkelarrestzellen, aus denen der betrunkene Arzt gegen sein Versprechen die beiden Kranken nicht erlöst hat, und nun steigen sie viele Treppen im Frauengefängnis hinan bis zur Station V, wo die Trudel liegt.
Dort auf dem obersten Gang schlurft ihnen eine Wärterin entgegen und sagt: »Jetzt, nachts um elf Uhr vierzig bringen Sie erst die Hergesell zurück, Herr Pastor? Wo waren Sie denn so lange mit ihr?«
»Sie war viele Stunden ohnmächtig. Ihr Mann ist gestorben, wissen Sie.«
»So – und da haben Sie die junge Frau also getröstet, Herr Pastor? Sehr hübsch. Die Frau Hänsel hat mir erzählt, sie soll Ihnen ganz schamlos immer gleich um den Hals fallen. Da muß solch nächtliches Trösten besonders hübsch sein! Ich werde das ins Wachtbuch schreiben!«
Aber ehe der Pastor sich noch mit einem Wort gegen diese Schmutzerei hat zur Wehr setzen können, sehen sie beide, daß Frau Trudel, verwitwete Hergesell, über das Eisengitter des Ganges geklettert ist. Einen Augenblick steht sie da, hält sich noch mit einer Hand am Geländer fest, mit dem Rücken zu ihnen.
Und sie rufen: »Halt! Nein! Bitte nicht!«
Und sie stürzen zu ihr hin, die Hände greifen schon nach ihr.
Aber wie eine Schwimmerin, die einen Kopfsprung machen will, hat sich die Trudel Hergesell schon in die Tiefe gestürzt. Sie hören ein Flattern und Sausen, ein dumpfes Aufschlagen.
Und dann ist alles totenstill, während sie die bleichen Gesichter über das Geländer neigen und doch nichts sehen.
Dann machen sie einen Schritt zur Treppe hin.
Und in demselben Augenblick bricht die Hölle los,
Es ist, als sei's durch die eisenbeschlagenen Zellentüren zu sehen gewesen, was geschehen ist. Erst ist es vielleicht nur ein hysterischer Schrei gewesen, aber er lief weiter von Zelle zu Zelle und von Station zu Station, von der einen Gangseite zur andern, über den Abgrund fort.
Und während er weiterlief, wurde aus dem einen Schrei ein Brüllen, Heulen, Zetern, Keifen, Toben.
»Ihr Mörder! Ihr habt sie umgebracht! Bringt uns doch gleich alle um, ihr Henker!«
Und es gab welche, die hingen sich an die Fenster und schrien es auf die Höfe, so daß auch die Männerflügel aus ihrem angstdünnen Schlaf erwachten, und es tobte, es schrie, es geiferte, es plärrte, es grunzte, es verzweifelte.
Es klagte an, es klagte an mit tausend, mit zweitausend, mit dreitausend Stimmen, schrie das Tier seine Anklage aus tausend, zweitausend, dreitausend Mäulern.
Und die Alarmglocke schrillte, und sie trommelten mit den Fäusten gegen die Eisentüren, mit den Schemeln rannten sie dagegen an. Die Eisenbetten fielen knallend in ihren Scharnieren und wurden wieder hochgerissen und knallten neu. Scheppernd fuhren die Eßschüsseln auf dem Boden herum, die Kübeldeckel lärmten, und das ganze Haus, dieses Riesengefängnis stank plötzlich wie eine verhundertfachte Latrine.
Und die Bereitschaften fuhren in ihre Kleider und griffen nach ihren Gummiknütteln.
Und Zellentüren wurden aufgeschlossen: Knackknack!
Und der klatschend dumpfe Laut von Gummiknütteln auf die Schädel hernieder wurde laut und das Gebrüll Wütender, vermischt mit dem Gescharr kämpfender Füße, und die hohen, tierhaften Schreie der Epileptiker und das Juhu-Gejodel idiotischer Spaßmacher und die gellenden Ludenpfiffe ...
Und Wasser klatschte in die Gesichter der eindringenden Aufseher.
Und in der Leichenkammer lag Karli Hergesell ganz still mit einem kindhaft kleinen, friedlichen Gesicht.
Und all das war eine wilde, panische, grausige Symphonie, gespielt zu Ehren Trudels, verwitweter Hergesell, geborener Baumann.
Aber sie lag unten, halb auf dem Linoleum, halb auf dem schmutziggrauen Zementboden der unteren Station I.
Sie lag da ganz still, ihre kleine graue Hand, die noch soviel Mädchenhaftes hatte, war leicht geöffnet. Ihre Lippen waren von ein wenig Blut gefärbt, ihre Augen sahen blicklos in eine unbekannte Gegend.
Aber ihre Ohren schienen auf den tosenden, auf- und abschwellenden Höllenlärm zu lauschen, und ihre Stirn war gefaltet, als grüble sie darüber nach, ob dieses wohl der Friede sei, den ihr der gute Pastor Lorenz versprochen.
In Verfolg aber dieses Selbstmordes wurde der Gefängnisgeistliche Friedrich Lorenz von seinem Amte suspendiert, und nicht der versoffene Arzt. Ein Verfahren wurde gegen den Geistlichen eröffnet. Denn es ist ein Verbrechen und die Begünstigung eines Verbrechens, wenn einem Gefangenen gestattet wird, selbst sein Lebensende zu bestimmen: dazu sind allein der Staat und seine Diener berechtigt.
Wenn ein Kriminalbeamter einen Mann mit seinem Pistolenkolben so verletzt, daß er sterbenskrank wird, und wenn ein betrunkener Arzt den Verletzten sterben läßt, so ist das alles in Ordnung. Aber wenn ein Geistlicher einen Selbstmord nicht verhindert, wenn er einem Gefangenen, der keinen eigenen Willen mehr haben darf, den eigenen Willen läßt, so hat er ein Verbrechen begangen und muß dafür büßen.
Leider entzog sich Pastor Friedrich Lorenz – genau wie diese Hergesell – der Sühne seines Verbrechens, indem er an einem Blutsturz starb, gerade in dem Augenblick, als er verhaftet werden sollte. Es war nämlich auch der Verdacht aufgetaucht, daß er unsittliche Beziehungen zu seinen Betreuten unterhielt. Er aber hatte den Frieden, wie er selber gesagt hätte, ihm blieb viel erspart.
Aber so kam es, daß Frau Anna Quangel bis zur Hauptverhandlung nichts von dem Tode von Trudel und Karl Hergesell erfuhr, denn der Nachfolger des guten Pastors war zu ängstlich oder unwillig, Botengänge unter den Gefangenen zu übernehmen. Er beschränkte sich strikte auf die Seelsorge, da, wo sie gewünscht wurde.