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Der Verteidiger Anna Quangels, der versorgte, graue ältliche Mann, der so gerne in selbstvergessenen Augenblicken in der Nase bohrte, und der unverkennbar jüdisch aussah (dem aber nichts »bewiesen« werden konnte, denn seine Papiere waren »rein arisch«), dieser Mann, der ex officio zum Rechtsbeistand der Frau gemacht worden war, erhob sich zu seinem Plädoyer.
Er führte aus, daß er es sehr bedauern müsse, gezwungen zu sein, in Abwesenheit seiner Mandantin sprechen zu müssen. Gewiß seien ihre Ausfälle gegen so bewährte Einrichtungen der Partei wie die SA und SS beklagenswert ...
Zwischenruf des Anklägers: »Verbrecherisch!«
Jawohl, selbstverständlich stimme er der Anklagebehörde zu, solche Ausfälle seien höchst verbrecherisch. Immerhin sehe man an dem Fall des Bruders seiner Mandantin, daß sie kaum für voll zurechnungsfähig angesehen werden könne. Der Fall Ulrich Heffke, der sicher dem hohen Gerichtshof noch lebhaft in Erinnerung sei, habe bewiesen, daß in der Familie Heffke der Geist religiösen Wahns umgehe. Er nehme wohl, ohne dem Urteil des ärztlichen Sachverständigen vorgreifen zu wollen, mit Recht an, daß es sich um Schizophrenie handelte, und da die Schizophrenie zu den Erbkrankheiten gehöre ...
Hier wurde der graue Verteidiger zum zweiten Male von dem Ankläger unterbrochen, der den Gerichtshof bat, den Rechtsanwalt zu ermahnen, zur Sache zu sprechen.
Präsident Feisler mahnte den Anwalt, zur Sache zu sprechen.
Der Anwalt wandte ein, er spreche zur Sache.
Nein, er spreche nicht zur Sache. Es handle sich um Hoch- und Landesverrat, nicht um Schizophrenie und Irresein.
Wieder wandte der Anwalt ein: Wenn der Herr Ankläger berechtigt sei, die moralische Minderwertigkeit seiner Mandantin zu beweisen, so sei er berechtigt, über Schizophrenie zu sprechen. Er bitte um Gerichtsbeschluß.
Der Gerichtshof zog sich zur Beschlußfassung über den Antrag des Verteidigers zurück. Dann verkündete Präsident Feisler: »Weder in der Voruntersuchung noch in der heutigen Verhandlung haben sich irgendwelche Anzeichen für eine geistige Störung der Anna Quangel ergeben. Der Fall ihres Bruders Ulrich Heffke kann nicht als beweiskräftig herangezogen werden, da über den Zeugen Heffke noch kein gerichtsärztliches Gutachten vorliegt. Es ist sehr wohl möglich, daß es sich bei dem Ulrich Heffke um einen gefährlichen Simulanten handelt, der seiner Schwester nur Hilfestellung leisten wolle. Es wird der Verteidigung aufgegeben, sich an die Tatsachen des Hoch- und Landesverrates zu halten, wie sie in der heutigen Verhandlung zutage getreten sind ...«
Triumphierender Blick des Anklägers Pintscher zu dem versorgten Anwalt. Und trüber Gegenblick des Anwalts.
»Da es mir vom hohen Gerichtshof untersagt ist«, begann der Anwalt Anna Quangels von neuem, »auf den Geisteszustand meiner Mandantin einzugehen, so überspringe ich alle die Punkte, die für eine verminderte Zurechnungsfähigkeit sprechen: ihre Beschimpfung des eigenen Gatten nach dem Tode des Sohnes, ihr oft seltsames, fast geistesgestört anmutendes Verhalten ...«
Dr. Pintscher kläfft los: »Ich erhebe schreienden Protest dagegen, wie der Verteidiger der Angeklagten das Verbot des Gerichtes umgeht. Er überspringt die Punkte und hebt sie um so nachdrücklicher hervor. Ich beantrage Gerichtsbeschluß!«
Wiederum zieht sich der Gerichtshof zurück, und bei seinem Wiedererscheinen verkündet der Präsident Feisler bitterböse, daß der Anwalt wegen Übertretung eines Gerichtsbeschlusses zu einer Geldstrafe von 500 Mark verurteilt sei. Für den Fall einer Wiederholung wird der Wortentzug angedroht.
Der graue Anwalt verbeugt sich. Er sieht sorgenvoll aus, als plage ihn der Gedanke, wie er diese 500 Mark zusammenbringen solle. Er beginnt zum drittenmal seine Rede. Er bemüht sich, die Jugend Anna Quangels zu schildern, die Dienstmädchenjahre, dann die Ehe an der Seite eines Mannes, der ein kalter Fanatiker sei, ein ganzes Frauenleben: »Nur Arbeit, Sorge, Verzicht, Sichfügen in einen harten Mann. Und dieser Mann beginnt plötzlich, Karten hochverräterischen Inhalts zu schreiben. Es ist aus der Verhandlung klar erwiesen, daß es der Mann war, der auf diesen Gedanken kam, nicht die Frau. Alle gegenteiligen Behauptungen meiner Mandantin in der Voruntersuchung sind als fehlgeleiteter Opferwille aufzufassen ...«
Der Anwalt ruft: »Was sollte Frau Anna Quangel gegen den verbrecherischen Willen ihres Gatten tun? Was konnte sie tun? Ein Leben voller Dienstbarkeit lag hinter ihr, sie hatte nur Gehorchen gelernt, nie Widerstand geleistet. Sie war ein Geschöpf ihres Mannes, sie war ihm hörig ...«
Der Ankläger sitzt mit gespitzten Ohren da.
»Hoher Gerichtshof! Die Tat, nein, die Beihilfe zur Tat durch eine solche Frau kann nicht voll bewertet werden. Wie man einen Hund nicht bestrafen kann, der auf Befehl seines Herrn in einem fremden Revier Hasen fängt, so ist diese Frau nicht voll für ihre Beihilfe verantwortlich zu machen. Sie hat – auch aus diesem Grunde – den Schutz des Paragraphen 51, Absatz 2, hinter sich ...«
Der Ankläger unterbricht wieder. Er kläfft los, der Anwalt habe wiederum das Verbot des Gerichtshofes übertreten.
Der Verteidiger widerspricht.
Der Ankläger liest ab, von einem Block: »Nach dem Stenogramm hat die Verteidigung folgendes gesagt: Sie hat – auch aus diesem Grunde – den Schutz des Paragraphen 51, Absatz 2.
Die Worte ›Auch aus diesem Grunde‹ beziehen sich ganz klar auf die von der Verteidigung behauptete Geisteskrankheit der Familie Heffke. Ich beantrage Gerichtsbeschluß!«
Präsident Feisler befragt den Verteidiger, worauf er die Worte »Auch aus diesem Grunde« bezogen habe?
Der Anwalt erklärt, diese Worte hätten sich auf im weiteren Verlauf seiner Verteidigung zu entwickelnde Gründe bezogen.
Der Ankläger schreit, niemand beziehe sich in seiner Rede auf etwas, das noch nicht gesagt worden sei. Eine Bezugnahme könne nur auf Bekanntes, nie auf Unbekanntes erfolgen. Die Worte des Herrn Verteidigers stellten nichts als eine faule Ausrede dar.
Der Verteidiger protestierte gegen den Anwurf, eine faule Ausrede gebraucht zu haben. Im übrigen könne man sich in einer Rede sehr wohl auf etwas noch Vorzutragendes beziehen, dies sei eine bekannte Redekunst, Spannung auf etwas Kommendes zu erzeugen. So habe zum Beispiel Marcus Tullius Cicero in seiner berühmten dritten Philippika gesagt ...
Anna Quangel war vergessen; jetzt sah Otto Quangel mit vor Staunen geöffnetem Mund von einem zum andern.
Ein hitziger Disput war im Gange. Es regnete Zitate in Latein und Altgriechisch.
Schließlich zog sich der Gerichtshof abermals zurück, und Präsident Feisler verkündete bei seinem Wiedererscheinen zur allgemeinen Überraschung (denn die meisten hatten über dem gelehrten Disput den Anlaß völlig vergessen), daß dem Anwalt der Angeklagten wegen nochmaliger Übertretung eines Gerichtsbeschlusses das Wort entzogen sei. Die Offizialverteidigung der Anna Quangel sei dem zufällig anwesenden Assessor Lüdecke übertragen.
Der graue Verteidiger verbeugte sich und verließ den Sitzungssaal, versorgter denn je aussehend.
Der »zufällig anwesende« Assessor Lüdecke erhob sich und sprach. Er hatte noch nicht viel Erfahrung, er hatte auch nicht recht zugehört, er war vom Gerichtshof eingeschüchtert, außerdem war er zur Zeit stark verliebt und keines vernünftigen Gedankens fähig. Er sprach drei Minuten, bat um mildernde Umstände (falls der hohe Gerichtshof nicht anderer Meinung sein sollte, in welchem Falle er bat, seine Bitte als ungesprochen anzusehen) und setzte sich wieder, sehr rot und verlegen aussehend.
Dem Verteidiger Otto Quangels wurde das Wort erteilt.
Er erhob sich, sehr blond und sehr hochmütig. In die Verhandlung hatte er bisher in keinem Fall eingegriffen, er hatte sich nicht eine Notiz gemacht, der Tisch vor ihm war leer. Während der stundenlangen Verhandlung hatte er sich nur damit beschäftigt, seine rosigen, sehr gepflegten Fingernägel sanft gegeneinander zu reiben und immer wieder genau zu betrachten.
Jetzt aber sprach er, der Talar war halb geöffnet, eine Hand hatte er in der Hosentasche, die andere machte sparsame Gesten. Dieser Verteidiger konnte seinen Mandanten nicht ausstehen, er fand ihn widerlich, beschränkt, unglaubhaft häßlich und gradezu abstoßend. Und Quangel hatte leider alles getan, diese Abneigung seines Verteidigers noch zu verstärken, indem er trotz des dringenden Abratens Dr. Reichhardts dem Anwalt jede Auskunft verweigert hatte: er bedurfte keines Anwalts.
Jetzt also sprach Rechtsanwalt Dr. Stark. Seine nasale, schleppende Redeweise stand in starkem Gegensatz zu den krassen Worten, die er gebrauchte.
Er sagte: »Selten haben wohl wir alle, die wir hier zur Stunde in diesem Saale versammelt sind, ein solches Bild abgrundtiefer menschlicher Verworfenheit vorgeführt bekommen, wie es hier heute geschehen ist. Landesverrat, Hochverrat, Hurerei, Kuppelei, Abtreibung, Geiz – ja, gibt es denn ein menschliches Verbrechen, das mein Mandant nicht auf sich geladen, an dem er nicht teilgenommen hat? Hoher Gerichtshof, meine Herren, Sie sehen mich außerstande, einen solchen Verbrecher zu verteidigen. In einem solchen Falle lege ich die Robe des Verteidigers ab, ich selbst, der Verteidiger, muß zum Ankläger werden, und mahnend erhebe ich meine Stimme: die Gerechtigkeit nehme in ihrer äußersten Strenge den Lauf. In Abänderung eines bekannten Satzes kann ich nur sagen: Fiat justitia, pereat mundus! Keine Milderungsgründe für diesen Verbrecher, der den Namen Mensch nicht verdient!«
Damit verbeugte sich der Verteidiger zur allgemeinen Überraschung und setzte sich wieder, sorgfältig die Hosen über den Knien hochziehend. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Nägel und begann, sie sachte gegeneinander zu reiben.
Nach einem kurzen Stutzen fragte der Präsident den Angeklagten, ob er noch etwas zu seinen Gunsten vorzutragen habe. Er möge sich aber gefälligst kurz fassen.
Otto Quangel sagte, seine Hosen festhaltend: »Ich habe nichts zu meinen Gunsten zu sagen: Aber ich möchte meinem Anwalt aufrichtig für seine Verteidigung danken. Endlich habe ich erfaßt, was ein Linksanwalt ist.«
Und Quangel setzte sich unter stürmischer Bewegung der andern.
Der Anwalt unterbrach sein Nagelpolieren, erhob sich und verkündete nachlässig, daß er auf einen Antrag gegen seinen Mandanten verzichte; dieser habe nur wieder bewiesen, daß er ein unverbesserlicher Verbrecher sei.
Dies war der Augenblick, da Quangel lachte, zum erstenmal seit seiner Verhaftung, nein, seit undenklichen Zeiten, heiter und unbekümmert lachte. Die Komik, daß dieses Verbrechergesindel ihn ernsthaft zum Verbrecher stempeln wollte, überwältigte ihn plötzlich.
Der Präsident ließ den Angeklagten wegen seiner unziemlichen Heiterkeit scharf an. Er erwog, mit noch schärferen Strafen gegen Quangel vorzugehen, aber dann fiel ihm ein, daß er alle nur möglichen Strafen bereits über den Angeklagten verhängt hatte, daß ihm nur noch die Ausschließung aus dem Verhandlungssaal blieb, und er bedachte, wie wenig es wirken würde, wenn er das Urteil in Abwesenheit beider Angeklagten verkünden würde.
So beschied er sich zur Milde.
Der Gerichtshof zog sich zur Urteilsfällung zurück.
Große Pause.
Die meisten gingen, wie im Theater, um eine Zigarette zu rauchen.