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Zweiter Teil.
Die Gestapo

19.
Der Weg der Karten

Der Schauspieler Max Harteisen hatte, wie sein Freund und Anwalt Toll sich auszudrücken beliebte, aus vornazistischen Zeiten noch reichlich viel Butter auf dem Kopf. Er hatte in Filmen mitgespielt, die von jüdischen Regisseuren geleitet waren, er hatte in pazifistischen Filmen mitgespielt, und eine seiner Hauptrollen auf dem Theater war jener verdammte Schwächling gewesen, der Prinz von Homburg, den jeder wahre Nationalsozialist nur anspucken kann. Max Harteisen hatte also allen Anlaß, sehr vorsichtig zu sein; eine Zeitlang war es ja sehr zweifelhaft, ob er unter den braunen Herren überhaupt noch spielen durfte.

Aber das hatte dann ja schließlich doch geklappt. Natürlich mußte der gute Junge eine gewisse Zurückhaltung üben und erst einmal echt braun gefärbten Schauspielern den Vortritt lassen, wenn sie auch lange nicht soviel konnten wie er. Aber grade an dieser Zurückhaltung hatte er es fehlen lassen; der ahnungslose Knabe hatte so gespielt, daß dies sogar dem Minister Goebbels aufgefallen war. Ja, der Minister hatte sogar einen Narren an dem Harteisen gefressen. Und was es mit solchen Vorlieben des Ministers auf sich hatte, das wußte ja jedes Kind, denn es gab keinen launischeren, unberechenbareren Menschen als den Doktor Joseph Goebbels.

Zuerst hatte es wie eitel Freude und Glanz ausgesehen, denn wenn der Minister jemanden zu verehren geruhte, so machte er keinen Unterschied, ob dies eine Frau oder ein Mann war. Wie bei einer Geliebten hatte Doktor Goebbels jeden Morgen bei dem Schauspieler Harteisen angerufen, er hatte sich nach seinem Schlaf erkundigt, er hatte ihm wie einer Diva Blumen und Konfekt gesandt, und es durfte kein Tag vergehen, ohne daß der Minister wenigstens kurze Zeit mit Harteisen zusammen war. Ja, er nahm den Schauspieler sogar nach Nürnberg auf den Parteitag mit, er erklärte ihm den Nationalsozialismus »richtig«, und der Harteisen verstand auch alles, was er verstehen sollte.

Er verstand nur nicht, daß zum richtigen Nationalsozialismus auch gehört, daß ein einfacher Volksgenosse einem Minister nicht widerspricht. Denn ein Minister ist schon einfach durch die Tatsache, daß er Minister ist, zehnmal klüger als jeder andere. Bei irgendeiner ganz belanglosen Filmfrage widersprach Harteisen seinem Minister und behauptete gradezu, es sei Quatsch, was der Herr Goebbels da geredet habe. Es soll dahingestellt bleiben, ob die wirklich belanglose und dazu auch noch rein theoretische Filmfrage den Schauspieler in so zornigen Eifer gerissen hatte, oder ob ihm die verstiegene Anhimmelei des Ministers einfach über war, und ob er darum einen Bruch wünschte. Jedenfalls blieb er, trotz mancher Ermahnung, bei seinem Satz, Quatsch sei es und Quatsch bleibe es, ob Minister oder nicht, ganz egal!

Oh, wie änderte sich da die Welt für Max Harteisen! Keine morgendlichen Erkundigungen mehr nach der Güte seines Schlafes, keine Pralinen, keine Blumen, keine Besuche bei Herrn Doktor Goebbels mehr, auch nichts mehr von Belehrungen über den richtigen Nationalsozialismus! Ach, das wäre alles noch zu ertragen gewesen, ja, vielleicht war es sogar erwünscht, aber plötzlich gab es für den Harteisen auch keine Engagements mehr, schon fest abgeschlossene Filmverträge zerplatzten, Gastspiele zerrannen in nichts, es gab nichts mehr zu tun für den Schauspieler Harteisen.

Da Harteisen ein Mann war, der seinen Beruf nicht nur des Geldverdienens halber schätzte, sondern da er ein wirklicher Schauspieler war, dessen Leben seine Höhepunkte auf der Bühne, vor der Kamera finden mußte, so war er über diese erzwungene Untätigkeit ganz verzweifelt. Er konnte und wollte es nicht glauben, daß der Minister, der anderthalb Jahre lang sein bester Freund gewesen war, nun zu einem so bedenkenlosen, ja gemeinen Feind geworden war, daß er die Macht seiner Stellung dazu benutzte, wegen eines Widerspruches einem andern alle Lebensfreude zu nehmen. (Er hatte im Jahre 1940 noch immer nicht begriffen, der gute Harteisen, daß jeder Nazi zu jeder Zeit bereit war, jedem Deutschen, der eine von seiner abweichende Meinung hatte, nicht nur alle Lebensfreude, sondern auch das Leben selbst zu nehmen.)

Aber wie die Zeit dahinging und keinerlei Arbeitsmöglichkeit auftauchte, mußte Max Harteisen schließlich daran glauben. Freunde berichteten ihm, daß der Minister auf einer Filmkonferenz erklärt hatte, der Führer wolle diesen Schauspieler nie wieder im Rock eines Offiziers auf der Leinwand sehen. Nicht viel später hieß es schon, der Führer wolle diesen Schauspieler überhaupt nicht mehr sehen, und dann wurde ganz offiziell erklärt, der Schauspieler Harteisen sei »unerwünscht«. Aus, zu Ende, mein Lieber, mit sechsunddreißig Jahren auf die Schwarze Liste gesetzt – für ein ganzes Tausendjähriges Reich!

Jetzt hatte der Schauspieler Harteisen wirklich Butter auf dem Kopf! Aber er ließ nicht nach, er bohrte und fragte, er wollte um jeden Preis erfahren, ob diese vernichtenden Urteile wirklich vom Führer ausgingen, oder ob sie sich der kleine Mann nur ausgedacht hatte, um einen Feind zu erledigen. Und an diesem Montag war Harteisen nun völlig siegesgewiß zu seinem Anwalt Toll gestürzt und hatte gerufen: »Ich hab's! Ich hab's, Erwin! Der Schurke hat gelogen. Der Führer hat den Film, in dem ich den preußischen Offizier spiele, überhaupt nicht gesehen, und er hat nie ein Wort gegen mich geäußert.«

Und er berichtete eifrig, daß diese Nachricht ganz gewiß sei, denn sie stamme von Göring selbst. Eine Freundin seiner Frau habe eine Tante, und deren Kusine sei zu Görings nach Karinhall eingeladen gewesen. Da habe sie den Fall zur Sprache gebracht, und Göring habe sich wie berichtet geäußert.

Der Anwalt sah den Aufgeregten ein wenig spöttisch an. »Nun, Max, und was ist dadurch geändert?«

Der Schauspieler murmelte ganz verdutzt: »Aber dieser Goebbels hat doch gelogen, Erwin!«

»Und? Hast du je geglaubt, alles, was Hinkebeinchen sagt, sei wahr?«

»Nein, das natürlich nicht. Aber wenn man den Fall vor den Führer bringt ... Er hat doch den Namen des Führers mißbraucht!«

»Ja, und weil er das getan hat, wird der Führer einen alten Parteigenossen und Propami rausschmeißen, bloß weil er dem Harteisen Kummer gemacht hat!«

Der Schauspieler sah den überlegenen, spöttischen Anwalt hilfeflehend an. »Aber es muß doch was geschehen in meiner Sache, Erwin!« sagte er. »Ich will doch arbeiten! Und der Goebbels hindert mich zu Unrecht daran!«

»Ja«, sagte der Anwalt. »Ja!« Und schwieg wieder. Als aber Harteisen ihn so erwartungsvoll ansah, fuhr er fort: »Du bist ein Kind, Max, ein richtiges, groß gewordenes Kind!«

Der Schauspieler, der stets viel von seiner Weltläufigkeit gehalten hatte, warf unmutig den Kopf zurück.

»Wir sind ja hier unter uns, Max«, fuhr der Anwalt fort, »diese Tür ist gut gepolstert, wir können also offen miteinander sprechen. Du wußtest doch auch, wenigstens ein ganz klein bißchen, wieviel schreiendes, blutiges, herzzerreißendes Unrecht heute in Deutschland geschieht – und kein Hahn kräht danach. Im Gegenteil, sie rühmen sich noch laut ihrer Schande. Aber weil der Schauspieler Harteisen ein ganz kleines Wehwehchen hat, entdeckt er plötzlich, daß Unrecht in der Welt geschieht, und schreit nach Gerechtigkeit, Max!«

Harteisen sagte niedergedrückt: »Aber was soll ich denn tun, Erwin? Es muß doch etwas geschehen!«

»Was du tun sollst? Nun, das ist doch ganz klar! Du ziehst dich mit deiner Frau an einen hübschen Ort auf dem Lande zurück und hältst dich fein stille. Vor allem hörst du mit diesem unsinnigen Gerede über ›deinen‹ Minister auf und unterläßt die Verbreitung des Göring-Interviews. Sonst kann es geschehen, daß dir der Minister noch etwas ganz anderes antut.«

»Aber wie lange soll ich denn da tatenlos auf dem Lande sitzen?«

»Die Launen eines Ministers kommen und gehen. Sie gehen auch, Max, sei sicher. Eines Tages wirst du wieder in Glanz und floribus sein.«

Der Schauspieler schauderte. »Nicht das!« bat er. »Nur nicht das!« Er stand auf. »Und du meinst wirklich nicht, daß du in meiner Sache etwas tun kannst?«

»Nicht das geringste!« meinte der Anwalt lächelnd. »Es sei denn, du hättest den Wunsch, als Märtyrer für deinen Minister ins KZ zu gehen.«

Drei Minuten darauf stand der Schauspieler Max Harteisen im Treppenhaus des Bürogebäudes und hielt verwirrt eine Karte in der Hand: »Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet ...«

Um des Himmels willen! dachte er. Welcher Mensch schreibt denn so was? Er muß wahnsinnig sein! Er schreibt sich ja um seinen Kopf! Unwillkürlich drehte er die Karte um. Aber dort stand kein Absender oder Empfänger, sondern: »Gebt diese Karte weiter, daß viele sie lesen! – Stiftet nichts für das Winterhilfswerk! – Arbeitet langsam, noch langsamer! Tut Sand in die Maschinen! Jeder Handschlag weniger getan hilft diesen Krieg früher beenden!«

Der Schauspieler sah hoch. Lichterglänzend fuhr der Fahrstuhl an ihm vorbei. Er hatte das Gefühl, daß viele Augen auf ihn sahen.

Rasch steckte er die Karte in die Tasche, und rascher noch riß er sie wieder hervor. Er wollte sie schon auf die Fensterbank zurücklegen – und Bedenken überkamen ihn. Vielleicht hatten ihn die vom Fahrstuhl aus hier stehen sehen, die Karte in der Hand – und sein Gesicht kannten viele. Die Karte wurde gefunden, es fanden sich welche, die beeideten, er habe sie hingelegt. Er hatte sie ja wirklich hingelegt, wieder hingelegt, hieß das.

Aber wer würde ihm glauben, grade jetzt, wo er diesen Streit mit dem Minister hatte? Er hatte so viel Butter auf dem Kopfe, und nun dies noch!

Schweiß trat auf seine Stirn, plötzlich begriff er, daß nicht nur der Kartenschreiber, daß auch er in naher Lebensgefahr war, er vielleicht am meisten. Seine Hand zuckte; er wollte die Karte hinlegen, er wollte sie doch lieber fortnehmen, er wollte sie zerreißen, hier an Ort und Stelle ... Aber vielleicht stand einer oben auf der Treppe und beobachtete ihn? Er hatte in den letzten Tagen schon ein paarmal das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, er hatte es für Nervosität gehalten, wegen dieser Gehässigkeit von Minister Goebbels ...

Und vielleicht war das Ganze eine Falle dieses Mannes, für ihn zurechtgebaut, daß er sich ganz gründlich fing? Um aller Welt zu beweisen, wie recht der Minister mit der Beurteilung des Schauspielers Harteisen hatte? O Gott, er war ja schon wahnsinnig, er sah Gespenster! Das tat doch ein Minister nicht! Oder tat er grade das?

Aber er konnte hier nicht ewig stehenbleiben. Er mußte sich entschließen; er hatte jetzt keine Zeit, an Goebbels zu denken, er mußte nur an sich denken!

Er stürmt die halbe Treppe wieder hinauf, niemand steht dort und beobachtet ihn. Aber er klingelt schon beim Rechtsanwalt Toll. Er stürmt an der Vorzimmerdame vorbei, er knallt die Karte auf den Tisch des Anwalts, er ruft: »Da! Was ich hier eben im Treppenhaus gefunden habe!«

Der Anwalt wirft nur einen kurzen Blick auf die Karte. Dann steht er auf und schließt sorgfältig die Doppeltür seines Büros, die der Aufgeregte offengelassen hat. Er kehrt zu seinem Schreibtischplatz zurück. Er nimmt die Karte wieder auf und liest sie lange und sorgfältig, während Harteisen auf und ab läuft und ungeduldig Blicke auf ihn wirft.

Jetzt läßt Toll die Karte sinken und fragt: »Wo, sagtest du, hast du die Karte gefunden?«

»Hier auf der Treppe, eine halbe Treppe tiefer.«

»Auf der Treppe! Auf den Stufen also?«

»Sei nicht so wortklauberisch, Erwin! Nein, nicht auf den Stufen, sondern auf der Fensterbank!«

»Und darf ich dich fragen, warum du mir dieses reizende Angebinde auf mein Büro schleppen mußtest?«

Die Stimme des Anwalts klingt schärfer, der Schauspieler sagt bittend: »Aber was sollte ich denn tun? Die Karte lag da, ich habe sie ganz gedankenlos aufgenommen.«

»Und warum hast du sie nicht zurückgelegt? Das wäre doch das Selbstverständlichste gewesen!«

»Ein Fahrstuhl fuhr an mir vorbei, während ich las. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Mein Gesicht ist so bekannt!«

»Noch besser!« sagte der Anwalt bitter. »Und dann bist du vermutlich mit dieser Karte offen in der Hand zu mir gelaufen?« Der Schauspieler nickte düster. »Nein, mein Freund«, sagte Toll entschlossen und hielt ihm die Karte wieder hin, »bitte, nimm sie wieder. Ich will damit nichts zu schaffen haben. Wohlgemerkt, du kannst dich nicht auf mich berufen. Ich habe diese Karte nie gesehen. Nimm sie doch endlich wieder!«

Harteisen starrte den Freund mit blassem Gesicht an. »Ich denke«, sagte er dann, »du bist nicht nur mein Freund, du bist auch mein Anwalt, du nimmst meine Interessen wahr!«

»Nicht dies, oder sagen wir besser: nicht mehr. Du bist ein Unglückshuhn, du hast ein unglaubliches Talent, in die schlimmsten Geschichten zu tappen. Du wirst auch andere ins Unglück reißen. Also nimm endlich deine Karte zurück!«

Er bot sie ihm wieder an.

Aber Harteisen stand noch immer da, mit weißem Gesicht, die Hände in die Taschen gebohrt.

Nach einem langen Schweigen sagte er leise: »Ich traue mich nicht. Ich habe in den letzten Tagen schon mehrfach das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Tu mir den Gefallen und zerreiß die Karte. Wirf sie unter das andere Zeug in deinem Papierkorb!«

»Zu gefährlich, mein Lieber! Der Bürobote oder eine schnüffelnde Reinmachefrau, und ich säße drin!«

»Verbrenne sie!«

»Du vergißt, daß wir hier Zentralheizung haben!«

»Nimm ein Streichholz, verbrenne sie über deinem Aschenbecher. Niemand würde es wissen.«

»Du würdest es wissen.«

Mit blassen Gesichtern starrten sie sich an. Sie waren alte Freunde, schon aus der Schulzeit, aber nun war die Angst zwischen sie gekommen, und die Angst hatte das Mißtrauen mit sich gebracht. Sie sahen einander stumm an.

Er ist ein Schauspieler, dachte der Anwalt. Vielleicht hat er mir hier was vorgespielt, will mich hineinreißen. Kommt im Auftrag, meine Zuverlässigkeit auf die Probe zu stellen. Neulich, bei dieser unglückseligen Verteidigung vor dem Volksgerichtshof, bin ich mit knapper Not noch durchgekommen. Aber seitdem wird mir mißtraut ...

Inwiefern ist Erwin eigentlich mein Anwalt? dachte unterdes finster der Schauspieler. In der Sache mit dem Minister will er mir nicht helfen, und jetzt will er sogar gegen die Wahrheit aussagen, er hätte die Karte nie gesehen. Er nimmt nicht meine Interessen wahr. Er handelt gegen mich. Wer weiß, ob nicht diese Karte – überall hört man von Fallen, die den Leuten gestellt werden. Aber Unsinn, er ist immer mein Freund gewesen, ein zuverlässiger Mensch ...

Und beide besannen sich, beide sahen sich an, beide fingen an zu lächeln.

»Wir sind wahnsinnig gewesen, wir haben einander mißtraut!«

»Wir, die wir uns über zwanzig Jahre kennen!«

»Die ganze Penne miteinander!«

»Ja, wir haben es herrlich weit gebracht!«

»Wie stehen wir da? Der Sohn verrät die Mutter, die Schwester den Bruder, der Freund die Freundin ...«

»Aber wir uns nicht!«

»Wir wollen überlegen, was am besten mit dieser Karte geschieht. Es wäre wirklich unvernünftig, wenn du mit ihr in der Tasche auf die Straße gingest, da du dich beobachtet fühlst.«

»Es kann reine Nervosität gewesen sein. Gib mir die Karte, ich schaffe sie schon irgendwie fort!«

»Du mit deinem unheilvollen Hang zu Unbesonnenheiten! Nein, die Karte bleibt hier!«

»Du hast Frau und zwei Kinder, Erwin. Dein Büropersonal ist vielleicht auch nicht durchweg zuverlässig. Wer ist denn heute noch zuverlässig? Gib mir die Karte. Ich rufe dich in einer Viertelstunde an und melde dir, daß sie fort ist.«

»Um Gottes willen! Das bist wieder einmal du, Max. Wegen so etwas ein Telefongespräch führen! Warum rufst du nicht gleich Himmler an? Das geht dann doch schneller!«

Und wieder sehen sie sich an, ein wenig getröstet, daß sie noch nicht ganz allein sind, daß sie doch noch einen zuverlässigen Freund besitzen.

Plötzlich schlägt der Anwalt zornig auf die Karte. »Was dieser Idiot sich wohl gedacht hat, als er dieses Ding schrieb und hier ins Treppenhaus legte! Andere Leute aufs Schafott bringen!«

»Und wegen was? Was schreibt er eigentlich? Nichts, was jeder von uns nicht schon weiß! Es muß ein Wahnsinniger sein!«

»Dieses ganze Volk ist ein Volk von Wahnsinnigen geworden, einer steckt den andern an!«

»Wenn man diesen Kerl erwischte, der andere in solche Schwierigkeiten bringt! Ich würde mich direkt freuen ...«

»Ach, laß doch! Du würdest dich bestimmt nicht freuen, wenn noch einer mehr sterben würde. Aber wie kommen wir aus diesen Schwierigkeiten heraus?«

Der Anwalt sah nachdenklich wieder auf die Karte. Dann griff er zum Telefon. »Wir haben hier irgend so einen Politischen Leiter im Hause«, sagte er erklärend zum Freund. »Ich werde ihm die Karte offiziell übergeben, den Sachverhalt schildern, wie er tatsächlich war, im übrigen aber der Sache keine große Wichtigkeit beimessen. Du bist deiner Aussage sicher?«

»Völlig.«

»Und deiner Nerven?«

»Ganz gewiß, mein Lieber. Auf der Bühne habe ich noch nie Lampenfieber gehabt. Vorher immer! Was für eine Art Mann ist dieser Politische Leiter?«

»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht, ihn je gesehen zu haben. Wahrscheinlich irgend so ein kleiner Bonze. Jedenfalls rufe ich ihn jetzt an.«

Aber das Männlein, das kam, sah nicht sehr nach Bonze aus, eher nach einem Fuchs, der sich aber sehr geschmeichelt fühlte, als er den berühmten Schauspieler kennenlernte, den er so oft schon im Film gesehen. Und aus dem Stegreif nannte er sechs Filme; in keinem davon hatte der Schauspieler je mitgespielt. Max Harteisen bewunderte das Gedächtnis des Männleins, dann gingen sie zum geschäftlichen Teil des Besuches über.

Das Füchslein las die Karte, und seinem Gesicht war nicht abzulesen, was der Mann dabei empfand. Es war nur schlau. Dann hörte er den Bericht von dem Auffinden der Karte, der Ablieferung hier auf dem Büro.

»Sehr gut. Sehr korrekt!« lobte der Leiter. »Und wann war das etwa?«

Einen Augenblick stutzte der Anwalt, warf einen raschen Blick auf den Freund. Besser nicht lügen, dachte er. Sie haben ihn mit der Karte in der Hand sehr erregt hereinkommen sehen.

»Vor einer guten halben Stunde«, meinte der Anwalt.

Das Männlein zog die Augenbrauen hoch. »So lange?« fragte er mit leisem Erstaunen.

»Wir hatten noch anderes zu besprechen«, erklärte der Anwalt. »Wir legten der Sache keine große Wichtigkeit bei. Oder ist sie wichtig?«

»Wichtig ist alles. Wichtig wäre es gewesen, diesen Burschen, der die Karte niederlegte, zu fangen. Aber jetzt nach einer halben Stunde ist es natürlich dafür viel zu spät.«

Jedes seiner Worte klang von einem leichten Vorwurf gegen dieses »Zu spät« wider.

»Ich bedaure diese Verspätung«, sagte der Schauspieler Harteisen tönend. »Sie entstand durch meine Schuld. Ich nahm meine Angelegenheit wichtiger als dieses – Geschmier!«

»Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte der Anwalt.

Das Füchslein lächelte beschwichtigend. »Nun, meine Herren, was zu spät ist, bleibt zu spät. Es freut mich jedenfalls, daß ich auf diese Weise den Vorzug genossen habe, Herrn Harteisen persönlich kennenzulernen. Heil Hitler!«

Sehr stark, aufspringend: »Heil Hitler!«

Und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sahen sich die beiden Freunde an.

»Gott sei Dank, wir sind diese unselige Karte los!«

»Und er hat keinen Verdacht auf uns!«

»Nicht wegen der Karte! Daß wir aber zwischen Ablieferung und Nichtablieferung geschwankt haben, das hat er sehr wohl begriffen.«

»Glaubst du, daß noch etwas nach der Sache kommt?«

»Nein, eigentlich nicht. Im schlimmsten Falle eine belanglose Vernehmung, wo und wann und wie du die Karte gefunden hast. Und da gibt es ja nichts zu verheimlichen.«

»Weißt du, Erwin, im Grunde bin ich jetzt ganz froh, aus dieser Stadt eine Weile herauszukommen.«

»Siehst du!«

»Man wird schlecht in dieser Stadt!«

»Man wird es! Man ist es schon! Und das kräftig!«

Unterdes war das Füchslein auf seine Ortsgruppe gefahren. Ein Braunhemd hielt jetzt die Karte in der Hand.

»Das geht nur die Gestapo an«, sagte das Braunhemd. »Du fährst am besten selbst damit hin, Heinz. Warte, ich gebe dir ein paar Zeilen mit. Und die beiden Herren?«

»Völlig außer Frage! Natürlich, politisch zuverlässig sind sie beide nicht. Ich sage dir, sie haben Blut und Wasser geschwitzt, als sie mit der Karte anfangen mußten.«

»Der Harteisen soll bei Minister Goebbels in Ungnade sein«, meinte das Braunhemd nachdenklich.

»Trotzdem!« sagte das Füchslein. »Er würde so was nie wagen. Hat viel zuviel Angst. Ich habe ihm ins Gesicht sechs Filme genannt, in denen er nie aufgetreten ist, und habe seine Meisterleistung bewundert. Er hat eine Verbeugung nach der andern gemacht und gestrahlt vor Dankbarkeit. Dabei habe ich direkt gerochen, wie er vor Angst geschwitzt hat!«

»Alle haben sie Angst!« entschied das Braunhemd verächtlich. »Warum eigentlich? Es ist ihnen doch so leicht gemacht, sie brauchen nur zu tun, was wir ihnen sagen.«

»Das ist, weil die Leute das Denken nicht lassen können. Sie glauben immer, mit Denken kommen sie weiter.«

»Sie sollen bloß gehorchen. Das Denken besorgt der Führer.«

Das Braunhemd tippte auf die Karte: »Und der hier? Was meinst du zu dem, Heinz?«

»Was soll ich dazu sagen? Wahrscheinlich hat er wirklich den Sohn verloren ...«

»I wo! Die so was schreiben und tun, das sind immer bloß Hetzer. Die wollen was für sich erreichen. Söhne und ganz Deutschland, das ist ihnen alles ganz egal. Irgend so ein alter Sozi oder Kommunist ...«

»Glaube ich nicht. Glaube ich nie und nimmer im Leben. Die können doch von ihren Phrasen nicht lassen, Faschismus und Reaktion und Solidarität und Prolet – aber von all diesen Schlagworten steht nicht eins auf der Karte. I wo, was ein Sozi ist oder ein Kommunist, das rieche ich auf zehn Kilometer gegen den Wind!«

»Und ich glaub's doch! Die haben sich jetzt alle getarnt ...«

Aber die Herren auf der Gestapo waren auch nicht der Meinung des Braunhemdes. Übrigens wurde der Bericht des Füchsleins dort mit heiterer Ruhe aufgenommen. Dort war man immerhin schon andere Dinge gewohnt.

»Na ja«, sagten sie. »Schön und gut. Werden ja sehen. Wenn Sie sich vielleicht noch zu Kommissar Escherich bemühen wollen, wir verständigen ihn telefonisch, der wird die Sache bearbeiten. Geben Sie ihm noch einmal genauen Bericht, wie sich die beiden Herren verhielten. Natürlich geschieht im Augenblick nichts gegen sie, nur als Material für etwaige spätere Fälle kann so was nützlich sein, Sie verstehen doch ...?«

Kommissar Escherich, ein langer, schlenkriger Mann mit einem losen, sandfarbenen Schnurrbart, in einem hellgrauen Anzug – alles an diesem Menschen war so farblos, daß man ihn gut für eine Ausgeburt des Aktenstaubes halten konnte –, also, Kommissar Escherich drehte die Karte zwischen den Händen hin und her.

»Eine neue Platte«, meinte er dann. »Die habe ich noch nicht in meiner Sammlung. Schwere Hand, hat nicht viel geschrieben in seinem Leben, immer mit der Hand gearbeitet.«

»Ein Kapediste?« fragte das Füchslein.

Der Kommissar Escherich kicherte: »Machen Sie doch keine Witze, Herr! So was und ein Kapediste! Sehen Sie, wenn wir eine richtige Polizei hätten und die Sache wäre es wert, so wäre der Schreiber da in vierundzwanzig Stunden hinter Schloß und Riegel.«

»Und wie würden Sie das machen?«

»Das ist doch ganz einfach! Ich ließe überall in Berlin recherchieren, wem in den letzten zwei, drei Wochen ein Sohn gefallen ist, ein einziger Sohn wohlgemerkt, denn der Schreiber hat nur einen Sohn gehabt!«

»Woran sehen Sie denn das?«

»Das ist doch ganz einfach! Im ersten Satz, wo er von sich spricht, sagt er so. Im zweiten, bei den andern, spricht er von Söhnen. Na, und auf die das dann zutrifft mit den Recherchen – es können gar nicht so viel sein in Berlin –, auf die hätte ich dann mein Augenmerk, und schon säße der Schreiber drin!«

»Aber warum tun Sie's nicht?«

»Ich hab's Ihnen doch schon gesagt, weil wir den Apparat dazu nicht haben, und weil's die Sache nicht wert ist. Sehen Sie, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder schreibt er noch zwei, drei Karten, und dann hat er's über. Weil's ihm zuviel Mühe macht oder weil das Risiko ihm zu groß ist. Dann hat er nicht viel Schaden angerichtet, man hat aber auch nicht viel Arbeit von ihm gehabt.«

»Glauben Sie denn, daß hier alle Karten abgegeben werden?«

»Alle nicht, aber die meisten doch. Das deutsche Volk ist schon recht zuverlässig ...«

»Weil sie alle Angst haben!«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich glaube zum Beispiel nicht, daß dieser Mann«, er klopfte mit dem Knöchel auf die Karte, »daß dieser Mann Angst hat. Sondern ich glaube, es tritt die zweite Möglichkeit ein: der Mann wird immer weiterschreiben. Laß ihn, je mehr er schreibt, um so mehr verrät er sich. Jetzt hat er nur ein kleines bißchen von sich verraten, nämlich, daß er einen Sohn verloren hat. Aber mit jeder Karte wird er mir ein bißchen mehr von sich verraten. Ich brauche gar nicht viel dazu zu tun. Ich brauche nur hier zu sitzen, ein bißchen aufzupassen und – schnapp! – habe ich ihn! Wir hier auf unserer Abteilung brauchen nur Geduld zu haben. Manchmal dauert es ein Jahr, manchmal noch mehr, aber schließlich kriegen wir unsere Leute alle. Oder fast alle.«

»Und was dann?«

Der Staubfarbige hatte einen Stadtplan von Berlin vorgeholt und an der Wand festgemacht. Nun steckte er ein rotes Fähnchen ein, genau dort, wo das Bürohaus in der Neuen Königstraße stand. »Sehen Sie, das ist alles, was ich im Augenblick tun kann. Aber in den nächsten Wochen werden immer mehr Fähnchen dazukommen, und dort, wo sie am dicksten sitzen, da steckt mein Klabautermann. Weil er nämlich mit der Zeit abstumpft, und weil es ihm den weiten Weg nicht mehr lohnt wegen einer Karte. Sehen Sie, an diese Karte denkt der Klabautermann nicht. Und ist doch so einfach! Und schnapp mache ich noch einmal und habe ihn auch so fest!«

»Und was dann?« fragte das Füchslein, von einer lüsternen Neugier angetrieben.

Kommissar Escherich sah ihn ein bißchen spöttisch an. »Hören Sie's so gerne? Na, ich tu Ihnen den Gefallen: Volksgerichtshof und weg mit der Rübe! Was geht das mich an? Was zwingt den Kerl, so 'ne blöde Karte zu schreiben, die kein Mensch liest und kein Mensch lesen will! Nee, das geht mich nichts an. Ich bezieh mein Gehalt, und ob ich dafür Marken verkaufe oder Fähnchen einpieke, das ist mir ganz egal. Aber ich werde an Sie denken, ich werde nicht vergessen, daß Sie mir die erste Meldung gebracht haben, und wenn ich den Kerl gefaßt habe, und es ist soweit, so schicke ich Ihnen eine Einladungskarte für die Hinrichtung.«

»Nee, danke wirklich. So war das nicht gemeint!«

»Natürlich war es so gemeint. Warum genieren Sie sich denn vor mir?! Vor mir braucht sich kein Mensch zu genieren, ich weiß, was mit den Menschen los ist! Wenn wir hier das nicht wüßten, wer soll's denn sonst wissen? Nicht mal der liebe Gott! Also, abgemacht, ich schicke Ihnen eine Karte zur Hinrichtung. Heil Hitler!«

»Heil Hitler! Und vergessen Sie es auch nicht!«


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