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57.
Das Leben in der Zelle

Sie gewöhnten sich aneinander, sie wurden Freunde, soweit ein harter, trockener Mensch wie Otto Quangel der Freund eines aufgeschlossenen, gütigen Menschen werden konnte. Ihr Tag war – durch Reichhardt – fest eingeteilt. Der Doktor stand sehr früh auf, er wusch sich kalt am ganzen Leibe, machte eine halbe Stunde Gymnastikübungen und reinigte dann selbst die Zelle. Später, nach dem Frühstück, las Reichhardt zwei Stunden und ging dann eine Stunde lang in der Zelle auf und ab, wobei er nie vergaß, die Schuhe auszuziehen, um seine Nachbarn in der Zelle darüber und darunter nicht durch sein ständiges Aufundabgehen nervös zu machen.

Bei diesem Morgenspaziergang, der von zehn bis elf Uhr dauerte, sang Dr. Reichhardt vor sich hin. Meist summte er nur ganz leise, denn vielen Aufsehern war kaum etwas Gutes zuzutrauen, und Quangel hatte sich daran gewöhnt, diesem Summen zu lauschen. Sowenig er auch von der Musik halten mochte, er merkte doch, daß dieses Summen ihn beeinflußte. Manchmal machte es ihn mutig und stark genug, jedes Schicksal zu ertragen, dann sagte Reichhardt wohl: »Beethoven«. Und manchmal machte es ihn auf eine unbegreifliche Art leicht und fröhlich, wie er es nie in seinem Leben gewesen war, dann sagte Reichhardt: »Mozart«, und Quangel wußte nichts mehr von seinen Sorgen. Und wiederum kam es dunkel und schwer von des Doktors Munde, dann war es manchmal wie ein Schmerz in Quangels Brust und wieder, als säße er als Junge mit seiner Mutter in der Kirche: das ganze Leben lag noch vor ihm, und das war etwas Großes. Reichhardt aber sagte: »Johann Sebastian Bach«.

Ja, Quangel, der immer weiter wenig von der Musik hielt, konnte sich doch nicht ganz ihrem Einfluß entziehen, so primitiv das Singen und Summen des Doktors auch war.

Er gewöhnte sich daran, auf einem Schemel sitzend, ihm zu lauschen, wie er dort auf und ab ging, meist geschlossenen Auges, denn die Füße kannten den schmalen, kurzen Zellenweg.

Quangel sah dem Mann ins Gesicht, diesem feinen Herrn, mit dem er draußen in der Welt nicht ein Wort zu reden gewußt hätte, und manchmal kamen ihm Zweifel, ob er denn sein eigenes Leben wohl auf die richtige Art geführt hatte, getrennt von allen andern, ein Leben selbstgewollter Vereinzelung.

Der Dr. Reichhardt sagte auch manchmal: »Wir leben nicht für uns, sondern für die andern. Was wir aus uns machen, machen wir nicht nur für uns aus uns, sondern nur für die andern ...«

Ja, es war kein Zweifel: über die Fünfzig hinaus, gewiß eines nahen Todes, wandelte sich Quangel noch. Er sah es nicht gerne, er wehrte sich dagegen, und doch merkte er immer stärker, daß er sich wandelte, nicht nur durch die Musik, sondern vor allem durch das Beispiel des summenden Mannes. Er, der seiner Anna so oft den Mund verboten hatte, der Stille um sich für den erstrebenswerten Zustand hielt, er ertappte sich dabei, daß er sich danach sehnte, der Dr. Reichhardt möge doch endlich einmal das Buch aus der Hand legen und wieder ein Wort zu ihm sprechen.

Meist geschah es dann nach seinem Sehnen.

Plötzlich sah der Doktor vom Lesen hoch und fragte lächelnd: »Nun, Quangel?«

»Nichts, Herr Doktor.«

»Sie sollten nicht soviel sitzen und grübeln. Wollen Sie es nicht doch einmal mit dem Lesen versuchen?«

»Nein, dafür ist es zu spät für mich.«

»Vielleicht haben Sie recht. Was haben Sie sonst getrieben nach Ihrer Arbeit? Sie können nicht die ganze Zeit, wenn Sie nicht in der Werkstatt waren, tatenlos zu Hause gesessen haben, ein Mann wie sie!«

»Da habe ich meine Karten geschrieben.«

»Und früher, als noch kein Krieg war?«

Quangel mußte erst richtig überlegen, was er früher getan hatte. »Ja, ganz früher habe ich gerne geschnitzt.«

Und der Doktor sagte nachdenklich: »Tja, das werden sie uns freilich nicht erlauben: Messer. Wir dürfen den Henker doch nicht um seine Gebühren bringen, Quangel!«

Und Quangel zögernd: »Wie ist das, Doktor. Sie spielen Schach immer mit sich allein? Man kann das doch auch zu mehreren spielen?«

»Ja, zu zweien. Hätten Sie Lust, es zu lernen?«

»Ich glaube, ich bin zu dumm dafür.«

»Unsinn! Wir wollen es gleich einmal versuchen.«

Und der Dr. Reichhardt klappte sein Buch zu.

So lernte Quangel noch das Schachspiel. Er lernte es zu seiner Überraschung sehr schnell und ohne alle Schwierigkeiten. Und er erfuhr wieder einmal, daß etwas, was er früher gedacht hatte, grundfalsch war. Er hatte es ein bißchen albern und kindisch gefunden, wenn er in einem Kaffeehaus gesehen hatte, wie zwei Männer Holzstückchen zwischen sich hin und her schoben, er hatte es Zeit totschlagen genannt, etwas für Kinder.

Nun erfuhr er, daß dieses Hin- und Herschieben von Hölzchen auch etwas wie Glück geben konnte, eine Klarheit im Kopf, die tiefe ehrliche Freude über einen schönen Zug, die Entdeckung, daß es sehr wenig darauf ankam, ob man gewann oder verlor, daß vielmehr die Freude an einer schön gespielten verlorenen Partie weit größer war als die über ein Spiel, das er durch einen Fehler des Doktors gewonnen hatte.

Wenn jetzt der Dr. Reichhardt las, saß Quangel ihm gegenüber, das Schachbrett mit den schwarzen und weißen Figuren vor sich, daneben den Reclamband: »Dufresne, Lehrbuch des Schachspiels«, und er übte sich in Eröffnungen und Endspielen. Später ging er zum Nachspielen ganzer Meisterpartien über, sein klarer, nüchterner Kopf behielt mühelos zwanzig, dreißig Züge, und schnell kam der Tag, da er der überlegene Spieler war.

»Schach und matt, Herr Doktor!«

»Da haben Sie mich also wieder drangekriegt, Quangel!« sagte der Doktor und neigte seinen König grüßend vor dem Gegner. »Sie haben das Zeug zu einem sehr guten Spieler in sich.«

»Ich denke jetzt manchmal, Herr Doktor, zu was allem ich wohl das Zeug in mir habe, von dem ich früher nichts wußte. Erst seit ich Sie kenne, erst seitdem ich zum Sterben in diesen Zementkasten gekommen bin, erfahre ich, wieviel ich in meinem Leben doch verpaßt habe.«

»Das wird jedem so gehen. Jeder der sterben muß, und vor allem jeder, der wie wir vor seiner Zeit sterben muß, wird sich über jede vertrödelte Stunde seines Lebens grämen.«

»Aber bei mir ist es doch noch ganz anders, Herr Doktor. Ich hab immer gedacht, es ist genug, wenn ich mein Handwerk ordentlich tue und nichts verlumpe. Und nun erfahre ich, ich hätte noch 'ne ganze Menge andere Dinge tun können: Schach spielen, nett zu den Menschen sein, Musik hören, ins Theater gehen. Wirklich, Herr Doktor, wenn ich vor meinem Sterben noch einen Wunsch äußern dürfte, ich möchte Sie mal mit Ihrem Stöckchen in so einem Symphoniekonzert sehen, wie Sie's nennen. Ich bin neugierig, wie das aussieht, und wie es auf mich wirken würde.«

»Keiner kann nach allen Richtungen leben, Quangel. Das Leben ist so reich. Sie würden sich zersplittert haben. Sie haben Ihre Arbeit getan und sich immer als ganzer Mann gefühlt. Als Sie noch draußen waren, hat Ihnen nichts gefehlt, Quangel. Sie haben Ihre Postkarten geschrieben ...«

»Aber sie haben doch nichts genützt, Herr Doktor! Ich habe gedacht, es haut mich hin, wie der Kommissar Escherich mir beweist, daß von 285 Karten, die ich geschrieben, 267 in seine Hände geraten sind! Nur achtzehn nicht erwischt! Und diese achtzehn haben auch nicht gewirkt!«

»Wer weiß? Und Sie haben doch wenigstens dem Schlechten widerstanden. Sie sind nicht mit schlecht geworden. Sie und ich und die vielen hier in diesem Hause und viele, viele in andern festen Häusern und die Zehntausende in den KZs – sie widerstehen alle noch, heute, morgen ...«

»Ja, und dann wird uns das Leben genommen, und was hat dann unser Widerstand genützt?«

»Uns – viel, weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können. Und mehr noch dem Volke, das errettet werden wird um der Gerechten willen, wie es in der Bibel heißt. Sehen Sie, Quangel, es wäre natürlich hundertmal besser gewesen, wir hätten einen Mann gehabt, der uns gesagt hätte: So und so müßt ihr handeln, das und das ist unser Plan. Aber wenn ein solcher Mann in Deutschland gewesen wäre, dann wäre es nie zu 1933 gekommen. So haben wir alle einzeln handeln müssen, und einzeln sind wir gefangen, und jeder wird für sich allein sterben müssen. Aber darum sind wir doch nicht allein, Quangel, darum sterben wir doch nicht umsonst. Umsonst geschieht nichts in dieser Welt, und da wir gegen die rohe Gewalt für das Recht kämpfen, werden wir am Schluß doch die Sieger sein.«

»Und was werden wir davon haben, da unten in unsern Gräbern?«

»Aber Quangel! Möchten Sie denn lieber für eine ungerechte Sache leben, als für eine gerechte sterben? Es gibt doch gar keine Wahl, weder für Sie noch für mich. Weil wir sind, die wir sind, mußten wir diesen Weg gehen.«

Lange schwiegen sie.

Dann fing Quangel wieder an: »Dieses Schachspiel ...«

»Ja, Quangel, was ist damit?«

»Ich denke manchmal, ich tue unrecht damit. Viele Stunden habe ich nur das Schach im Kopf, und ich habe doch noch eine Frau ...«

»Sie denken genug an Ihre Frau. Sie wollen stark und mutig bleiben; alles, was Sie stark und mutig erhält, ist gut, und was Sie schwach und zweiflerisch macht wie Grübeln, ist schlecht. Was nützt Ihrer Frau das Grübeln? Ihr nützt, wenn der Pastor Lorenz ihr wieder einmal sagen kann, daß Sie stark und mutig sind.«

»Aber er kann, seit sie diese Zellengenossin hat, nicht mehr offen mit ihr sprechen. Der Pastor hält das Weib auch für eine Spionin.«

»Der Pastor wird es Ihrer Frau schon begreiflich machen, daß es Ihnen gut geht und daß Sie sich stark fühlen. Dafür genügt schließlich ein Kopfnicken, ein Blick. Der Pastor Lorenz kennt sich aus.«

»Ich möchte ihm gern einmal einen Brief an Anna mitgeben«, sagte Quangel nachdenklich.

»Tun Sie das lieber nicht. Er würde es nicht abschlagen, aber Sie würden sein Leben in Gefahr bringen. Sie wissen ja, ihm wird ständig mißtraut. Es wäre schlimm, wenn auch unser guter Freund in eine solche Zelle käme. Er wagt ja schon so eigentlich jeden Tag sein Leben.«

»Ich werde also keinen Brief schreiben«, sagte Otto Quangel.

Und er tat es auch nicht, obwohl ihm der Pastor am nächsten Tag eine schlimme Nachricht brachte, eine sehr schlimme Nachricht, ganz besonders auch für Anna Quangel. Der Werkmeister bat ihn nur, diese sehr schlimme Nachricht jetzt noch nicht seiner Frau zu bringen.

»Jetzt noch nicht, bitte nicht, Herr Pastor!«

Und der Pastor versprach das auch.

»Nein, noch nicht; Sie werden es mir sagen, wenn es soweit ist, Herr Quangel.«


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