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Es war schon ganz dunkel, als Kommissar Escherich mit Enno Kluge das Gartenhaus in der Ansbacher Straße verließ. Nein, trotz der Lunge hatte sich der Kommissar nicht entschließen können, den Fall von Fräulein Anna Schönlein als unbeträchtlich anzusehen. Diese alte Jungfer schien ja ganz wahllos jeden Verbrecher bei sich aufzunehmen, ohne auch nur seine Geschichte zu kennen. Den Enno Kluge zum Beispiel hatte sie nicht einmal nach seinem Namen gefragt, sie hatte ihn versteckt, bloß weil eine Freundin ihn angeschleppt hatte.
Auch diese Frau Häberle würde man sich näher ansehen. Es war ein Jammer mit diesem Volk! Jetzt, wo der größte Krieg für seine glückliche Zukunft geführt wurde, selbst jetzt noch war es widerspenstig. Überall, wo man hinroch, stank es. Kommissar Escherich war fest davon überzeugt, daß er in beinah jedem deutschen Haus solch einen Wust von Heimlichkeiten und Lüge finden würde. Fast keiner, der ein reines Gewissen hatte – von den Parteigenossen natürlich abgesehen. Übrigens würde er sich schön hüten, bei Parteigenossen solche Untersuchung wie eben die bei der Schönlein durchzuführen.
Nun, er hatte jedenfalls den Portier als Wache in die Wohnung gesetzt. Der schien ein ganz verläßlicher Bursche zu sein, übrigens auch Parteimitglied; man mußte mal sehen, daß er irgendeinen kleinen gutbezahlten Posten bekam. Das machte solche Leute munter und schärfte ihnen Blick und Gehör. Belohnen und Bestrafen, das war die beste Art zu regieren.
Der Kommissar mit seinem Enno Kluge am Arm geht auf die Säule zu, hinter der Borkhausen steckt. Borkhausen will seinen ehemaligen Kumpel jetzt gar nicht so gern sehen; er geht, seinem Anblick zu entgehen, rund um die Säule. Aber der Kommissar, der kehrtgemacht hat, erwischt ihn doch, und Emil und Enno stehen einander gegenüber.
»'n Abend, Enno!« sagt Borkhausen und streckt die Hand aus.
Aber Kluge nimmt sie nicht. Ein bißchen Empörung regt sich jetzt selbst in diesem jämmerlichen Geschöpf. Er haßt diesen Borkhausen, der ihn zu einem Einbruch überredete, wo es nur Schläge gab, der heute früh Tausende erpreßte und der ihn nun doch verraten hat.
»Herr Kommissar«, sagt Kluge eifrig, »hat Ihnen der Borkhausen nicht gesagt, daß er heute früh von meiner Freundin, der Frau Häberle, zweitausendfünfhundert Mark erpreßt hat? Er wollte mich dafür laufenlassen, und nun hat er ...«
Der Kommissar hat den Borkhausen nur aufgesucht, um ihm sein Geld zu geben und ihn nach Haus zu schicken. Aber jetzt läßt er das Geldpäckchen in seiner Tasche wieder los und hört erheitert, wie Borkhausen grob antwortet: »Und habe ich dich nicht laufenlassen, Enno? Wenn du Ochse dich gleich wieder fangen läßt, dafür kann ich nichts. Ich habe mein Versprechen gehalten.«
Der Kommissar sagt: »Na, darüber unterhalten wir uns noch mal, Borkhausen. Jetzt machen Sie, daß Sie nach Haus kommen.«
»Aber vorher will ich mein Geld, Herr Kommissar«, verlangt Borkhausen. »Sie haben mir fest fünfhundert Eier versprochen, wenn ich Ihnen Enno liefere. Da haben Sie ihn am Arm, und nun spucken Sie auch aus!«
»Zweimal werden Sie in der gleichen Sache nicht bezahlt, Borkhausen!« weist der Kommissar ihn ab. »Wenn Sie schon zweitausendfünfhundert bekommen haben!«
»Aber ich habe das Geld doch noch gar nicht!« protestiert der schon wieder enttäuschte Borkhausen fast schreiend. »Sie hat's doch postlagernd nach München geschickt, damit ich ihnen hier aus dem Wege bin!«
»Kluge Frau!« lobt der Kommissar. »Oder war das Ihr Einfall, Herr Kluge?«
»Er lügt ja schon wieder!« schreit Enno erbittert. »Nur zweitausend sind nach München gesandt. Fünfhundert, und mehr als fünfhundert, hat er bar gekriegt. Sehen Sie nur in seinen Taschen nach, Herr Kommissar!«
»Die sind mir doch geklaut worden! Eine Rotte Halbstarker hat mich überfallen und hat mir das ganze Geld geklaut! Sie können mich von oben bis unten nachsehen, Herr Kommissar, ich habe nur noch ein paar Mark bei mir, die ich zufällig in der Weste hatte!«
»Ihnen kann man kein Geld anvertrauen, Borkhausen«, sagt der Kommissar kopfschüttelnd. »Sie können nicht mit Geld umgehen. Sich von Halbstarken beklauen lassen, ein großer Mann!«
Borkhausen fängt wieder an zu betteln, zu verlangen, zu überreden, aber der Kommissar befiehlt – sie sind jetzt schon am Viktoria-Luise-Platz: »Sie machen jetzt, daß Sie nach Hause kommen, Borkhausen!«
»Herr Kommissar, Sie haben mir fest versprochen ...«
»Und wenn Sie jetzt nicht sofort in die U-Bahn verschwinden, übergebe ich Sie da dem Schupo! Der kann Sie gleich mal wegen Erpressung festnehmen.«
Damit geht der Kommissar auf den Schupo zu, und Borkhausen, der zornige Borkhausen, dieser Möchtegern-Verbrecher, dem immer direkt vor dem Siege der Gewinn entrissen wird, macht, daß er vom Viktoria-Luise-Platz verschwindet. (Warte nur, Kuno-Dieter, wenn ich nach Hause komme!)
Der Kommissar spricht wirklich den Schupo an, er weist sich aus und gibt ihm den Auftrag, das Fräulein Anna Schönlein festzunehmen und erst mal auf der Wache festzuhalten, wegen: »Na, sagen wir erst einmal, wegen Abhörens feindlicher Sender. Keine Vernehmungen, bitte ich mir aus. Es kommt morgen einer von uns und holt sich das Frauenzimmer. 'n Abend, Herr Wachtmeister!«
»Heil Hitler, Herr Kommissar!«
»Ja«, sagt der Kommissar, auf der Motzstraße in der Richtung auf den Nollendorfplatz weitergehend. »Was machen wir nun? Ich habe Hunger, es ist meine Essenszeit. Wissen Sie was, ich lade Sie zum Abendessen ein. Sie werden es ja nicht so furchtbar eilig haben, zu uns auf die Gestapo zu kommen. Ich fürchte, das Essen läßt bei uns zu wünschen übrig, und die Leute sind so vergeßlich, manchmal bringen sie zwei, drei Tage gar nichts. Nicht mal Wasser. Schlecht organisiert. Tja, was meinen Sie, Herr Kluge?«
Mit solchem und ähnlichem Geschwätz hat der Kommissar den völlig verwirrten Kluge in eine kleine Weinstube gezogen, wo er bekannt zu sein scheint. Der Kommissar ißt üppig, es gibt nicht nur ausgezeichnetes reichliches Essen mit Wein und Schnäpschen, es gibt auch Bohnenkaffee, Kuchen und Zigaretten. Dabei erklärt Escherich ganz schamlos: »Denken Sie bloß nicht, daß ich das bezahle, Kluge! Das geht alles auf Borkhausensche Rechnung. Das bezahle ich nämlich von dem Geld, das er eigentlich hätte kriegen sollen. Ist doch hübsch, daß Sie sich den Wanst von der Belohnung vollschlagen, die für Ihre Ergreifung ausgesetzt ist. Ausgleichende Gerechtigkeit ...«
Der Kommissar redet und redet, aber vielleicht ist er nicht ganz so überlegen, wie er tut. Er hat wenig gegessen, dafür rasch und viel getrunken. Vielleicht sitzt eine Unruhe in ihm, der ganze Mann ist von einer bei ihm ungewohnten Nervosität. Mal spielt er mit Brotkugeln, und dann faßt er ganz plötzlich rasch nach der Gesäßtasche, in der die leichte Pistole sitzt, wobei er einen raschen Blick auf Kluge wirft.
Der Enno sitzt ziemlich teilnahmslos dabei. Er hat tüchtig gegessen, aber kaum getrunken. Er ist immer noch völlig verwirrt, er weiß nicht, was er aus dem Kommissar machen soll. Ist er nun verhaftet, oder ist er es nicht? Enno kapiert nichts.
Das erklärt ihm gerade der Escherich. »Da sitzen Sie, Herr Kluge«, sagt er, »und wundern sich über mich. Ich habe natürlich geschwindelt, mein Hunger war gar nicht so groß, ich will nur die Zeit totschlagen bis nach zehn Uhr. Wir müssen nämlich einen kleinen Spaziergang machen, und da wird sich ja zeigen, was ich mit Ihnen anfangen soll. Ja – das – wird – sich da – zeigen ...«
Der Kommissar hat immer leiser, nachdenklicher und langsamer gesprochen, und Enno Kluge wirft einen argwöhnischen Blick auf ihn. Irgendeine neue Teufelei steckt sicher hinter dem kleinen Spaziergang um zehn Uhr nachts. Aber welche? Und wie kann er ihr entgehen? Der Escherich paßt auf wie der Teufel, nicht einmal auf die Toilette darf Kluge allein.
Der Kommissar fährt fort: »Die Sache ist die, daß ich meinen Mann erst nach zehn Uhr erreiche. Er wohnt draußen in Schlachtensee, verstehen Sie, Herr Kluge? Das ist das, was ich einen kleinen Spaziergang nenne.«
»Und was habe ich damit zu tun? Kenne ich den Mann? Ich kenne doch keinen Menschen in Schlachtensee! Ich habe immer um den Friedrichshain rum gewohnt ...«
»Ich denke, daß Sie ihn vielleicht doch kennen. Ich möchte, daß Sie ihn sich einmal ansehen.«
»Und wenn ich ihn angesehen habe, und es hat sich herausgestellt, daß ich ihn nicht kenne, was dann? Was wird dann mit mir?«
Der Kommissar macht eine gleichgültige Bewegung: »Das wird sich dann schon zeigen. Ich denke mir, Sie werden den Mann kennen.«
Beide schweigen. Dann fragt Enno Kluge: »Hat das wieder mit dieser verdammten Postkartengeschichte zu tun? Ich wollte, ich hätte dieses Protokoll nie unterschrieben. Ich hätte Ihnen den Gefallen nicht tun sollen, Herr Kommissar.«
»Wirklich? Ich glaube beinah, Sie haben recht, für Sie wie für mich wäre es besser gewesen, Sie hätten nicht unterschrieben, Herr Kluge!« Er starrt sein Gegenüber so düster an, daß Enno Kluge einen neuen Schreck bekommt. Der Kommissar bemerkt es. »Nu, nu«, sagt er beruhigend, »wir werden ja sehen. Ich denke, wir trinken noch einen Schnaps und fahren dann los. Ich möchte gern noch den letzten Zug in die Stadt zurück bekommen.«
Kluge starrt ihn entsetzt an. »Und ich?« fragt er mit zitternden Lippen. »Soll ich – da – draußen – bleiben?«
»Sie?« Der Kommissar lacht. »Sie werden natürlich mit mir fahren, Herr Kluge! Was starren Sie mich denn so entsetzt an? Ich habe doch nichts gesagt, das Sie so erschrecken könnte. Natürlich werden wir beide zusammen in die Stadt zurückfahren. Da kommt der Kellner mit unserm Schnaps. Ober, warten Sie einen Augenblick, wir geben Ihnen die Gläser gleich zum Umtauschen.«
Wenig später waren sie auf dem Weg zum Bahnhof Zoo. Sie fuhren mit der S-Bahn, und als sie in Schlachtensee, ausstiegen, war die Nacht so dunkel, daß sie im ersten Augenblick ratlos auf dem Bahnhofsplatz standen. Wegen der Verdunklung sah man nirgends ein Licht.
»In dieser Finsternis finden wir nie den Weg«, sagte Kluge angstvoll. »Herr Kommissar, bitte, lassen Sie uns zurückfahren! Bitte! Ich will lieber die Nacht bei Ihnen auf der Gestapo sitzen, als ...«
»Reden Sie keinen Unsinn, Kluge!« unterbrach ihn der Kommissar grob und zog den Arm des Schmächtigen fest durch den seinen. »Glauben Sie, ich fahre hier die halbe Nacht mit Ihnen spazieren, um eine Viertelstunde vor dem Ziel umzukehren?« Etwas sanfter fuhr er fort: »Ich kann jetzt schon ganz gut sehen. Wir müssen den Nebenweg da nehmen, da kommen wir am schnellsten zum See ...«
Schweigend gingen sie los, beide vorsichtig mit den Füßen nach unsichtbaren Hindernissen tastend.
Als sie ein Stück Weg gegangen waren, schien die Luft vor ihnen heller zu werden.
»Sehen Sie, Kluge«, sagte der Kommissar, »ich wußte doch, ich kann mich auf meinen Ortssinn verlassen. Da haben wir schon den See!«
Kluge schwieg, und schweigend gingen sie weiter.
Es war eine ganz windstille Nacht, alles war ruhig. Kein Mensch begegnete ihnen. Das glatte Wasser des Sees, das sie eher ahnten als sahen, schien eine graue Helle auszudünsten, als gäbe es den schwächsten Schein des am Tage aufgefangenen Lichts zurück. Der Kommissar räusperte sich, als wollte er sprechen, und schwieg weiter.
Plötzlich hielt Enno Kluge an. Mit einem Ruck befreite er seinen Arm aus dem seines Begleiters. Er rief fast schreiend: »Jetzt gehe ich keinen Schritt mehr! Wenn Sie mir was tun wollen, können Sie es ebensogut hier wie eine Viertelstunde weiter tun! Kein Mensch kann mir zu Hilfe kommen! Es muß Mitternacht sein!«
Wie um diese Worte zu bestätigen, fing eine Uhr plötzlich zu schlagen an. Der Klang kam überraschend nah und stark durch die dunkle Nacht. Unwillkürlich zählten die Männer mit.
»Elf!« sagte dann der Kommissar. »Elf Uhr. Es ist noch eine Stunde bis Mitternacht. Kommen Sie, Kluge, wir haben nur noch fünf Minuten zu gehen.«
Und wieder faßte er nach dem Arm des andern.
Aber Kluge riß sich mit überraschender Kraft los: »Ich hab gesagt, ich geh keinen Schritt weiter, und ich geh keinen Schritt weiter!«
Seine Stimme überschlug sich vor Angst, so schrie er. Aufgeschreckt flog ein Wasservogel im Schilf hoch und strich schwerfällig ab.
»Schreien Sie doch nicht so!« sagte der Kommissar ärgerlich, »Sie machen ja den ganzen See rebellisch!«
Dann besann er sich: »Also schön, ruhen Sie sich einen Augenblick aus. Sie werden schon Vernunft annehmen. Wollen wir uns hier hinsetzen?«
Und wieder faßte er nach Kluges Arm.
Enno schlug nach der fassenden Hand. »Ich lasse mich nicht mehr von Ihnen anfassen! Tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber fassen Sie mich nicht an!«
Der Kommissar sagte scharf: »Das ist nicht der Ton, in dem man mit mir spricht, Kluge! Was bist du denn? Ein feiger, kleiner, dreckiger Hund!«
Auch den Kommissar begannen seine Nerven zu verlassen.
»Und Sie?« schrie wieder Kluge. »Und was sind Sie? Ein Mörder sind Sie, ein gemeiner Meuchelmörder!«
Er erschrak selbst über das, was er da gesagt hatte. Er murmelte: »Ach, entschuldigen Sie, Herr Kommissar, ich habe das nicht so gemeint ...«
»Das sind die Nerven«, sagte der Kommissar. »Sie müßten ein anderes Leben führen, Kluge, dies Leben halten Ihre Nerven nicht aus. Also setzen wir uns dort auf den Bootssteg. Haben Sie keine Bange, ich faß Sie nicht wieder an, wenn Sie solche Angst vor mir haben.«
Sie gingen auf den Bootssteg zu. Das Holz knarrte, als sie ihn betraten. »Noch ein paar Schritte«, ermunterte Escherich. »Am besten setzen wir uns auf die Spitze. Ich sitze gern auf so 'nem Dings, nur Wasser um mich ...«
Aber wieder weigerte sich Kluge. Er, der eben noch einen Anflug von entschlossenem Mut gezeigt hatte, fing plötzlich zu wimmern an: »Ich gehe nicht weiter! Oh, haben Sie doch Erbarmen mit mir, Herr Kommissar! Ersäufen Sie mich nicht! Ich kann nicht schwimmen, ich sage es Ihnen gleich! Ich habe immer solche Angst vor dem Wasser gehabt! Ich will Ihnen jedes Protokoll unterschreiben! Hilfe! Hilfe! Hil...«
Der Kommissar hatte den kleinen Kerl gepackt und trug den Zappelnden an das Ende des Stegs. Das Gesicht Ennos hatte er fest gegen seine Brust gedrückt, so fest, daß Kluge nicht weiterschreien konnte. So trug er ihn bis zum Ende des Stegs und hielt ihn dort nahe über das Wasser.
»Wenn du noch einmal schreist, du Hund, werde ich dich hineinwerfen!«
Ein tiefes Schluchzen entrang sich Ennos Kehle. »Ich werde nicht schreien«, sagte er flüsternd. »Ach, ich bin ja doch hin, werfen Sie mich doch rein! Ich halte das nicht mehr aus ...«
Der Kommissar setzte ihn auf den Steg und nahm neben ihm Platz.
»So«, sagte er. »Und nachdem du nun gesehen hast, daß ich dich in den See werfen kann und tu's doch nicht, wirst du wohl begreifen, daß ich kein Mörder bin, Kluge?«
Kluge murmelte etwas Unverständliches. Seine Zähne schlugen laut gegeneinander.
»So, und nun höre zu. Ich hab dir was zu sagen. Das mit dem Mann, den du hier in Schlachtensee erkennen sollst, das ist natürlich Schwindel.«
»Aber warum?«
»Warte ab. Und ich weiß auch, daß du mit dem Postkartenschreiber nichts zu tun hast; ich habe geglaubt, es wäre mit dem Protokoll gut, daß ich wenigstens für meine Vorgesetzten eine Spur hätte, bis ich den richtigen Täter gefaßt habe. Aber es war nicht gut. Sie wollen dich jetzt haben, Kluge, die hohen Herren von der SS, und sie wollen dich vornehmen auf ihre Weise. Sie glauben an das Protokoll, sie halten dich für den Schreiber oder doch für seinen Verteiler. Und sie werden das schon aus dir rausquetschen, sie werden alles, was sie wollen, mit ihren Verhören aus dir rausquetschen, sie werden dich auspressen wie eine Zitrone, und dann werden sie dich totschlagen oder vor den Volksgerichtshof bringen, und das läuft auf dasselbe hinaus, nur daß die Quälerei noch ein paar Wochen länger dauert.«
Der Kommissar machte eine Pause, und der völlig verängstigte Enno schmiegte sich jetzt zitternd an den, den er eben noch »Mörder« genannt, als suche er Hilfe bei ihm.
»Sie wissen, ich bin's nicht gewesen!« stotterte er. »Heilig wahr! Sie können mich nicht zu denen hinbringen, ich halte das nicht aus, ich schreie ...«
»Gewiß wirst du schreien«, bestätigte der Kommissar gleichmütig. »Natürlich tust du das. Aber das kümmert die nicht, das macht denen nur Spaß. Weißt du, Kluge, die werden dich auf einen Schemel setzen und einen ganz scharfen Scheinwerfer direkt vor deinem Gesicht aufstellen, und du mußt immer in das Licht starren und wirst vor Hitze und Helle vergehen. Und dabei werden sie dich fragen, Stunden um Stunden werden sie dich befragen, einer wird den andern ablösen, aber dich wird keiner ablösen, du magst noch so müde sein. Und wenn du vor Erschöpfung umfällst, so werden sie dich mit Fußtritten und Peitschenhieben hochjagen, und sie werden dir Salzwasser zu trinken geben, und wenn das alles nichts mehr hilft, werden sie dir jeden Gelenkknochen an den Fingern einzeln ausdrehen. Sie werden Säure auf deine Füße gießen ...«
»Hören Sie auf, ach, bitte, hören Sie doch auf, ich kann das nicht anhören ...«
»Du wirst es nicht nur anhören, du wirst es aushalten müssen, Kluge, einen Tag, zwei, drei, fünf Tage – immer, Tag und Nacht, und dabei werden sie dich hungern lassen, daß dein Magen zusammenschrumpft wie eine Bohne, daß du vor Schmerzen innen und außen umzukommen meinst. Aber du wirst nicht umkommen; so leicht lassen die einen, den sie mal in ihren Fängen haben, nicht los. Sondern sie werden dich ...«
»Nein, nein, nein«, schrie der kleine Enno und hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts mehr hören! Kein Wort mehr! Dann lieber gleich tot!«
»Ja, das denke ich auch«, bestätigte der Kommissar. »Dann lieber gleich tot!«
Eine Zeitlang herrschte tiefstes Schweigen zwischen beiden.
Dann sagte der kleine Enno Kluge plötzlich zusammenschauernd: »Aber ins Wasser gehe ich nicht ...«
»Nein, nein«, sagte der Kommissar gütig zuredend. »Das sollen Sie auch nicht, Kluge. Sehen Sie, ich habe Ihnen hier was anderes mitgebracht, sehen Sie nur, so 'ne hübsche kleine Pistole. Die brauchen Sie nur gegen die Stirn zu drücken, haben Sie keine Angst, ich werde Ihnen die Hand halten, daß sie nicht zittert, und dann machen Sie den Finger nur ein klein bißchen krumm ... Sie werden keinen Schmerz spüren, plötzlich sind Sie weg von all diesen Quälereien und Verfolgungen und haben endlich mal Ruhe und Frieden ...«
»Und die Freiheit«, sagte der kleine Enno Kluge nachdenklich. »Das ist genauso, Herr Kommissar, wie Sie mich damals mit dem Protokoll überredet haben, auch damals haben Sie mir die Freiheit versprochen. Ob's diesmal wahr sein wird? Was meinst du?«
»Aber natürlich, Kluge. Das ist die einzige wirkliche Freiheit, die für uns Menschen in Frage kommt. Da kann ich dich nicht wieder einfangen und von neuem ängstigen und quälen. Keiner kann das mehr. Du wirst uns alle auslachen ...«
»Und was wird hinterher kommen, hinter der Ruhe und Freiheit? Wird's da noch was geben, hinterher? Was glaubst du?«
»Ich glaub nicht, daß noch was hinterher kommt, kein Strafgericht und keine Hölle. Nur Ruhe und Freiheit wird's da geben.«
»Und wozu hab ich denn gelebt? Warum habe ich dann hier so viel aushalten müssen? Ich hab doch nichts getan, keinem Menschen habe ich zur Freude gelebt, nie habe ich jemanden wirklich gern gehabt.«
»Tja«, meinte der Kommissar, »ein großer Held bist du nicht gewesen, Kluge. Und irgendwie nützlich hast du dich wohl auch nicht gemacht. Aber warum willst du jetzt darüber nachdenken? Jetzt ist es unter allen Umständen zu spät, ob du das nun tust, was ich dir vorschlage, oder ob du mit mir zur Gestapo gehst. Ich sage dir, Kluge, in der ersten halben Stunde schon wirst du auf den Knien um eine Kugel bitten. Aber es wird viele, viele halbe Stunden dauern, bis sie dich aus deinem Leben zum Tode gequält haben ...«
»Nein, nein«, sagte Enno Kluge. »Zu denen gehe ich nicht. Gib mir mal die Pistole in die Hand – ist es so richtig, wie ich sie halte?«
»Ja ...«
»Und wo soll ich sie ansetzen? Da an die Schläfe?«
»Ja ...«
»Und nun den Finger hier an den Hahn legen. Ich will's vorsichtig tun, jetzt will ich noch nicht ... Ich möchte noch ein bißchen mit dir reden ...«
»Du brauchst keine Angst zu haben, die Pistole ist noch gesichert ...«
»Weißt du auch, Escherich, daß du der letzte Mensch bist, mit dem ich spreche? Danach wird's nur noch Ruhe geben, nie wieder werde ich mit einem Menschen sprechen können.«
Er schauderte zusammen.
»Als ich eben die Pistole an die Schläfe gesetzt hatte, ging so eine Kälte von ihr aus. So eisig muß die Ruhe und die Freiheit sein, die mich nachher erwarten.«
Er beugte sich nahe zum Kommissar und flüsterte: »Willst du mir eins fest versprechen, Escherich?«
»Ja. Was ist denn?«
»Aber du mußt dein Versprechen auch halten!«
»Das tu ich schon, wenn ich's kann.«
»Laß mich nicht ins Wasser rutschen, wenn ich tot bin, versprich mir das. Vor dem Wasser habe ich Angst. Laß mich hier oben liegen, auf dem trockenen Steg.«
»Natürlich. Das verspreche ich dir!«
»Schön, gib mir die Hand darauf, Escherich.«
»Hier!«
»Und du wirst mich nicht betrügen, Escherich? Siehst du, ich bin nur ein kleines, elendes Aas. Es macht nicht viel aus, ob man mich betrügt oder nicht. Aber du wirst es nicht tun?«
»Ich werde es bestimmt nicht tun, Kluge!«
»Gib mir noch mal die Pistole, Escherich – ist sie jetzt entsichert?«
»Nein, noch nicht, erst wenn du's sagst.«
»Habe ich sie so richtig angesetzt, ja? Jetzt fühle ich die Kälte vom Lauf kaum noch, ich bin ebenso kalt wie der Lauf. Weißt du, daß ich eine Frau und Kinder habe?«
»Ich habe sogar mit deiner Frau gesprochen, Kluge.«
»Oh!« Der Kleine war so interessiert, daß er die Pistole rasch wieder absetzte. »Ist sie hier in Berlin? Ich würde sie gern noch einmal sprechen.«
»Nein, sie ist nicht in Berlin«, antwortete der Kommissar und verfluchte sich, weil er seinem Grundsatz, nie eine Mitteilung zu geben, untreu geworden war. Gleich hatte man die Folgen! »Sie ist immer noch im Ruppinschen bei ihren Verwandten. Und es ist schon besser, du sprichst nicht mit ihr, Kluge.«
»Sie ist nicht gut auf mich zu sprechen?«
»Nein, gar nicht, sie ist nur böse auf dich zu sprechen.«
»Schade«, sagte der Kleine. »Schade. Eigentlich ist es komisch, Escherich. Ich bin doch ein reiner Garnichts, den niemand lieben kann. Aber hassen, hassen tun mich viele.«
»Ich weiß nicht, ob das Haß ist bei deiner Frau, ich glaube, sie will nur Ruhe vor dir haben. Du störst sie ...«
»Die Pistole ist doch noch gesichert, Kommissar?«
»Ja«, antwortete der Kommissar verwundert, daß Kluge, der die letzte Viertelstunde ganz ruhig geworden war, plötzlich wieder so aufgeregt fragte. »Ja, die ist noch immer gesichert ... Was zum Teufel?«
Die Pistole zündete mit ihrem Mündungsfeuer so nahe an seinen Augen vorbei, daß er ächzend auf den Steg zurückfiel; immer im Gefühl, geblendet zu sein, preßte er die Hände vor die Augen.
Der Kluge flüsterte an seinem Ohr: »Ich wußte es, sie war nicht gesichert! Wieder einmal wolltest du mich betrügen! Und jetzt bist du in meiner Hand, jetzt kann ich dir deine Ruhe und Freiheit geben ...« Er hielt den Pistolenlauf gegen die Stirn des Stöhnenden, er kicherte: »Fühlst du, wie kalt das ist? Das ist die Ruhe und der Frieden, das ist das Eis, in dem wir begraben sein werden, immer und immer ...«
Der Kommissar richtete sich ächzend auf. »Hast du das mit Absicht getan, Kluge?« fragte er streng und riß die wundbrennenden Lider hoch von den schmerzenden Augen. Ihm war, als sähe er den andern neben sich wie einen schwärzeren Klumpen in all dem Nachtdunkel.
»Ja, mit Absicht«, kicherte der Kleine.
»Das war ein Mordversuch!« sagte der Kommissar.
»Aber du hast doch gesagt, die Waffe ist gesichert!«
Jetzt war dem Kommissar ganz gewiß, daß seinen Augen nichts geschehen war.
»Ich werde dich ins Wasser schmeißen, du Lump! Das ist dann nur Notwehr!« Und er packte den Kleinen bei der Schulter.
»Nein, nein, bitte nicht! Bitte das nicht! Ich werde das andere auch bestimmt tun! Nur nicht ins Wasser! Du hast es mir heilig versprochen ...«
Der Kommissar hatte ihn bei der Schulter gepackt.
»Ach was! Jetzt keine Winseleien mehr! Du hast doch nie die Courage dazu! Ins Wasser ...!«
Zwei Schüsse fielen rasch hintereinander. Der Kommissar fühlte, wie der Mann zwischen seinen Fäusten zusammenfiel, er sackte in sich, unaufhaltsam. Einen Augenblick machte Escherich eine Bewegung, als er den Toten über den Stegrand ins Wasser rutschen sah. Seine Hände wollten ihn noch halten.
Und achselzuckend sah der Kommissar zu, wie der schwere Körper ins Wasser klatschte und sofort verschwand.
Besser so! sagte er sich und befeuchtete die trockenen Lippen. Weniger Verdachtsmaterial.
Einen Augenblick stand er noch, zweifelnd, ob er die auf dem Steg liegende Pistole ins Wasser stoßen sollte oder nicht. Dann ließ er sie liegen. Er ging langsam vom Bootssteg, den Uferhang hinan, nach dem Bahnhof zu.
Der Bahnhof war geschlossen, der letzte Zug abgefahren. Der Kommissar schickte sich gleichmütig an, den weiten Weg nach Berlin unter seine Füße zu nehmen.
Eben fing die Uhr wieder an zu schlagen.
Mitternacht, dachte der Kommissar. Er hat's geschafft. Mitternacht. Bin neugierig, wie ihm sein Friede gefallen wird, wirklich neugierig. Ob er sich wieder betrogen vorkommt? Aas, kleines, winselndes Aas!