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Dem Kommissar Escherich wie seinen beiden Spionen vom Alex wäre es wohl recht seltsam zu vernehmen gewesen, daß der kleine Enno Kluge gar nichts davon geahnt hatte, daß er beschattet wurde. Sondern von dem Augenblick an, als ihn Assistent Schröder endgültig in die Freiheit entließ, hatte er nur den einen Gedanken: Bloß fort von hier und zur Hete!
Er lief durch die Straßen und sah keine Menschen, er ahnte nicht, wer hinter und wer neben ihm war. Er sah nicht hoch, er dachte bloß: Hin zu Hete!
Der Schacht der U-Bahn verschluckte ihn. Er stieg in einen Zug und entrann so für dieses Mal dem Kommissar Escherich, den Herren vom Alex und der ganzen Gestapo.
Enno Kluge hatte sich entschlossen: Er fuhr erst noch einmal zur Lotte und holte seine Sachen. Er wollte gleich mit seinem Koffer bei der Hete anrücken, da sah er denn, ob sie ihn wirklich liebte, und er bewies ihr, daß er mit seinem alten Leben Schluß machen wollte.
So kam es, daß ihn seine Beschatter im Gedränge und schlechten Licht der U-Bahn aus dem Auge verloren. Er war ja wirklich nur ein Schatten, dieser schmächtige Enno! Wäre er aber gleich zu der Hete gegangen – und zum Königstor konnte er ja vom Alex aus gut zu Fuß gehen, da brauchte er keine U-Bahn –, so hätten sie ihn nicht verloren und hätten in der kleinen Tierhandlung immer wieder einen Ausgangspunkt für ihre Beobachtungen gehabt.
Mit der Lotte hatte er Glück. Sie war nicht zu Hause, und eilig packte er seine paar Sachen in den Handkoffer. Er widerstand sogar der Versuchung, ihre Sachen zu durchstöbern, ob er etwa einiges zum Mitnehmen Brauchbares fände – nein, diesmal sollte es anders werden. Nie wieder wie damals sollte es kommen, als er in das enge Zimmer des kleinen Hotels einzog, nein, diesmal wollte er wirklich ein anderes Leben führen – wenn die Hete ihn aufnahm.
Immer langsamer ging er, je näher er dem Laden kam. Immer häufiger setzte er den Koffer ab, und so schwer war der gar nicht. Immer öfter wischte er den Schweiß von der Stirn, und so heiß war es auch nicht.
Dann stand er vor dem Laden und spähte durch die blanken Gitterstäbe der Vogelkäfige hinein: ja, Hete war an der Arbeit. Sie bediente grade; vier, fünf Kunden standen im Laden. Er stellte sich zu ihnen und sah stolz und doch zitternden Herzens zu, wie geschickt sie die Kunden abfertigte, wie höflich sie mit ihnen sprach.
»Indische Hirse gibt es nicht mehr, meine Dame. Das müßten Sie doch wissen, wo Indien zum Empire gehört. Aber bulgarische Hirse habe ich noch, die ist viel besser.«
Und sagte mitten aus der Bedienung heraus: »Ach, Herr Enno, das ist nett, daß Sie mir ein bißchen helfen wollen. Den Koffer setzen Sie am besten in die Stube. Und dann holen Sie mir bitte gleich Vogelsand aus dem Keller. Katzensand brauche ich auch. Und dann Ameiseneier ...«
Und während er mit diesen und anderen Aufträgen vollauf beschäftigt war, dachte er: Sie hat mich gleich gesehen, und sie hat auch sofort gesehen, daß ich einen Koffer mit habe. Daß ich ihn in die Stube setzen durfte, ist ein gutes Zeichen. Aber sicher wird sie mich erst ausfragen, sie nimmt alles so schrecklich genau. Aber ich werde ihr schon irgendeine Geschichte erzählen.
Und dieser Mann um die Fünfzig, dieser alt gewordene Herumtreiber, Nichtstuer und Weiberheld betete wie ein Schulkind: Ach, lieber Gott, laß mich doch noch einmal Glück haben, nur dieses einzige Mal noch! Ich will auch ganz bestimmt ein anderes Leben anfangen, nur mach, daß mich die Hete aufnimmt!
So betete, bettelte er. Und dabei wünschte er doch, daß es noch recht lange hin bis zum Ladenschluß sein möchte, bis zu dieser ausführlichen Aussprache und seinem Geständnis, denn irgend etwas gestehen mußte er der Hete, das war klar. Wie sollte er ihr sonst begreiflich machen, warum er hier mit Sack und Pack angerückt kam, und mit einem so dürftigen Sack und Pack dazu! Er hatte doch vor ihr immer den großen Mann gespielt.
Und dann war es plötzlich soweit. Schon längst war die Ladentür geschlossen, anderthalb Stunden hatte es dann noch gekostet, all seine Bewohner mit frischem Wasser und Futter zu versehen und den Laden aufzuräumen. Nun saßen die beiden einander gegenüber an dem runden Sofatisch, hatten gegessen, ein wenig geplaudert, immer ängstlich das Hauptthema vermeidend, und plötzlich hatte diese zerfließende, verblühte Frau den Kopf erhoben und gefragt: »Nun, Hänschen? Was ist es? Was ist dir geschehen?«
Kaum hatte sie diese Worte in einem ganz mütterlich besorgten Ton gesprochen, da fingen bei Enno die Tränen an zu fließen; erst langsam, dann immer reichlicher strömten sie über sein mageres, farbloses Gesicht, dessen Nase dabei stets spitzer zu werden schien.
Er stöhnte: »Ach, Hete, ich kann nicht mehr! Es ist zu schlimm! Die Gestapo hat mich vorgehabt ...«
Und er verbarg, laut aufschluchzend, den Kopf an ihrem großen, mütterlichen Busen.
Bei diesen Worten richtete Frau Hete Häberle den Kopf auf, in ihre Augen kam ein harter Glanz, ihr Nacken steifte sich, und sie fragte fast hastig: »Was haben sie denn von dir gewollt?«
Der kleine Enno Kluge hatte es – in nachtwandlerischer Sicherheit – mit seinen Worten so gut, wie es nur möglich war, getroffen. Mit all seinen andern Geschichten, mit denen er sich an ihr Mitleid oder an ihre Liebe hätte wenden können, wäre es ihm nicht so gut ergangen wie mit diesem Wort Gestapo. Denn Witwe Hete Häberle haßte Unordnung, und nie hätte sie einen liederlichen Herumtreiber und Zeittotschläger in ihr Haus und in ihre mütterlichen Arme genommen. Aber das eine Wort Gestapo öffnete ihm alle Pforten ihres mütterlichen Herzens, ein von der Gestapo Verfolgter war von vornherein ihres Mitleids und ihrer Hilfe sicher.
Denn ihren ersten Mann, einen kleinen kommunistischen Funktionär, hatte die Gestapo schon im Jahre 1934 in ein KZ abgeholt, und nie wieder hatte sie von ihrem Mann etwas gesehen und gehört, außer einem Paket, das ein paar zerrissene und verschmutzte Sachen von ihm enthielt. Obenauf hatte der Totenschein gelegen, ausgestellt vom Standesamt II, Oranienburg, Todesursache: Lungenentzündung. Aber sie hatte später von andern Häftlingen, die entlassen worden waren, gehört, was sie in Oranienburg und in dem nahegelegenen KZ Sachsenhausen unter Lungenentzündung verstanden.
Und nun hatte sie wieder einen Mann in ihren Armen, einen Mann, für den sie bisher seines schüchternen, anschmiegenden, liebebedürftigen Wesens halber schon Sympathie empfunden, und wieder war er von der Gestapo verfolgt.
»Ruhig, Hänschen!« sagte sie tröstend. »Erzähle mir nur alles. Wenn einer von der Gestapo verfolgt wird, der kann von mir alles haben!«
Diese Worte waren Balsam in seinen Ohren, und er hätte ja nicht der mit Frauen erfahrene Enno Kluge sein müssen, wenn er nicht seine Gelegenheit benutzt hätte. Was er da unter vielem Schluchzen und Tränen vorbrachte, war nun freilich ein sonderliches Gemisch von Wahrheit und Lüge: er brachte es doch sogar fertig, die Mißhandlungen durch den SS-Mann Persicke seine neuesten Abenteuer einzuschmuggeln.
Aber was diese Erzählung an Unwahrscheinlichem haben mochte, das verdeckte für Hete Häberle der Haß auf die Gestapo. Und schon begann ihre Liebe einen strahlenden Glanz um den Nichtsnutz an ihrer Brust zu weben, sie sagte: »Du hast also das Protokoll unterschrieben und dadurch den Täter gedeckt, Hänschen. Das war sehr mutig von dir, ich bewundere dich. Von zehn Männern hätte das kaum einer gewagt. Aber, das weißt du doch, wenn sie dich kriegen, so bekommst du es schlimm, denn daß sie dich mit diesem Protokoll für immer in der Falle haben, ist doch ganz klar.«
Er sagte, schon halb getröstet: »Oh, wenn du nur zu mir hältst, werden die mich nie kriegen!«
Aber sie schüttelte leise und bedenklich den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum sie dich überhaupt wieder losgelassen haben.« Plötzlich fiel es ihr schrecklich ein: »O Gott, wenn sie dir nachspioniert haben, wenn sie nur wissen wollten, wohin du gehst?«
Er schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht, Hete. Ich war erst bei – ich war erst auf einer anderen Stelle, um meine Sachen zu holen. Ich hätte es merken müssen, wenn jemand hinter mir her war. Und warum? Da hätten sie mich doch gar nicht erst loszulassen brauchen.«
Aber sie hatte es schon überlegt: »Sie glauben, du kennst den Kartenschreiber und bringst sie auf die Spur. Und vielleicht kennst du ihn wirklich und hast die Karte doch selbst dorthin gelegt. Aber ich will es gar nicht wissen, das sollst du mir nie sagen!« Sie bückte sich zu ihm und flüsterte: »Ich gehe jetzt eine halbe Stunde weg, Hänschen, und beobachte das Haus, ob vielleicht doch irgendwo ein Spitzel herumsteht. Nicht wahr, du wirst hier ganz still im Zimmer bleiben?«
Er sagte ihr, daß dieses Nachsehen ganz unnütz sei, niemand sei ihm gefolgt, bestimmt nicht.
Aber ihr stand es in zu schreckvoller Erinnerung, wie sie ihr schon einmal den Mann aus der Wohnung und damit aus dem Leben holten. Ihre Unruhe litt es nicht, sie mußte auf und hinaus, um nachzusehen.
Und während sie langsam um den Block geht – sie hat den Blacky aus dem Laden an einer Leine mitgenommen, einen reizenden Scotch, und durch ihn sieht dieser Abendweg doch ganz unverfänglich aus –, während sie also um seiner Sicherheit willen langsam auf und ab schlendert, anscheinend nur mit dem Hund beschäftigt, aber die wachsamen Augen und Ohren überallhin gerichtet – unterdes nimmt Enno mit vorsichtigen Händen ein rasches erstes Inventar ihrer Stube auf. Es kann nicht mehr als nur ganz flüchtig sein, außerdem hat sie die meisten Möbelstücke verschlossen. Aber schon diese erste Durchsicht verrät ihm, daß er in seinem ganzen Leben so eine Frau noch nicht gehabt hat, eine Frau mit Bankkonto und sogar einem Postscheckkonto, wo ihr Name ganz richtig gedruckt auf allen Formularen steht!
Und Enno Kluge beschließt wiederum bei sich, wirklich ein ganz anderes Leben anzufangen, sich in dieser Wohnung stets korrekt zu benehmen und nicht zu beschlagnahmen, was sie ihm nicht freiwillig gibt.
Sie kommt zurück und sagt: »Nein, ich kann nichts Auffälliges sehen. Aber vielleicht haben sie dich doch hier hereingehen sehen und kommen morgen früh zurück. Ich gehe morgen gleich noch mal, ich werde den Wecker auf sechs stellen.«
»Ist nicht nötig, Hete«, sagt er wieder. »Mir ist bestimmt keiner gefolgt.«
Dann macht sie ihm ein Lager auf dem Sofa und legt sich selbst ins Bett. Aber sie läßt die Tür zwischen den beiden Zimmern offen und horcht darauf, wie er sich hin und her wirft, wie er stöhnt, und wie unruhig er schläft, als er endlich wirklich eingeschlafen ist. Dann, sie ist eben grade selbst ein wenig eingedämmert, dann wacht sie wieder davon auf, daß sie ihn weinen hört. Wieder weint er, ob nun im Wachen oder im Schlaf. Frau Hete sieht im Dunkeln sein Gesicht deutlich vor sich, dieses Gesicht, das trotz seiner fünfzig Jahre immer noch etwas Kindliches hat – vielleicht durch das schwache Kinn und den vollippigen, sehr roten Mund.
Eine Weile hört sie still auf dieses Weinen, das durch die Nacht klagelos immer weitergeht, als traure die Nacht selbst über all den Kummer, den es jetzt auf der Welt gibt.
Dann entschließt sich Frau Häberle, sie steht auf und tastet sich im Dunkeln an sein Sofa.
»Weine doch nicht so, Hänschen! Du bist ja in Sicherheit, du bist bei mir. Deine Hete hilft dir ...«
So spricht sie ihm tröstend zu, und als das Weinen trotzdem nicht aufhört, beugt sie sich über ihn, sie schiebt ihren Arm unter seine Schultern, sie führt den Weinenden zu ihrem Bett, und dort nimmt sie ihn in ihre Arme, an ihre Brust ...
Eine alternde Frau, ein ältlicher Mann, liebebedürftig wie ein Kind, ein bißchen Trost, ein bißchen Leidenschaft, ein klein wenig Glorienschein um das Haupt des Geliebten – und nicht einmal fällt es Frau Hete ein, sich darüber klarzuwerden, wie dieses haltlose, weinerliche Wesen denn zu einem Kämpfer und Helden paßt.
»Nun ist alles gut, nicht wahr, Hänschen?«
Aber nein, diese eine Frage läßt den eben erst versiegten Tränenstrom von neuem fließen, es schüttelt ihn in ihren Armen.
»Aber was ist denn, Hänschen? Hast du noch Sorgen, von denen du mir noch nichts gesagt hast?«
Und dies ist nun der Augenblick, auf den dieser alte Frauenjäger seit Stunden hingearbeitet hat, denn er hat bei sich entschieden, daß es doch zu gefährlich und für die Dauer auch unmöglich sei, sie ganz im unklaren über seinen wirklichen Namen und seine Ehe zu lassen. Er ist nun einmal im Gestehen, nun gut, wird er auch dieses noch gestehen, sie wird es schon hinnehmen, ihn darum nicht weniger lieben. Gerade jetzt, da sie ihn eben erst in ihre Arme genommen hat, wird sie ihn schon nicht wieder auf die Straße setzen!
Sie hat das Hänschen gefragt, ob es denn noch Sorgen gebe, von denen er ihr nichts gesagt hat. Nun gesteht er, weinend, verzweifelt, daß er gar nicht Hans Enno heißt, sondern Enno Kluge, und daß er ein verheirateter Mann ist, mit zwei großen Jungen. Ja, er ist ein Lump, er hat sie belügen und betrügen wollen, aber er bringt es nun doch nicht übers Herz, wo sie so gut zu ihm gewesen ist.
Wie stets ist sein Geständnis nur ein Teilgeständnis, ein wenig Wahrheit mit viel Lüge untermischt. Er zeichnet das Bild seiner Frau, dieser harten, bösen Nazistin auf dem Postamt, die den Mann nicht bei sich dulden will, weil er nicht in die Partei eintreten mag. Diese Frau, die seinen ältesten Sohn gezwungen hat, in die SS einzutreten – und er berichtet von den Greueltaten Karlemanns. Er entwirft ein Bild dieser ungleichen, schlechten Ehe, der stille, geduldige, alles ertragende Mann und die böse, ehrgeizige, nazistische Frau. Sie können ja nicht zusammen leben, sie müssen einander ja hassen. Und nun hat sie ihn aus der Wohnung hinausgetrieben! So hat er seine Hete belogen, aus Feigheit, weil er sie zu sehr liebt, weil er ihr keinen Schmerz bereiten wollte!
Aber jetzt hat er sich freigesprochen. Nein, jetzt weint er nicht mehr. Er wird aufstehen und seine Sachen packen und von ihr gehen – in die schlimme Welt hinaus. Er wird sich schon irgendwo vor der Gestapo verbergen, und wenn die ihn doch erwischen, so macht das auch nicht viel aus. Jetzt, wo er Hetes Liebe, die einzige Frau, die er wirklich im Leben geliebt hat, verlor!
Ja, er ist ein recht gerissener alter Frauenverführer, dieser Enno Kluge. Er weiß schon, wie man es anpacken muß bei diesen Weibern: Lieben und Lügen, das geht alles in einem hin. Es muß nur ein bißchen Wahres dazwischen sein, sie muß nur ein bißchen von dem Zeug glauben können, das man erzählt, und vor allem muß man stets die Tränen bereit halten und die Hilflosigkeit ...
Frau Hete hat diesmal mit einem wahren Schrecken sein Geständnis gehört. Warum hat er sie nur so angelogen? Als sie sich kennenlernten, lag doch noch gar kein Grund für solche Lügen vor! Hatte er denn damals schon Absichten auf sie gehabt? Dann können es nur schlimme Absichten gewesen sein, wenn sie zu solchen Lügen Anlaß wurden.
Ihr Instinkt sagt ihr, daß sie ihn wegschicken muß, daß ein Mann, der fähig ist, eine Frau vom ersten Anfang an so bedenkenlos zu täuschen, auch stets bereit sein wird, sie später zu belügen. Und mit einem Lügner kann sie nicht zusammen leben. Sie hat immer ein sauberes Leben gelebt mit ihrem ersten Mann, und diese paar kleinen Geschichten, die es seit seinem Tode gab, über so etwas lächelt eine erfahrene Frau nur.
Nein, aus ihren Armen noch würde sie ihn gehen lassen – wenn sie ihn nicht grade dem Feind in die Arme jagte, der verhaßten Gestapo. Denn sie ist fest überzeugt, daß sie das tut, wenn sie ihn jetzt gehen heißt. Diese ganze Verfolgung durch die Gestapo, die nimmt sie seit seiner Erzählung am Abend für bare Münze. Sie kommt nicht einmal auf den Gedanken, an ihrer Wahrheit zu zweifeln, obwohl sie ihn doch eben erst als Lügner kennengelernt hat.
Und dann ist da diese Frau ... Es ist nicht möglich, daß alles, was er über diese Frau gesagt hat, unwahr ist. So etwas denkt sich kein Mensch aus, da muß etwas Wahres daran sein. Sie glaubt den Mann doch zu kennen an ihrer Seite, ein schwaches Geschöpf, ein Kind, gutartig eigentlich: mit ein paar freundlichen Worten ist er zu leiten. Aber diese Frau, hart, ehrgeizig, diese Nazistin, die durch die Partei hochkommen will, für die war natürlich ein solcher Mann nichts, ein Mann, der die Partei haßte, vielleicht insgeheim gegen sie arbeitete, ein Mann, der sich weigerte, in die Partei einzutreten!
Konnte sie ihn zurückjagen zu solcher Frau? Der Gestapo in die Arme?
Sie konnte es nicht, und so durfte sie es auch nicht.
Das Licht geht an. Da steht er schon neben ihrem Bett, in einem viel zu kurzen blauen Hemdchen, stille Tränen rinnen jetzt über sein blasses Gesicht. Er beugt sich über sie, er flüstert: »Adieu, Hete! Du bist sehr gut zu mir gewesen, aber ich verdiene es nicht, ich bin ein schlechter Mensch. Adieu! Ich gehe jetzt ...«
Sie hält ihn fest. Sie flüstert: »Nein, du bleibst bei mir. Ich habe es dir versprochen, und ich halte mein Versprechen. Nein, sag nichts. Geh jetzt bitte auf das Sofa und versuche, noch ein bißchen zu schlafen. Ich will überlegen, wie alles am besten einzurichten ist.«
Er schüttelt langsam und traurig den Kopf. »Hete, du bist zu gut für mich. Ich will alles tun, was du sagst, aber wirklich, Hete, es ist besser, du läßt mich gehen.«
Aber natürlich geht er nicht. Natürlich läßt er sich überreden, zu bleiben. Sie wird alles überlegen, alles ordnen. Und natürlich erreicht er auch, daß die Verbannung zum Sofa wieder aufgehoben wird, daß er zurück zu ihr ins Bett darf. Ganz von ihrer mütterlichen Wärme umschlossen, schläft er bald ein, dieses Mal ohne weiteres Weinen.
Sie aber liegt noch lange wach. Eigentlich liegt sie die ganze Nacht wach. Sie hört auf sein Atmen, es ist schön, wieder einen Mann bei sich atmen zu hören, ihn so nahe im Bett zu haben. Sie war so lange sehr allein. Nun hat sie wieder jemand, für den sie sorgen kann. Ihr Leben ist nicht mehr ohne allen Inhalt. O ja, er wird ihr vielleicht mehr Sorgen machen als gut ist. Aber solche Sorgen, Sorgen um einen Menschen, den man liebhat, das sind gute Sorgen.
Frau Hete beschließt, stark für zwei zu sein. Frau Hete beschließt, ihn vor allen von der Gestapo drohenden Gefahren zu behüten. Frau Hete beschließt, ihn zu erziehen und aus ihm einen wahrhaftigen Menschen zu machen. Frau Hete beschließt, das Hänschen, ach nein, nun heißt er ja Enno, Frau Hete beschließt, den Enno von dieser andern Frau, der Nazistin, freizukämpfen. Frau Hete beschließt, in dieses Leben da, das nun bei ihr liegt, Ordnung und Sauberkeit zu bringen.
Und Frau Hete hat keine Ahnung, daß dieser schwache Mann an ihrer Seite stark genug sein wird, Unordnung, Leid, Selbstvorwürfe, Tränen, Gefahr in ihr Leben zu bringen. Frau Hete hat keine Ahnung, daß all ihre Stärke zu nichts wurde im gleichen Augenblick, als sie beschloß, diesen Enno Kluge bei sich zu behalten und ihn gegen die ganze Welt zu verteidigen. Frau Hete hat keine Ahnung, daß sie sich selbst mit dem ganzen kleinen Reich, das sie sich aufbaute, in höchste Gefahr gebracht hat.