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17.
Die erste Karte wird geschrieben

Für die Quangels verlief dieser Sonntag nicht so erfolgreich, wenigstens kam es nicht zu der von Frau Anna gewünschten Aussprache.

»Nee«, sagte Quangel auf ihr Drängen. »Nee, Mutter, heute nicht. Der Tag hat falsch angefangen, an solchem Tag kann ich nicht tun, was ich eigentlich wollte. Und wenn ich's nicht tun kann, will ich auch nicht davon sprechen. Vielleicht andern Sonntag. Horchst du? Ja, da schleicht wohl schon wieder einer von den Persickes über die Treppe – na, laß sie! Wenn sie uns nur in Frieden lassen!«

Aber Otto Quangel war ungewöhnlich weich an diesem Sonntag. Anna durfte so viel von dem gefallenen Sohn reden wie sie wollte, er verbot ihr nicht den Mund. Er sah sogar mit ihr die wenigen Fotos durch, die sie von dem Sohne besaß, und als sie dabei wieder zu weinen anfing, legte er ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Laß, Mutter, laß. Wer weiß, wozu's gut ist was ihm alles erspart bleibt.«

Also: dieser Sonntag war auch ohne Aussprache gut. Lange hatte Anna Quangel den Mann nicht so milde gesehen, es war, als schiene die Sonne noch einmal, ein letztes Mal über das Land, ehe der Winter kam, der alles Leben unter seiner Eis- und Schneedecke verbarg. In den nächsten Monaten, die Quangel immer kälter und wortkarger machten, mußte sie oft an diesen Sonntag zurückdenken, er war ihr Trost und Aufmunterung zugleich.

Dann fing die Arbeitswoche wieder an, eine dieser immer gleichen Arbeitswochen, die eine der andern ähnelten, ob nun Blumen blühten oder Schnee draußen trieb. Die Arbeit war immer die gleiche, und die Menschen blieben auch, was sie gewesen waren.

Nur ein kleines Erlebnis, ein ganz kleines hatte Otto Quangel. Als er zur Fabrik ging, kam ihm in der Jablonskistraße der Kammergerichtsrat a. D. Fromm entgegen. Quangel hätte ihn schon gegrüßt, aber er scheute die Augen der Persickes. Er wollte auch nicht, daß Borkhausen, von dem Anna ihm erzählt hatte, die Gestapo habe ihn mitgenommen, etwas sähe. Der Borkhausen war nämlich wieder da, wenn er überhaupt je fortgewesen war, und hatte sich vor dem Hause herumgedrückt.

So ging denn Quangel stur, ohne ihn zu sehen, an dem Kammergerichtsrat vorbei. Der hatte wohl nicht so viele Bedenken, jedenfalls lüftete er leicht seinen Hut vor dem Mitbewohner des Hauses, lächelte mit den Augen und ging ins Haus.

Grade recht! dachte Quangel. Wer's gesehen hat, denkt: Der Quangel bleibt immer der gleiche rohe Klotz, und der Kammergerichtsrat ist ein feiner Mann. Aber daß die beiden was miteinander zu tun haben, das denkt er nicht!

Der Rest der Woche verlief ohne alle besonderen Ereignisse, und so kam der Sonntag wieder heran, dieser Sonntag, von dem sich Anna Quangel endlich die so sehnlich erwartete und so lange aufgeschobene Aussprache mit Otto über seine Pläne erwartete. Er war erst spät aufgestanden, aber er war guter Stimmung und nicht ruhelos. Manchmal sah sie ihn beim Kaffeetrinken rasch von der Seite an, ein wenig aufmunternd, aber er schien das nicht zu merken, er aß, langsam kauend, sein Brot und rührte dabei in seinem Kaffee.

Nur schwer konnte sich Anna entschließen, das Geschirr fortzuräumen. Aber diesmal war es wirklich nicht an ihr, das erste Wort zu sprechen. Er hatte ihr für den Sonntag diese Aussprache zugesagt und er würde schon sein Wort halten, jede Aufforderung von ihr hätte wie ein Drängen ausgesehen.

So stand sie mit einem ganz leisen Seufzer auf und trug die Tassen und die Teller in die Küche. Als sie zurückkam, um den Brotkorb und die Kanne zu holen, kniete er vor einem Schubfach der Kommode und kramte darin herum. Anna Quangel konnte sich nicht erinnern, was eigentlich in diesem Schubfach lag. Es konnte nur alter, längst vergessener Schraps sein. »Suchst du was Bestimmtes, Otto?« fragte sie.

Aber er gab nur einen Knurrlaut von sich, so zog sie sich tief in die Küche zurück, um abzuwaschen und das Essen vorzubereiten.

Er wollte nicht. Er wollte also wieder nicht! Und mehr denn je war sie der Überzeugung, daß sich etwas in ihm vorbereitete, von dem sie immer noch nichts wußte, und das sie doch wissen mußte!

Später, als sie wieder in die Stube hineinkam, um sich beim Kartoffelschälen in seine Nähe zu setzen, fand sie ihn an dem seiner Decke beraubten Tisch, die Platte lag voller Schnitzmesser, und kleine Späne bedeckten bereits den Boden um ihn. »Was tust du denn, Otto?« fragte sie maßlos erstaunt.

»Mal sehen, ob ich noch schnitzen kann«, gab er zurück.

Sie war ein wenig gereizt. Wenn Otto auch kein großer Kenner der Menschenseele war, eine kleine Ahnung mußte er doch davon haben, wie es in ihr aussah, mit welcher Spannung sie jede Mitteilung von ihm erwartete. Und nun hatte er seine Schnitzmesser aus ihren ersten Ehejahren hervorgebracht und schnippelte am Holz herum ganz wie damals, als er sie durch sein ewiges Schweigen zur Verzweiflung brachte. Damals war sie seine Wortkargheit noch nicht so gewohnt gewesen wie heute, aber heute, grade heute, da sie sie gewohnt war, schien sie ihr völlig unerträglich. Schnitzen, du lieber Gott, wenn das alles war, was diesem Mann nach solchen Erlebnissen einfiel! Wenn er sich mit stundenlanger schweigender Schnitzkunst seine so eifersüchtig gehütete Stille wiederholen wollte – nein, das würde eine schwere Enttäuschung für sie bedeuten. Er hatte sie schon oft schwer enttäuscht, aber diesmal würde sie das nicht so stillschweigend ansehen können.

Während sie dies alles sehr unruhig und verzweifelt überdachte, sah sie doch mit halber Neugier auf das längliche, dicke Holzstück, das er nachdenklich zwischen seinen großen Händen drehte, von dem er mit seinem Messer dann und wann einen stärkeren Span abnahm. Nein, eine Wäschetruhe wurde das diesmal nicht, soviel stand fest.

»Was wird denn das, Otto?« fragte sie halb unwillig. Ihr war der seltsame Gedanke gekommen, daß er da irgendein Werkstück schnitzte, vielleicht einen Teil eines Bombenzünders. Aber so was auch nur zu denken, war Unsinn – was hatte Otto mit Bomben zu tun?! Außerdem konnte man wahrscheinlich Holz bei Bomben gar nicht verwenden. »Was wird denn das, Otto?« hatte sie also halb widerwillig gefragt.

Erst schien er wieder nur mit einem Knurren antworten zu wollen, aber vielleicht fiel ihm ein, daß er diesen Morgen seiner Anna schon ein bißchen viel zugemutet hatte, vielleicht war er aber auch einfach bereit, Auskunft zu geben. »Kopf«, sagte er. »Will mal sehen, ob ich noch einen Kopf schnitzen kann. Habe früher viel Pfeifenköpfe geschnitzt.«

Und er drehte und schnippelte weiter.

Pfeifenköpfe! Anna stieß einen empörten Laut aus. Sie sagte jetzt doch sehr ärgerlich: »Pfeifenköpfe! Aber Otto! Besinn dich! Die Welt stürzt ein, und du denkst an Pfeifenköpfe! Wenn ich bloß so was höre!«

Er schien weder auf ihren Ärger noch auf ihre Worte groß zu achten. Er sagte: »Das wird natürlich kein Pfeifenkopf. Ich will mal sehen, ob ich unser Ottochen ein bißchen zurechtschnitzen kann, wie er ausgesehen hat!«

Sofort schlug ihre Stimmung um. Also an Ottochen dachte er, und wenn er an Ottochen dachte und seinen Kopf schnitzen wollte, so dachte er auch an sie und wollte ihr eine Freude damit machen. Sie stand von ihrem Stuhle auf und sagte, hastig die Kartoffelschüssel absetzend: »Warte, Otto, ich hole dir die Bilder, damit du auch weißt, wie Ottochen wirklich ausgesehen hat.«

Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich will keine Bilder sehen«, sagte er. »Ich will den Otto schnitzen, wie ich ihn hier in mir drin habe.« Er tippte gegen seine hohe Stirn. Und nach einer Pause setzte er noch hinzu: »Wenn ich's kann!«

Nun war sie wieder gerührt. Ottochen war also auch in ihm, er hatte ein festes Bild von dem Jungen. Jetzt war sie neugierig, wie dieser Kopf aussehen würde. »Sicher bringst du es fertig, Otto!« sagte sie.

»Na!« sagte er nur, aber es klang nicht einmal so zweifelnd wie zustimmend.

Damit war die Unterhaltung zwischen den beiden erst einmal beendet. Anna mußte in die Küche zurück zu ihrem Mittagessen, und sie ließ ihn da am Tisch, wie er langsam diesen Klotz Lindenholz zwischen seinen Fingern drehte und mit einer stillen, behutsamen Geduld Spänchen auf Spänchen von ihm abnahm.

Sie war dann aber doch sehr überrascht, als sie kurz vor dem Mittagessen zurückkam, um den Tisch zu decken, diesen Tisch schon aufgeräumt und mit seiner Decke geschmückt zu finden. Quangel stand am Fenster und sah in die Jablonskistraße hinunter, wo die spielenden Kinder lärmten.

»Na, Otto«, fragte sie. »Schon fertig mit der Schnitzerei?«

»Für heute ist Feierabend«, antwortete er, und im selben Augenblick wußte sie, daß diese Unterredung nun doch ganz nahe bevorstand, daß Otto doch etwas vorhatte, dieser unbegreiflich beharrliche Mann, den nichts dazu bringen konnte, etwas übereilt zu tun, der stets auf die richtige Stunde warten konnte.

Das Mittagessen verzehrten sie schweigend. Dann ging sie wieder in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen, und sie verließ ihn, in seiner Sofaecke hockend, starr vor sich hin sehend.

Als sie, eine halbe Stunde später, zurückkam, saß er noch immer so da. Aber jetzt wollte sie nicht noch länger warten, bis er sich entschloß; seine Geduld, die eigene Ungeduld machten sie zu unruhig. Womöglich saß er um vier noch so da, und nach dem Abendessen auch noch! Sie konnte nicht mehr länger warten! »Nun, Otto«, fragte sie, »was gibt's? Ist heute kein Nachmittagsschlaf wie alle Sonntage?«

»Heute ist nicht alle Sonntage. Mit ›alle Sonntage‹ ist es endgültig vorbei.« Er stand plötzlich auf und ging aus der Stube.

Aber heute war sie nicht gesonnen, ihn einfach wieder fortlaufen zu lassen, auf einen seiner geheimnisvollen Gänge, von denen sie doch nie etwas erfuhr. Sie lief ihm nach. »Nein, Otto ...« fing sie an.

Er stand an der Etagentür, deren Kette er eben vorgelegt hatte. Er hatte die Hand erhoben, um Stille zu gebieten, und lauschte in das Haus hinaus. Dann nickte er und ging an ihr vorbei wieder in die Stube. Als sie zu ihm kam, hatte er seinen Sofaplatz wieder eingenommen, sie setzte sich zu ihm.

»Wenn's klingelt, Anna«, sagte er, »machst du nicht eher auf, als bis ich ...«

»Wer soll denn klingeln, Otto?« fragte sie ungeduldig. »Wer soll denn zu uns kommen? Nun sage schon, was du sagen willst!«

»Ich werd's schon sagen, Anna«, antwortete er mit ungewohnter Milde. »Aber wenn du mich drängelst, machst du es mir nur noch schwerer.«

Sie berührte schnell seine Hand, die Hand dieses Mannes, dem jede Mitteilung dessen, was in seinem Innern vorging, immer wieder schwerfiel. »Ich werde dich schon nicht drängeln, Otto«, sagte sie beruhigend. »Laß dir Zeit!«

Aber gleich darauf begann er zu sprechen, und nun sprach er fast fünf Minuten hintereinander, in langsamen, kurz abgerissenen, sehr überlegten Sätzen, hinter deren jedem er erst einmal fest den schmallippigen Mund schloß, als komme nun bestimmt nichts mehr. Und während er so sprach, hatte er den Blick auf etwas gerichtet, was seitlich hinter Anna in der Stube war.

Anna Quangel aber hielt die Augen während seines Sprechens fest auf sein Gesicht gewendet, und sie war ihm fast dankbar, daß er sie nicht ansah, so schwer wurde es ihr, die Enttäuschung, die sich immer stärker ihrer bemächtigte, zu verbergen. Mein Gott, was hatte sich dieser Mann da ausgedacht! Sie hatte an große Taten gedacht (und sich auch vor ihnen gefürchtet), an ein Attentat auf den Führer, zum mindesten aber an einen tätigen Kampf gegen die Bonzen und die Partei.

Und was wollte er tun? Gar nichts, etwas lächerlich Kleines, so etwas, das so ganz in seiner Art lag, etwas Stilles, Abseitiges, das ihm seine Ruhe bewahrte. Karten wollte er schreiben. Postkarten mit Aufrufen gegen den Führer und die Partei, gegen den Krieg, zur Aufklärung seiner Mitmenschen, das war alles. Und diese Karten wollte er nun nicht etwa an bestimmte Menschen senden oder als Plakate an die Wände kleben, nein, er wollte sie nur auf den Treppen sehr begangener Häuser niederlegen, sie dort ihrem Schicksal überlassen, ganz unbestimmt, wer sie aufnahm, ob sie nicht gleich zertreten wurden, zerrissen ... Alles in ihr empörte sich gegen diesen gefahrlosen Krieg aus dem Dunkeln. Sie wollte tätig sein, es mußte etwas getan werden, von dem man eine Wirkung sah!

Quangel aber, nachdem er zu Ende geredet hatte, schien gar keine Erwiderung von seiner Frau zu erwarten, die da still mit sich kämpfend in ihrer Sofaecke saß. Sollte sie ihm nicht doch lieber etwas sagen?

Er war aufgestanden und wieder zum Lauschen an die Flurtür gegangen. Als er zurückkam, nahm er wieder die Decke vom Tisch, faltete sie zusammen und hängte sie sorgfältig über die Stuhllehne. Dann ging er an den alten Mahagonisekretär, suchte das Schlüsselbund aus seiner Tasche hervor und schloß auf.

Während er noch im Schrank kramte, entschloß sich Anna. Zögernd sagte sie: »Ist das nicht ein bißchen wenig, was du da tun willst, Otto?«

Er hielt inne in seiner Kramerei, noch gebückt dort stehend, drehte er den Kopf seiner Frau zu. »Ob wenig oder viel, Anna«, sagte er, »wenn sie uns darauf kommen, wird es uns unsern Kopf kosten ...«

Es lag etwas so schrecklich Überzeugendes in diesen Worten, in dem dunklen, unergründlichen Vogelblick, mit dem der Mann sie in dieser Minute ansah, daß sie zusammenschauderte. Und einen Augenblick sah sie deutlich vor sich den grauen, steinernen Gefängnishof, das Fallbeil aufgerichtet, in dem grauen Frühlicht hatte sein Stahl nichts Glänzendes, es war wie eine stumme Drohung.

Anna Quangel spürte, daß sie zitterte. Dann sah sie rasch wieder zu Otto hinüber. Er hatte vielleicht recht, ob wenig oder viel, niemand konnte mehr als sein Leben wagen. Jeder nach seinen Kräften und Anlagen – die Hauptsache man widerstand.

Noch immer sah Quangel sie stumm an, als beobachtete er den Kampf, den sie in sich kämpfte. Nun wurde sein Blick heller, er nahm die Hände aus dem Sekretär, richtete sich auf und sagte fast lächelnd: »Aber so leicht sollen die uns nicht kriegen! Wenn die schlau sind, wir können auch schlau sein. Schlau und vorsichtig. Vorsichtig, Anna, immer auf der Hut – je länger wir kämpfen um so länger werden wir wirken. Es nützt nichts, zu früh zu sterben. Wir wollen leben, es noch erleben, daß sie fallen. Wir wollen dann sagen können, wir sind auch dabeigewesen, Anna!«

Er hatte diese Worte leicht, fast scherzend gesprochen. Nun, während er wieder kramte, lehnte sich Anna erleichtert in das Sofa zurück. Eine Last war ihr abgenommen, jetzt war sie auch davon überzeugt, daß Otto etwas Großes vorhatte.

Er trug sein Fläschchen Tinte, seine in einem Umschlag befindlichen Postkarten, die weißen, riesigen Handschuhe an den Tisch. Er zog den Pfropfen aus der Flasche, glühte mit einem Streichholz die Feder aus und steckte sie in die Tinte. Es zischte leise, er besah aufmerksam die Feder und nickte dann. Nun zog er umständlich die Handschuhe an, nahm eine Karte aus dem Umschlag, legte sie vor sich hin. Er nickte Anna langsam zu. Sie hatte jeden dieser behutsamen, lange vorbereiteten Griffe mit aufmerksamem Auge verfolgt. Nun deutete er auf die Handschuhe und sagte: »Wegen Fingerabdrücke – du verstehst!«

Dann nahm er die Feder zur Hand und sagte leise, aber mit Nachdruck: »Der erste Satz unserer ersten Karte wird lauten: ›Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet ‹...«

Und wieder erschauerte sie. Es lag etwas so Unheilvolles, so Düsteres, so Entschlossenes in diesen Worten, die Otto eben gesprochen hatte. Sie begriff in einem Augenblick, daß er mit diesem ersten Satz für heute und ewig den Krieg angesagt hatte, und sie erfaßte auch dunkel, was es hieß: Krieg zwischen ihnen beiden, den armen, kleinen, bedeutungslosen Arbeitern, die wegen eines Wortes für immer ausgelöscht werden konnten, und auf der anderen Seite der Führer, die Partei, dieser ganze ungeheure Apparat mit all seiner Macht und seinem Glanz und drei Viertel, ja vier Fünftel des ganzen deutschen Volkes dahinter. Und sie beide hier in diesem kleinen Zimmer in der Jablonskistraße allein!

Sie sieht zu dem Manne hinüber. Während sie dies alles gedacht hat, ist er erst beim dritten Wort des ersten Satzes angekommen. Unendlich geduldig malt er das »F« von Führer hin. »Laß mich doch schreiben, Otto!« bittet sie. »Bei mir geht das viel schneller!«

Erst knurrt er wieder nur. Aber dann gibt er ihr doch eine Erklärung. »Deine Handschrift«, sagt er. »Sie würden uns früher oder später durch deine Handschrift erwischen. Dies ist eine Kunstschrift, Blockschrift – du siehst, eine Art Druckbuchstaben ...«

Er verstummt wieder, malt weiter. Ja, so hat er es sich ausgedacht. Er glaubt nicht, daß er was vergessen hat. Diese Kunstschrift kannte er von den Möbelzeichnungen der Innenarchitekten her, niemand kann einer solchen Schrift ansehen, von wem sie stammt. Natürlich fällt sie bei Otto Quangels schreibungewohnten Händen sehr grob und klobig aus. Aber das schadet nichts, das verrät ihn nicht. Es ist eher gut, so bekommt die Karte etwas Plakatartiges, das sofort das Auge auf sich zieht. Er malt geduldig weiter.

Und sie ist auch geduldig geworden. Sie fängt an, sich darein zu denken, daß dies ein langer Krieg wird. Es ist jetzt Ruhe in ihr, Otto hat alles bedacht, auf Otto ist Verlaß, immer und immer. Wie er alles überlegt hat! Die erste Karte in diesem Kriege, sie hat im gefallenen Sohne ihren Ursprung, sie spricht von ihm. Einmal hatten sie einen Sohn, der Führer hat ihn ermordet, jetzt schreiben sie Karten. Ein neuer Lebensabschnitt. Äußerlich hat sich nichts geändert. Ruhe um die Quangels. Innerlich ist alles ganz anders geworden, da ist Krieg ...

Sie holt sich ihren Stopfkorb und fängt an, Strümpfe zu stopfen. Ab und zu sieht sie zu Otto hinüber, der langsam, ohne je das Tempo zu beschleunigen, seine Buchstaben malt. Fast nach jedem Buchstaben hält er die Karte in Armeslänge vor sich und betrachtet sie mit eingekniffenen Augen. Dann nickt er.

Schließlich zeigt er ihr diesen ersten fertigen Satz. Er nimmt anderthalb sehr große Zeilen der Karte ein.

Sie sagt: »Du wirst nicht viel heraufbekommen auf so eine Karte!«

Er antwortet: »Ganz egal! Ich werde noch viele solche Karten schreiben!«

»Und solche Karte dauert lange.«

»Ich werde eine, später vielleicht zwei Karten an einem Sonntag schreiben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, das Morden geht immer weiter.«

Er ist nicht zu erschüttern. Er hat seinen Entschluß gefaßt, und er wird nach diesem Entschluß handeln. Nichts kann ihn umstoßen, niemand wird Otto Quangel auf seinem Wege Halt gebieten.

Er sagt: »Der zweite Satz: ›Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden, er wird noch nicht aufhören, wenn er Trauer in jedes Haus auf der Welt gebracht hat‹ ...«

Sie wiederholt: »Mutter, der Führer wird auch deine Söhne ermorden!«

Sie nickt, sie sagt: »Das schreib!« Sie überlegt: »Man müßte diese Karte dorthin legen, wohin Frauen kommen!«

Er denkt nach, dann schüttelt er den Kopf: »Nein. Bei Frauen, die einen Schreck bekommen, weiß man nie, was sie tun. Ein Mann wird solche Karte schnell in die Tasche stecken, auf der Treppe. Später wird er sie dann gründlich lesen. Außerdem: Alle Männer sind Söhne von Müttern.«

Er schweigt wieder, er fängt von neuem mit Malen an. Der Nachmittag vergeht, sie denken nicht an das Vesperbrot. Schließlich, der Abend ist da, wird auch die Karte fertig. Er steht auf. Er sieht sie noch einmal an.

»So!« sagt er. »Das wäre geschafft. Nächsten Sonntag die zweite.«

Sie nickt.

»Wann trägst du sie weg?« flüstert sie.

Er sieht sie an. »Morgen vormittag.«

Sie bittet: »Laß mich dabeisein, dieses erste Mal!«

Er schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er. »Grade das erste Mal nicht. Ich muß erst sehen, wie das läuft.«

»Doch!« bittet sie. »Es ist meine Karte! Es ist die Karte von der Mutter!«

»Gut!« entscheidet er. »Komm mit. Aber nur bis ans Haus. Drinnen will ich allein sein.«

»Es ist recht.«

Dann ist die Karte vorsichtig in ein Buch geschoben, das Schreibzeug verwahrt, sind die Handschuhe in seine Joppe gesteckt.

Sie essen zu Abend, sie sprechen kaum. Aber sie merken gar nicht, daß sie so schweigsam sind, auch Anna nicht. Beide sind müde, ganz als hätten sie eine schwere Arbeit hinter sich oder als sei eine weite Reise getan.

Er sagt, vom Essen aufstehend: »Ich lege mich dann gleich hin.«

Und sie: »Ich mach bloß noch die Küche. Dann komm ich auch. Gott, wie müde ich bin, und wir haben doch nichts getan!«

Er sieht sie mit einem halben Lächeln an, dann geht er schnell in die Schlafstube und fängt an, sich auszuziehen.

Aber dann, als sie beide liegen, als es dunkel ist, können sie beide nicht einschlafen. Sie wälzen sich hin und her, sie horchen auf den Atem des andern, und schließlich fangen sie an zu reden. In der Dunkelheit spricht es sich besser.

»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit unsern Karten geschieht?«

»Alle werden zuerst einen Schreck bekommen, wenn sie diese Karten daliegen sehen und die ersten Worte lesen. Alle haben doch heute Angst.«

»Ja«, sagt sie. »Alle ...«

Aber sie nimmt sie beide, die Quangels, aus. Fast alle haben Angst, denkt sie. Wir nicht.

»Die Finder«, wiederholt er hundertmal Durchdachtes, »werden Angst haben, daß sie auf der Treppe beobachtet worden sind. Sie werden die Karte schnell fortstecken und weglaufen. Oder sie legen sie auch wieder hin und verdrücken sich, und der nächste kommt ...«

»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Treppenhaus vor sich, irgend solch ein Berliner Treppenhaus, schlecht beleuchtet, und jeder, der eine solche Karte in der Hand hat, wird sich plötzlich fühlen, als sei er ein Verbrecher. Weil eigentlich jeder denkt wie dieser Kartenschreiber und doch nicht so denken darf, weil Tod auf solchem Denken steht ...

»Manche«, fährt Quangel fort, »werden die Karte auch sofort abgeben, an den Blockwart oder die Polizei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Partei oder nicht, ob Politischer Leiter oder Polizei, sie alle werden die Karte lesen, sie wird Wirkung in ihnen tun. Und wenn sie nur die eine Wirkung tut, daß sie wieder einmal erfahren, es ist noch Widerstand da, nicht alle folgen diesem Führer ...«

»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«

»Und es werden mehr werden, Anna. Durch uns werden es mehr werden. Vielleicht bringen wir andere auf den Gedanken, solche Karten zu schreiben, wie ich es tue. Schließlich werden Dutzende, Hunderte sitzen wie ich und schreiben. Wir werden Berlin mit diesen Karten überschwemmen, wir werden den Gang der Maschinen hemmen, wir werden den Führer stürzen, den Krieg beenden ...«

Er hält inne, bestürzt von seinen eigenen Worten, von diesen Träumen, die sein kühles Herz so spät noch aufsuchen.

Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision: »Und wir werden die ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.«

Er sagt plötzlich nüchtern: »Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«

»Ja«, sagt sie.

Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: »Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie werden fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen machen – vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!«

Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«

Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen, im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den andern, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.

Und Quangel sieht sich in der Werkstatt stehen, wie immer im gleichen Getriebe, treibend und getrieben, den Kopf achtsam, ruckweise von Maschine zu Maschine gedreht. Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein, nur von seiner Arbeit und seinem schmutzigen Geiz besessen. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dußlige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.

Anna Quangel aber denkt jetzt an den Weg, den sie morgen beide gehen werden, die erste Karte fortzubringen. Sie ist etwas unzufrieden mit sich, daß sie nicht darauf bestanden hat, mit Quangel ins Haus hineinzugehen. Sie überlegt, ob sie ihn nicht noch einmal darum bitten soll. Vielleicht. Im allgemeinen ist Otto Quangel durch Bitten nicht umzustimmen. Aber vielleicht heute abend, da er so ungewöhnlich heiterer Laune zu sein scheint? Vielleicht gleich jetzt?

Aber es dauert zu lange, bis sie sich entschlossen hat. Da merkt sie: Quangel ist schon eingeschlafen. So schickt auch sie sich an zu schlafen, sie wird sehen ob es morgen paßt. Wenn es paßt, wird sie bestimmt fragen.

Und dann schläft auch sie ein.


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