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67.
Die Gnadengesuche

Otto Quangel hatte erst seit einigen Tagen in der Dunkelzelle gelegen – gemäß Beschluß des Volksgerichtshofs –, er fror jämmerlich in dem kleinen Käfig aus Eisenstangen, der am ehesten einem sehr engen Affenkäfig im Zoo glich, da tat sich die Tür auf, Licht ging an, und sein Anwalt, Dr. Stark, stand in der Tür des Raumes, in dem der Gitterkäfig aufgebaut war, und sah seinen Mandanten an.

Quangel stand langsam auf und schaute zurück.

Da war dieser geschniegelte und gebügelte Herr also noch einmal zu ihm gekommen, mit seinen rosigen Fingernägeln und der nachlässigen, schleppenden Art zu reden. Wahrscheinlich, um sich den Verbrecher in seiner Qual anzusehen.

Aber auch da schon hatte Quangel die Zyankaliampulle in seinem Munde getragen, diesen Talisman, der ihn Kälte und Hunger ertragen ließ, und so hatte er ruhig, ja, mit einer heiteren Überlegenheit auf den »feinen Herrn« geblickt, er, in seiner Zerlumptheit, vor Frost zitternd, der Magen brennend vor Hunger.

»Nun?« hatte Quangel schließlich gefragt.

»Ich bringe Ihnen das Urteil«, sagte der Anwalt und zog ein Papier aus der Tasche.

Aber Quangel nahm es nicht. »Es interessiert mich nicht«, sagte er. »Ich weiß ja doch, daß es auf Todesstrafe lautet. Auch meine Frau?«

»Auch Ihre Frau. Und es gibt keine Berufung dagegen.«

»Gut«, antwortete er.

»Aber Sie können ein Gnadengesuch machen«, sagte der Anwalt.

»An den Führer?«

»Ja, an den Führer.«

»Nein, danke.«

»Sie wollen also sterben?«

Quangel lächelte.

»Sie haben keine Angst?«

Quangel lächelte.

Der Anwalt sah zum erstenmal mit einer Spur von Interesse in das Gesicht seines Mandanten, er sagte: »So werde ich für Sie ein Gnadengesuch einreichen.«

»Nachdem Sie meine Verurteilung gefordert haben!«

»Es ist so üblich, bei jedem Todesurteil wird ein Gnadengesuch eingereicht. Es gehört zu meinen Pflichten.«

»Zu Ihren Pflichten. Ich verstehe. Wie Ihre Verteidigung. Nun, ich nehme an, Ihr Gnadengesuch wird wenig Wirkung haben, lassen Sie es lieber.«

»Ich werde es trotzdem einreichen, auch gegen Ihren Willen.«

»Ich kann Sie nicht hindern.«

Quangel setzte sich wieder auf die Pritsche. Er wartete, daß der andere jetzt mit diesem blöden Gewäsch aufhörte, daß er ginge.

Aber der Anwalt ging nicht, sondern er fragte nach einer langen Pause: »Sagen Sie, warum haben Sie das eigentlich getan?«

»Was getan?« fragte Quangel gleichgültig, ohne den Gebügelten anzusehen.

»Diese Postkarten geschrieben. Sie haben doch nichts genützt und kosten Ihnen nun das Leben.«

»Weil ich ein dummer Mensch bin. Weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Weil ich mit einer andern Wirkung rechnete. Darum!«

»Und Sie bedauern es nicht? Es tut Ihnen nicht leid, wegen solch einer Dummheit das Leben zu verlieren?«

Ein scharfer Blick traf den Anwalt, der alte, stolze, harte Vogelblick. »Aber ich bin wenigstens anständig geblieben«, sagte er. »Ich habe nicht mitgemacht.«

Der Anwalt sah lange auf den schweigend Dasitzenden. Dann sagte er: »Ich glaube jetzt doch, mein Kollege, der Ihre Frau verteidigte, hat recht gehabt: Sie beide sind wahnsinnig.«

»Nennen Sie es wahnsinnig, daß man jeden Preis dafür bezahlt, anständig zu bleiben?«

»Sie hätten das auch ohne Karten bleiben können.«

»Das wäre schweigende Zustimmung gewesen. Was haben Sie dafür bezahlt, daß Sie so ein feiner Herr geworden sind mit so schön gebügelten Hosen, mit lackierten Fingernägeln und mit verlogenen Verteidigungsreden? Was haben Sie dafür bezahlt?«

Der Anwalt schwieg.

»Da haben Sie es!« sagte Quangel. »Und Sie werden immer mehr dafür bezahlen, und vielleicht werden Sie eines Tages auch den Kopf dafür lassen müssen, genau wie ich, aber dann lassen Sie ihn für Ihre Unanständigkeit!«

Noch immer schwieg der Anwalt.

Quangel stand auf.

»Sehen Sie«, lachte er. »Sie wissen gut, daß der hinter den Gitterstäben anständig ist und Sie davor der Lump, daß der Verbrecher frei ist, aber der Anständige zum Tode verurteilt. Sie sind kein Rechtsanwalt, nicht ohne Grund habe ich Sie Linksanwalt genannt. Und Sie wollen ein Gnadengesuch für mich machen – ach, gehen Sie doch!«

»Und ich werde doch ein Gnadengesuch für Sie einreichen«, sagte der Anwalt.

Quangel antwortete nicht.

»Also auf Wiedersehen!« sagte der Anwalt.

»Kaum – oder Sie sehen bei meiner Hinrichtung zu. Sie sind herzlich eingeladen!«

Der Anwalt ging.

Er war abgebrüht, verhärtet, er war schlecht. Aber er hatte noch soviel Verstand, sich zuzugestehen, daß der andere der bessere Mann war.

Das Gnadengesuch wurde aufgesetzt, Irrsinn war der Anlaß, der den Führer zur Gnade bestimmen sollte, aber der Anwalt wußte gut, daß sein Mandant nicht irrsinnig war.

Auch für Anna Quangel wurde ein Gnadengesuch unmittelbar an den Führer eingereicht, aber dieses Gesuch kam nicht aus der Stadt Berlin, es kam aus einem kleinen, armen märkischen Dorf, und unter dem Gesuch stand: Familie Heffke.

Die Eltern von Anna Quangel hatten einen Brief ihrer Schwiegertochter bekommen, von der Frau ihres Sohnes Ulrich. In dem Brief standen nur schlimme Nachrichten, und sie waren ohne Schonung in kurzen, harten Sätzen niedergeschrieben. Der Sohn Ulrich saß wahnsinnig in Wittenau, und Otto und Anna Quangel waren daran schuld. Die aber waren zum Tode verurteilt worden, weil sie ihr Land und ihren Führer verraten hatten. Das sind eure Kinder eine Schande ist es, Heffke zu heißen!

Ohne ein Wort, ohne zu wagen, sich auch nur anzusehen, saßen die beiden alten Leute in ihrer kleinen, armseligen Stube. Der Brief lag zwischen ihnen, diese Hiobspost. Aber auch den Brief wagten sie nicht anzusehen.

Ihr Lebtag hatten sie sich ducken müssen, kleine Landarbeiter auf einem großen Gut unter harten Verwaltern, sie hatten ein karges Leben gehabt: viel Arbeit, wenig Freude. Die Freude waren die Kinder gewesen, aus den Kindern war etwas Ordentliches geworden. Sie waren mehr geworden als ihre Eltern, sie hatten sich nicht so schinden müssen, Ulrich, der Vorarbeiter in einer optischen Fabrik, und Anna, die Frau eines Tischlermeisters. Daß sie kaum schrieben, sich nicht sehen ließen, das störte die Alten kaum, das war die Art aller Vögel, die flügge geworden sind. Wußten sie doch, es ging den Kindern gut.

Und nun dieser Schlag, dieser erbarmungslose Schlag! Nach einer Weile streckt sich die verarbeitete, dürre Hand des alten Landarbeiters über den Tisch: »Mutter!«

Und plötzlich stürzen bei der Greisin die Tränen: »Ach Vater! Unsere Anna! Unser Ulrich! Nun sollen sie unsern Führer verraten haben! Ich kann es nicht glauben, nie und nie!«

Drei Tage waren sie so verwirrt, daß sie keinen Entschluß fassen konnten. Sie trauten sich nicht aus dem Hause, sie wagten nicht, jemandem ins Auge zu blicken, aus Furcht, die Schande könne schon bekanntgeworden sein.

Dann, am vierten Tag, baten sie eine Hausnachbarin, ihr bißchen Kleinvieh zu versorgen, und machten sich auf den Weg nach der Stadt Berlin. Wie sie da die windgepeitschte Chaussee entlangwanderten, nach ländlicher Gewohnheit der Mann voran, die Frau einen Schritt hinterdrein, glichen sie Kindern, die sich in der weiten Welt verirrt haben, für die alles zur Drohung wird: ein Windstoß, ein herabfallender dürrer Ast, ein vorüberfahrendes Auto, ein rauhes Wort. Sie waren so völlig wehrlos.

Nach zwei Tagen wanderten sie die gleiche Chaussee zurück, noch kleiner, noch gebeugter, noch trostloser.

Sie hatten nichts erreicht in Berlin. Die Schwiegertochter hatte sie nur mit Schmähungen überhäuft. Sie hatten den Sohn Ulrich nicht sehen dürfen, weil keine »Besuchszeit« war. Die Anna und ihr Mann – kein Mensch konnte ihnen genau sagen, in welchem Gefängnis sie lagen. Sie hatten die Kinder nicht gefunden. Und der Führer, von dem sie sich Hilfe und Trost erwarteten, dessen Kanzlei sie wirklich gefunden hatten, der Führer war nicht in Berlin gewesen. Er war im Großen Hauptquartier, damit beschäftigt, Söhne umzubringen, er hatte keine Zeit, Eltern zu helfen, die im Begriff standen, ihre Kinder zu verlieren.

Sie sollten nur ein Gesuch machen, war ihnen gesagt worden.

Sie wagten sich niemandem anzuvertrauen. Sie fürchteten sich vor der Schande. Sie hatten eine Tochter, die den Führer verraten hatte. Sie hätten hier nicht mehr leben können, wenn das bekanntwurde. Und sie mußten doch leben, um die Anna zu retten. Nein, von keinem konnten sie sich bei diesem Gnadengesuch helfen lassen, nicht vom Lehrer, nicht vom Bürgermeister, selbst vom Pastor nicht.

Und mühsam, in stundenlangen Gesprächen, Überlegungen, Schreiben mit zitternder Hand brachten sie ein Gnadengesuch zustande. Es wurde geschrieben und wieder abgeschrieben und noch einmal ins reine geschrieben und fing so an:

»Mein inniggeliebter Führer!

Eine verzweifelte Mutter bittet Dich auf den Knien um das Leben ihrer Tochter. Sie hat sich schwer an Dir vergangen, aber Du bist so groß, Du wirst Deine Gnade an ihr walten lassen. Du wirst ihr verzeihen ...«

Hitler, der zum Gott geworden ist, Herr des Weltalls, allmächtig, allgütig, allverzeihend! Zwei alte Menschen – draußen rast der Krieg und mordet Millionen, sie glauben an ihn, noch da er ihre Tochter dem Henker überantwortet, glauben sie an ihn, kein Zweifel schleicht in ihr Herz, eher ist ihre Tochter schlecht als Gott der Führer!

Sie wagen nicht, den Brief im Dorf abzusenden, gemeinsam wandern sie zur Kreisstadt, um ihn dort zur Post zu geben. Als Adresse steht auf ihm: »An die eigene Person unseres inniggeliebten Führers ...«

Dann kehren sie heim in ihre Stube und warten gläubig, daß ihr Gott gnädig ist ...

Er wird gnädig sein!

Die Post nimmt das verlogene Gesuch des Anwalts wie das hilflose von zwei trauernden Eltern und befördert beide, aber sie bringt sie nicht zum Führer. Der Führer will solche Gesuche nicht sehen, sie interessieren ihn nicht. Ihn interessieren Krieg, Zerstörung, Mord, nicht die Abwendung des Mordes. Die Gesuche wandern in die Kanzlei des Führers, sie bekommen eine Nummer, sie werden registriert, und dann wird ein Stempel auf sie gedrückt: An den Herrn Reichsjustizminister weitergeleitet. Zurück nur hierher, falls Verurteilter Parteimitglied ist, was aus dem Gnadengesuch nicht ersichtlich ...

Die zweigeteilte Gnade, die Gnade für Parteigenossen und die Gnade für Volksgenossen.

Auf dem Reichsjustizministerium werden die Gesuche wiederum registriert und beziffert, sie bekommen einen weiteren Stempel: An die Gefängnisverwaltung zur Stellungnahme.

Die Post befördert die Gesuche ein drittes Mal, und ein drittes Mal bekommen sie Nummern und werden in ein Buch eingetragen. Eine Schreiberhand setzt auf das Gesuch für Anna wie für Otto Quangel die wenigen Worte: Die Führung war nach der Hausordnung. Anlaß zur Gnadenerteilung liegt hier nicht vor. Zurück an das Reichsjustizministerium.

Wiederum zweigeteilte Gnade: die einen, die sich gegen die Hausordnung vergingen, oder die sie nur befolgten, geben keinen Anlaß zur Gnade; aber wer sich durch Spionage, Verrat, Mißhandlung seiner Leidensgenossen ausgezeichnet hatte, der fand – vielleicht Gnade.

Auf dem Justizministerium buchen sie den Wiedereingang der Gesuche, sie drücken einen Stempel darauf: Ablehnen, und ein munteres Fräulein tippt auf seiner Maschine von morgens bis abends: Ihr Gnadengesuch wird abgelehnt ... wird abgelehnt ... abgelehnt ... abgelehnt ... abgelehnt ..., den ganzen Tag lang, alle Tage lang.

Und eines Tages eröffnet dem Otto Quangel ein Beamter: »Ihr Gnadengesuch ist abgelehnt.«

Quangel, der kein Gnadengesuch gemacht hat, sagt kein Wort, es ist der Mühe nicht wert.

Aber die Post trägt den alten Leuten die Ablehnung ins Haus, durch das Dorf läuft das Gerücht: »Die Heffkes haben einen Brief vom Reichsjustizminister bekommen.«

Und wenn die alten Leute auch schweigen, beharrlich, angstvoll, zitternd schweigen, ein Bürgermeister hat Wege, die Wahrheit zu erfahren, und bald kommt zu der Trauer die Schande für zwei alte Leute ...

Wege der Gnade!


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