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Die Hergesells fuhren mit dem Zuge von Erkner nach Berlin. Jawohl, es gab keine Trudel Baumann mehr, Karls andauernde Liebe hatte gesiegt, sie hatten geheiratet, und jetzt, im Jahre des Unheils 1942, war Trudel im fünften Monat schwanger.
Mit der Heirat hatten die beiden auch ihre Arbeit in der Uniformfabrik abgegeben – nach dem bedrückenden Erlebnis mit Grigoleit und dem Säugling hatten sie sich dort nie mehr wohl gefühlt. Er arbeitete jetzt bei einer chemischen Fabrik in Erkner, während Trudel als Hausschneiderin ein paar Mark dazuverdiente. Mit leiser Scham dachten sie an die Zeit ihrer illegalen Betätigung zurück. Beide waren sie sich völlig klar darüber, daß sie versagt hatten; beide aber wußten sie jetzt auch, daß sie sich für eine derartige Tätigkeit, die eine völlige Zurückstellung des eigenen Ichs erforderte, nicht eigneten. Jetzt lebten sie nur noch für ihr häusliches Glück und genossen die Vorfreude auf das zu erwartende Kind.
Als sie Berlin verließen und nach Erkner hinauszogen, hatten sie gemeint, dort in völliger Ruhe leben zu können. Wie viele Großstädter hatten sie sich dem sehr irrigen Glauben hingegeben, die Bespitzelung sei nur in Berlin so schlimm, auf dem Lande, in einer kleinen Stadt herrsche noch Anstand. Und wie viele Großstädter hatten sie erfahren müssen, daß gerade das Denunziantentum, das Aushorchen und Bespitzeln in einer kleinen Stadt noch zehnmal schlimmer waren als in der Großstadt. In der Kleinstadt konnte man nie untertauchen in der Masse, jeder war klar übersichtlich, seine persönlichen Verhältnisse wurden rasch bekannt, Gesprächen mit Nachbarn war kaum aus dem Wege zu gehen, und wie solche Gespräche entstellt werden konnten, das hatten sie schon ein paarmal mit Kummer erfahren müssen.
Da sie beide der NSDAP nicht angehörten, da sie beide sich bei allen Sammlungen nur mit dem geringstmöglichen Betrage beteiligten, da sie beide die Neigung zeigten, ganz allein für sich zu leben, da sie beide lieber lasen, als daß sie in eine Versammlung gingen, da Hergesell mit seinen dunklen, langen, immer verwirrten Haaren und seinen glühenden schwarzen Augen wie ein richtiger Sozialist und Pazifist aussah (nach Ansicht der Pgs), da Trudel einmal gesagt hatte, die Juden müßten einem leid tun – galten sie in kurzer Zeit für politisch verdächtig, und jeder ihrer Schritte wurde überwacht, jedes ihrer Worte überbracht.
Hergesells litten unter der Atmosphäre, in der sie in Erkner leben mußten. Aber sie redeten sich ein, daß sie sich nichts daraus machten und daß ihnen nichts passieren könnte, da sie ja gegen diesen Staat nichts taten. »Die Gedanken sind frei«, sagten sie, aber sie hätten wissen sollen, daß in diesem Staat nicht einmal die Gedanken frei waren.
So flüchteten sie immer stärker in ihr Liebesglück. Sie waren wie zwei Liebende, die sich in einer Sturmflut, in den Wogen, im Zusammenbruch der Häuser, zwischen ertrinkendem Vieh aneinandergeklammert haben und glauben, kraft ihrer Gemeinsamkeit ihrer Liebe dem allgemeinen Untergang entgehen zu können. Sie hatten noch nicht begriffen, daß es in diesem Kriegs-Deutschland ein privates Leben überhaupt nicht mehr gab. Kein Sichzurückziehen rettete davor, daß jeder Deutsche zur Allgemeinheit der Deutschen gehörte und das deutsche Schicksal miterleiden mußte – so wie ja auch die immer zahlreicheren Bomben wahllos auf Gerechte wie Ungerechte fielen.
Auf dem Alexanderplatz trennten sich die Hergesells. Sie hatte eine Schneiderarbeit in der Kleinen Alexanderstraße abzuliefern, während er einen zum Tausch inserierten Kinderwagen besichtigen wollte. Sie verabredeten, sich um die Mittagsstunde wieder auf dem Bahnhof zu treffen, und jeder ging seinen Weg. Trudel Hergesell, der, nach anfänglichen Beschwerden, jetzt im fünften Monat die Schwangerschaft nur ein nie gekanntes Gefühl von Selbstvertrauen und Glück verliehen hatte, kam rasch in die Kleine Alexanderstraße und trat in das Treppenhaus.
Vor ihr stieg ein Mann die Treppe hinauf. Sie sah ihn nur von hinten, aber sie erkannte ihn sofort an der charakteristischen Kopfhaltung, dem steifen Nacken, an der langen Gestalt, an den hochgezogenen Schultern: es war Otto Quangel, der Vater ihres früheren Verlobten, jener Mann, dem sie einmal das Geheimnis ihrer illegalen Organisation verraten hatte.
Unwillkürlich hielt sie sich zurück. Es war klar, daß Quangel von ihrer Anwesenheit noch nichts gemerkt hatte. Er stieg ohne Hast, aber gleichmäßig schnell die Treppen hoch. Sie folgte ihm mit einer halben Treppe Abstand, immer bereit, sofort stehenzubleiben, sobald Quangel an einer der vielen Türen dieses Bürohauses klingelte.
Aber er klingelte nicht, sondern sie sah, wie er an einem Treppenfenster stehenblieb, eine Karte aus der Tasche zog und sie auf der Fensterbank niederlegte. Als er so tat, begegnete sein Blick dem der Beobachterin. Aber ob Quangel sie nun erkannt hatte oder nicht, war ihm nicht anzumerken, er ging an ihr vorbei, die Treppe hinunter, ohne sie anzusehen.
Kaum war er etwas tiefer, eilte sie zu dem Fenster und nahm die Karte in ihre Hand. Sie las nur die ersten Worte: »Habt ihr noch immer nicht begriffen, daß der Führer euch schändlich belogen hat, als er sagte, Rußland habe zu einem Überfall auf Deutschland gerüstet?«
Dann lief sie Quangel nach.
Sie erreichte ihn, als er das Gebäude verließ, sie drängte sich an seine Seite und sagte: »Hast du mich eben nicht erkannt, Vater? Ich bin's doch, die Trudel, Ottochens Trudel!«
Er drehte ihr den Kopf zu, der ihr noch nie so vogelhaft hart vorgekommen war wie in diesem Augenblick. Einen Moment glaubte sie, er werde sie nicht wiedererkennen wollen, aber dann nickte er kurz und sagte: »Siehst wohl aus, Mädel!«
»Ja«, sagte sie, und ihre Augen strahlten. »Ich fühle mich auch so kräftig und glücklich wie noch nie. Ich erwarte ein Kindchen. Ich habe mich verheiratet. Bist nicht böse, Vater?«
»Warum soll ich dir böse sein? Wegen des Verheiratetseins? Sei nicht albern, Trudel, du bist jung, und Ottochen ist bald zwei Jahre tot. Nein, nicht einmal die Anna würde dir das Heiraten übelgenommen haben, und die denkt doch noch jeden Tag an ihr Ottochen.«
»Wie geht's denn der Mutter?«
»Wie immer, Trudel, ganz wie immer. Bei uns alten Leuten ändert sich nichts mehr.«
»Doch!« sagte sie und blieb stehen. »Doch!« Ihr Gesicht war jetzt sehr ernst geworden. »Doch, es hat sich viel bei euch geändert. Erinnerst du dich, wie wir einmal im Gang der Uniformfabrik standen, unter den Plakaten von den Hinrichtungen? Da hast du mich gewarnt ...«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Trudel. Ein alter Mann vergißt vieles.«
»Heute warne ich dich, Vater«, fuhr sie leise, aber um so eindringlicher fort. »Ich habe dich gesehen, wie du die Karte im Treppenhaus hingelegt hast, diese schreckliche Karte, die jetzt in meiner Handtasche steckt.«
Er sah sie unverwandt an mit seinem kalten Auge, das jetzt böse zu leuchten schien.
Sie flüsterte: »Vater, es geht um deinen Kopf. Wie ich können dich andere beobachtet haben. Weiß die Mutter davon, daß du so was tust? Tust du es öfters?«
Er schwieg so lange, daß sie schon meinte, er wolle ihr gar nicht antworten. Aber dann sagte er: »Du weißt doch, Trudel, ich tu nichts ohne die Mutter.«
»Oh!« rief sie, und Tränen traten in ihre Augen. »Das habe ich gefürchtet. Du reißt auch Mutter herein.«
»Mutter hat ihren Sohn verloren. Das hat sie noch nicht verschmerzt – vergiß das nicht, Trudel!«
Ihre Wangen färbten sich rot, als habe er ihr einen Vorwurf gemacht. »Ich glaub nicht«, murmelte sie, »daß Ottochen einverstanden wäre, wenn er seine Mutter bei so was sähe.«
»Jeder geht seinen Weg, Trudel«, antwortete Otto Quangel kalt. »Du deinen, wir unsern. Ja, wir gehen unsern Weg.« Er warf den Kopf ruckartig zurück und wieder vor, es war, als hackte der Vogel. »Und jetzt müssen wir uns trennen. Mach es gut, Trudel, mit deinem Kindchen. Ich werde die Mutter grüßen von dir – vielleicht.«
Er war schon gegangen.
Dann kam er noch einmal zurück. »Die Karte da«, sagte er, »die behältst du nicht in der Tasche, verstehst du? Die legst du irgendwohin, wie ich es gemacht habe. Und deinem Mann sagst du kein Wort davon, versprichst du mir das, Trudel?«
Sie nickte leise, sie sah ihn nur angstvoll an.
»Und dann vergißt du uns. Du vergißt alles von den Quangels; wenn du mich wieder einmal siehst, kennst du mich nicht, verstanden?«
Wieder konnte sie nur nicken.
»Also, mach's gut«, sagte er noch einmal und war nun wirklich gegangen, und sie hätte ihm doch noch so vieles zu sagen gehabt.
Als Trudel die Karte Otto Quangels ablegte, empfand sie alle Ängste eines Verbrechers, der fürchtet, ertappt zu werden. Sie hatte sich nicht entschließen können, die Karte weiterzulesen. Tragisches Schicksal auch dieser Karte Otto Quangels, von einem befreundeten Menschen aufgefunden, auch sie verfehlte ihre Wirkung. Auch sie war umsonst geschrieben, auch bei ihr hatte die Empfängerin nur den einen Wunsch, sie möglichst schnell wieder loszuwerden.
Als Trudel die Karte auf genau dem gleichen Fensterbrett abgelegt hatte, wo es Otto Quangel getan (es wäre ihr überhaupt nicht der Gedanke gekommen, daß ein anderer Platz dafür in Frage kam), eilte sie rasch die letzten Stufen hinauf und klingelte bei jenem Anwaltsbüro, für dessen Sekretärin sie ein Kleid gearbeitet hatte – aus einem in Frankreich gestohlenen Stoff, der von einem Freund beim SD der Sekretärin geschickt worden war.
Beim Anprobieren wurde der Trudel heiß und kalt, plötzlich war ihr schwarz vor den Augen. Sie mußte sich im Zimmer des Anwalts – er war auf einem Termin – hinlegen und später einen Kaffee trinken, richtigen, guten Bohnenkaffee (in Holland von einem andern Freund bei der SS gestohlen).
Aber während das gesamte Büropersonal sich rührend um sie bemühte – ihr Zustand war unschwer zu erkennen, weil sie die ganze Last »vorne« trug –, währenddem dachte Trudel Hergesell: Er hat recht, ich darf Karl nie etwas davon sagen. Wenn es nur dem Kindchen nichts schadet, es hat mich doch schrecklich aufgeregt. Ach, Vater sollte so etwas nicht machen! Denkt er denn gar nicht daran, in wieviel Not und Angst er die Leute damit stürzt? Das Leben ist doch so schon schwer genug!
Als sie endlich wieder die Treppen hinabstieg, war die Karte verschwunden. Sie atmete erleichtert auf, aber diese Erleichterung hielt nicht an. Sondern sie konnte es nicht lassen, sie mußte darüber nachdenken, wer jetzt wohl die Karte gefunden haben mochte, ob der auch solchen Schreck wie sie darüber bekommen hatte, was er mit der Karte anfing. Immerzu kreisten ihre Gedanken darum.
So leicht ging sie nicht zum Alexanderplatz zurück, wie sie hergegangen war. Sie hatte eigentlich noch einige Besorgungen machen wollen, aber sie fühlte sich dazu nicht imstande. Sie setzte sich ganz still in den Wartesaal und hoffte nur, daß Karl bald kommen möge. Wenn erst Karl da war, würde der Schreck, der ihr immer noch in den Gliedern saß, vergehen – auch wenn sie ihm nichts sagte. Schon sein Da-Sein würde das bewirken ...
Sie lächelte und schloß die Augen.
Guter Karl! dachte sie. Mein Einziger ...!