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Die beiden Quangels sind an diesem Sonntagabend ohne ein Wort nach Hause gefahren, ohne ein Wort haben sie zu Abend gegessen. Frau Anna, die, als es darauf ankam, so mutig und entschlossen gewesen war, hatte in der Küche rasch einige heimliche Tränen geweint, von denen Otto nichts wissen durfte. Jetzt hinterher, da alles ausgestanden war, haben Schrecken und Angst sie erfaßt. Beinahe wäre es schiefgegangen, um ein kleines, und es wäre zu Ende mit ihnen beiden gewesen. Wenn dieser Millek nicht so ein bekannter Querulant gewesen wäre. Wenn sie die Karte nicht hätte loswerden können. Wenn der Vorsteher im Revier ein anderer Mann gewesen wäre – man sah es ihm ja an, daß er diesen Denunzianten nicht ausstehen konnte! Ja, einmal ist es noch wieder gut gegangen, aber nie, nie darf sich Otto wieder in eine solche Gefahr begeben.
Sie kommt in die Stube, wo ihr Mann ratlos auf und ab geht. Sie brennen kein Licht, aber er hat die Verdunklung hochgezogen, es ist Mondschein.
Otto geht auf und ab, immer noch wortlos.
»Otto!«
»Ja?«
Er bleibt mit einem Ruck stehen und sieht zu der Frau hinüber, die sich in die Sofaecke gesetzt hat, kaum sichtbar in dem fahlen, schwachen Mondlicht, das in die Stube sickert.
»Otto, ich glaube, jetzt machen wir am besten eine Pause. Im Augenblick haben wir kein Glück.«
»Geht nicht«, antwortet er. »Geht nicht, Anna. Das würde auffallen, wenn plötzlich keine Karten mehr kommen. Jetzt grade, wo sie uns beinahe erwischt haben, würde es besonders auffallen. So dumm sind die auch nicht – die würden merken, daß da ein Zusammenhang besteht zwischen uns und den Karten, die plötzlich nicht mehr kommen. Wir müssen schon weitermachen, ob wir wollen oder nicht.«
Er setzte hart hinzu: »Und ich will!«
Sie seufzte schwer. Sie hatte nicht den Mut, ihm laut beizustimmen, obwohl sie einsah, er hatte recht. Dies war kein Weg, auf dem man einhalten konnte, wenn man wollte. Es gab kein Zurück, keine Ruhe. Man mußte immer weiter.
Nach einer Weile Nachdenkens sagte sie: »Dann laß mich von jetzt an die Karten fortbringen, Otto. Du hast jetzt kein Glück damit.«
Grollend sagte er: »Ich kann nichts dafür, wenn solch ein Angeber drei Stunden hinter dem Guckloch sitzt. Ich habe mich überall genau umgesehen, ich war vorsichtig!«
»Ich habe nicht gesagt, Otto, daß du unvorsichtig warst. Ich hab gesagt, du hast jetzt kein Glück. Dafür kannst du nichts.«
Wieder lenkt er ab. »Wo bist du eigentlich mit der zweiten Karte geblieben? Am Leibe versteckt?«
»Das ging nicht, weil doch immer Leute dabei waren. Nein, Otto, ich habe sie in einen Briefkasten am Nollendorfplatz gesteckt, gleich in der ersten Aufregung.«
»Briefkasten? Sehr gut. Hast du gut gemacht, Anna. Wir werden in den nächsten Wochen überall, wo wir gerade sind, Karten in die Briefkästen stecken, damit diese eine nicht so auffällt. Briefkästen sind gar nicht so schlecht, auch bei der Post werden nicht nur Nazis sein. Und das Risiko ist auch geringer.«
»Bitte, Otto, laß mich die Karten von nun an verteilen«, bat sie noch einmal.
»Du mußt nicht glauben, Mutter, daß ich einen Fehler gemacht habe, den du hättest vermeiden können. Das sind die Zufälle, vor denen ich mich immer gefürchtet habe, gegen die es keine Vorsicht gibt, weil man sie nicht voraussehen kann. Was kann ich gegen einen Spion tun, der drei Stunden hinter einem Guckloch sitzt? Und du kannst plötzlich krank werden, du fällst nur hin und brichst dir ein Bein – gleich suchen sie deine Taschen nach und finden solch eine Karte! Nein, Anna, gegen die Zufälle gibt es keinen Schutz!«
»Es würde mich so sehr beruhigen, wenn du mir die Verteilung überlassen würdest!« fing sie wieder an.
»Ich sage nicht nein, Anna. Ich will dir die Wahrheit gestehen, ich fühle mich plötzlich unsicher. Es ist mir, als könnte ich stets nur auf einen Fleck starren, auf dem der Gegner nicht sitzt. Und als säßen Feinde überall in meiner Nähe, und ich kann sie nicht sehen.«
»Du bist nervös geworden, Otto. Das geht schon zu lange. Wenn man nur ein paar Wochen damit aufhören könnte! Aber du hast recht, das geht nicht. Aber von jetzt an werde ich die Karten wegbringen.«
»Ich sage nicht nein. Tu's! Ich habe keine Angst, aber du hast recht, ich bin jetzt nervös. Das machen diese Zufälle, mit denen ich nie gerechnet habe. Ich habe geglaubt, es genügt, wenn man seine Sache nur ordentlich macht. Aber es ist nichts damit, man muß auch Glück haben, Anna. Wir haben lange Glück gehabt, jetzt scheint es ein bißchen anders zu kommen ...«
»Es ist ja noch einmal gut gegangen«, sagte sie beruhigend. »Es ist nichts geschehen.«
»Aber sie haben unsere Adresse, jederzeit können sie auf uns zurückgreifen! Diese verdammte Verwandtschaft, ich habe immer gesagt, sie taugt nichts.«
»Sei jetzt nicht ungerecht, Otto. Was kann Ulrich dafür?«
»Natürlich kann er nichts dafür! Wer hat was anderes gesagt? Aber wenn er nicht wäre, hätten wir dort keinen Besuch gemacht. Es taugt nichts, sich an Menschen zu hängen, Anna. Das macht alles nur schwerer. Nun sind wir in Verdacht.«
»Wenn wir wirklich in Verdacht wären, hätten sie uns nicht laufenlassen, Otto!«
»Die Tinte!« sagte er, plötzlich stehenbleibend. »Wir haben die Tinte noch im Haus! Die Tinte, mit der ich die Karte geschrieben habe, und die gleiche Tinte ist hier im Fläschchen!«
Er lief, goß die Tinte in den Ausguß. Hinterher zog er sich an.
»Wohin willst du, Otto?«
»Die Flasche muß aus dem Haus! Wir besorgen morgen eine andere Sorte. Verbrenn unterdes den Federhalter, vor allem auch alte Karten und altes Briefpapier, das wir noch hier haben. Alles muß verbrannt werden! Sieh jedes Schubfach nach. Es darf nichts mehr von all dem Zeug im Haus sein!«
»Aber Otto, wir sind doch nicht in Verdacht! Das alles hat doch Zeit!«
»Nichts hat Zeit! Tu, was ich dir sage! Alles durchsehen, alles verbrennen!«
Als er wiederkam, war er ruhiger. »Ich habe das Fläschchen in den Friedrichshain geworfen. Hast du alles verbrannt?«
»Ja!«
»Wirklich alles? Alles durchgesehen und verbrannt?«
»Wenn ich es dir doch sage, Otto!«
»Natürlich, ist ja gut, Anna! Aber komisch, wieder ist mir so, als könnte ich den Feind nicht sehen, wo er wirklich sitzt. Als hätte ich was vergessen!«
Er fuhr mit der Hand über die Stirn, sah sie nachdenklich an.
»Beruhige dich, Otto, du hast bestimmt nichts vergessen, nichts. In dieser Wohnung ist nichts mehr.«
»An meinen Fingern habe ich keine Tinte? Verstehst du, ich darf nicht den geringsten Tintenfleck an mir haben, jetzt, wo keine Tinte mehr im Hause ist.«
Sie sahen nach, und wirklich fanden sie noch einen Tintenfleck an seinem rechten Zeigefinger. Sie rieb ihn mit der Hand fort.
»Siehst du, ich sage es ja, man findet immer noch was! Das sind die Feinde, die ich nicht sehen kann. Nun, vielleicht war es dieser Tintenfleck, auf den ich nicht geachtet habe, und der mich immer noch quälte!«
»Er ist fort, Otto, nun ist nichts mehr, das dich unruhig machen muß!«
»Gott sei Dank! Versteh, Anna, ich habe keine Angst, aber ich möchte doch nicht, daß wir zu früh entdeckt werden. So lange wie möglich möchte ich noch meine Arbeit tun. Wenn es geht, will ich noch erleben, wie dies alles zusammenbricht. Ja, das möchte ich noch erleben. Ein wenig haben doch auch wir dazu geholfen!«
Und diesmal ist es Anna, die ihm Trost zuspricht: »Ja, du wirst es erleben, wir werden es beide noch erleben. Was ist denn geschehen? Gewiß, wir waren in großer Gefahr, aber ... du sagst, das Glück hat sich gegen uns gewendet? Das Glück ist uns treu geblieben, die Gefahr ist vorüber. Wir sind hier.«
»Ja«, sagte Otto Quangel. »Wir sind hier, wir sind frei. Noch sind wir es. Und ich hoffe, wir sind es noch lange, lange ...«