Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Alexanderschlacht

»Noske hatte inzwischen eine Truppe auf die Beine gebracht, von der angenommen werden durfte, daß sie einigermaßen zuverlässig sei... Die Truppe wirkte Wunder: Zwar tobten Liebknecht und Rosa Luxemburg...« Nun, ein paar Tage später tobten die beiden nicht mehr, denn Noskes Truppen hatten sich über die Maßen zuverlässig erwiesen, und Philipp Scheidemann, dessen Memoiren die obige Stelle entnommen ist, vermerkt: »Ich war auf das tiefste erschüttert.« Das ist das mindeste, was man verlangen kann, Herr Scheidemann hat damit der Pietät genüge getan und kommt nicht weiter auf den Fall zu sprechen. Doch ist er sehr mit sich zufrieden, als er am Tag darauf von Kassel kommend in Berlin eintrifft. Der menschenleere Potsdamer Bahnhof war abgesperrt, beschäftigungslos stehen die Bahnbeamten und Gepäckträger: »Die waren nicht wenig erstaunt, als ich mit meinem kleinen Täschchen in der Hand allein den Bahnhof verließ und mich zu Fuß nach der Wilhelmstraße begab.« Und er mag sich dabei vorgekommen sein wie Robert Blum.

Dabei ist Philipp Scheidemann von der sozialistischen Führergeneration von 1910 noch immer der Lebendigste und Instinktsicherste gewesen. Wenn er nicht in einem seltsamen welthistorischen Impromptu die deutsche Republik ausgerufen hätte, so würde der loyale, gesetzestreue Friedrich Ebert kurz danach seelenruhig die erste Proklamation der Reichsverweser für Wilhelm III. verlesen haben, und der spätere Heilige der Republik wäre nicht nur vom ›Vorwärts‹, sondern auch von der ›Kreuzzeitung‹ canonisiert worden. Aber Philipp Scheidemann erkennt nicht, daß dieser 15. Januar 1919, an dem Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von ein paar Landsknechten gemeuchelt wurden, ein schwarzer Tag der deutschen Arbeitsbewegung war, von dessen Folgen sie sich bis heute noch nicht erholt hat. Dieses Blut ist über Alle gekommen, dieser Schragen, auf dem die zwei Opfer der Ordnung lagen, steht seitdem als Barriere mitten in der deutschen Arbeiterschaft. Heute noch, nach zehn Jahren, blitzt, funkelt der Haß dieses Unglückstages in den Augen von Sozialdemokraten und Kommunisten, wo sie sich treffen. Es war eine wilde Zeit damals, und es ist inzwischen viel vergessen, manches auch ohne laute Worte verziehen worden. Die Bluttat vom Edenhotel nicht.

Die sozialdemokratische Presse schiebt das Thema auf ein falsches Gleis, wenn sie, wie sie jetzt gern tut, Rosa Luxemburg gegen die Thälmannkommunisten ausspielt. Gewiß, dieses Genie der Aufrichtigkeit hätte zu einer Wandlung, die den Sozialismus schließlich nur noch auf die Tscheka stützte, ebenso wenig geschwiegen wie etwa Angelica Balabanoff. Wahrscheinlich wäre auch sie von einer der vielen Zentralen an die Luft gesetzt und ihre Lehre als unleninistisch und unmarxistisch verdammt worden. Was zum alten Spartacusbund gehörte, ist ja in diesen Jahren entweder die rechte oder die linke Treppe hinuntergeworfen worden, um einer Führergarnitur Platz zu machen, die mit der natürlichen Auffassungsgabe eines Papageien das in Moskau Vorgesprochene nachplappert. Aber die Torheiten der Kommunisten machen die Politik der offiziellen Sozialdemokratie nicht schmackhafter, sondern verstärken nur das Gefühl der Heimatlosigkeit, das die Besten der deutschen Linken so oft befällt. Über den Gräbern der beiden Märtyrer des 15. Januar schwebt ein melancholisches Fragezeichen. Wofür? Wofür?

Die Wertung Rosa Luxemburgs hat sich in diesen zehn Jahren sehr gewandelt. Sah man damals in ihr eine hysterische Petroleuse, so ist heute mindestens das bürgerliche Republikanertum geneigt, ihr in höherm Maße Gerechtigkeit widerfahren zu lassen als ihre einstigen sozialistischen Genossen, die in ihr immer nur einen krakehlenden Störenfried, einen gehässig zuschnappenden Hecht gesehen haben. Ja, der zarte Lyrismus ihrer Briefe und Tagebücher gestattet schon eine – gottseidank – rein ästhetische Würdigung. Das ist der sicherste Beweis dafür, wie weit wir uns von der Revolutionsstimmung entfernt haben, als wie sicher konsolidiert das Juste milieu schon empfunden wird. Der Krater der Revolution ist ausgebrannt. Wenn Rosa Luxemburg wieder aus Grabesdunkel aufsteigt, wird die ästhetische Würdigung zu Ende sein und die Tote so gehaßt werden wie sie zu Lebzeiten gehaßt wurde, und, wie damals, werden sich Freiwillige finden, sie ein zweites Mal zu morden.

*

»Diktatur des Proletariats« – das war der Schlachtruf, um den es vor zehn Jahren ging. Blicken wir heute zurück, so wissen wir, daß dieses so unerbittlich klingende, aus der Hausapotheke des populären Marxismus geholte Wort damals kaum mehr war als eine Sammelparole für alle, die begriffen hatten oder nur fühlten, daß die Taktik Ebert-Noske mit untrüglicher Sicherheit eben gestürzte Personen und Kasten wieder nach oben bringen müsse. Erst den Kommunisten der nachspartacidischen Jahre blieb es vorbehalten, diese Parole mit einer neuen patentiert orthodoxen Füllung erst langweilig, dann komisch zu machen. Was in Rußland geklappt und durch ein paar gräßliche Krisenjahre geholfen hat, braucht nicht in anderm politischen Klima praktikabel zu sein. Heute wird der Sozialist vollends das Wort Diktatur nicht gern unnützlich führen, wo auch die andre Seite wiederholt gezeigt hat, daß sie von dem verpönten Bolschewismus immerhin etwas zu akzeptieren geruhte. Heute zerbricht man sich nirgends mehr den Kopf über Endziele, sondern man ist im allgemeinen recht zufrieden, wenn es nur gelingt, wenigstens die ärgsten Anschläge auf demokratische Garantien abzuwehren. Es ist eine sehr unbehagliche Partie, die augenblicklich in den meisten europäischen Ländern mit wechselnden Einsätzen durchgeführt wird, und bald hört man von dem einen, bald vom andern Tisch die fatale Stimme des Croupiers: Rouge perd!

Als die Bürger von Belgrad am Sonntag vor acht Tagen aufwachten, fanden sie ihr Parlamentsgebäude versiegelt; Soldaten patrouillierten auf und ab, und die Offiziere ließen optimistisch den Degen klirren. Ein öffentlicher Anschlag klärte darüber auf, daß die Verfassung kassiert sei, die Volksvertretung auch, die Zensur installiert, das Parteiwesen verboten und daß König Alexander jetzt alles alleine mache. Es ist eine feste, randgenähte Diktatur, mit den königlichen Initialen geziert. Die unumgänglich notwendige Kärrnerarbeit wird von ein paar Zivilfritzen pflichtgemäß erledigt, während das, was zur höhern Schule gehört, von den Herren Gardeoffizieren geritten wird, die, wie historisch nachweisbar, der gegenwärtigen Dynastie schon ein Mal gefällig gewesen sind. Das Entzücken bei Hugenberg ist durchaus echt, echter als die Toleranz mancher liberalen Blätter, die König Alexander gut zureden, doch ja das Hängeschloß wieder von der Parlamentstür zu nehmen, wenn er finden sollte, daß sein Volk die Reifeprüfung bestanden.

Es ist nicht empfehlend für das demokratische Prinzip, daß ihm wieder ein Staat abhanden gekommen ist, der achte nun in Europa. Süden und Südosten Europas wird jetzt ausschließlich von Despotien bevölkert. Horthy verbindet sie mit Zentraleuropa, mit Seipel, mit unsern Reaktionären. Man fragt sich, wo der nächste Schlag fallen wird. Die Demokratie hat eine schlechte Zeit. Aber auch der Feind dieser weißen Diktaturen kann nicht umhin, zuzugeben, daß das Schicksal der jugoslavischen Demokratie zwar hart ist, jedoch nicht ungerecht. Der belgrader Parlamentarismus war von mühelos überzeugender Nichtsnutzigkeit, ganz ohne politischen Fundus, die Geschäftemacherei von Sippen und Familiencliquen, unterbrochen von Nationalitätenrandal und Kabinettskrisen. Keine der entscheidenden Fragen ist ernsthaft behandelt worden. Die wichtigsten Gesetze modern in den Kommissionen. Von allen Sukzessionsstaaten hat dieser am meisten von der alten österreichischen Tradition abbekommen. Wenn man heute liest, mit welch feierlicher Betonung die serbische Dynastie zitiert und ihre Bedeutung als übergeordnete Instanz über einem Bündel höchst verschiedener Stämme und Zungen unterstrichen wird, so stellt sich mühelos die Erinnerung an die Habsburger ein, wie sie argwöhnisch vor ihrer Völkervolière saßen, aufpassend, daß sich nicht irgend ein Exemplar durch die Sprossen klemmte. Die Serben sind ein gutes und geduldiges Bauernvolk von hohen Qualitäten. Wie sehr staunten unsre Soldaten, als sie im Kriege das wirkliche Serbien sahen, das so wenig den dummdreisten Verzerrungen der schwarzgelben Presse entsprach. Aber die junge Bourgeoisie hat vage Träume von Allmacht; das Militär spielt eine übergroße Rolle, die begreiflich wird durch eine Vergangenheit voll von Konspirationen und Guerillaromantik. So hat sich schnell eine Herrenkaste herausgebildet, tyrannisch gegen die nichtserbischen Mitbewohner des Staates, sorglich bemüht, die Nachfolge der einst bis aufs Blut gehaßten magyarischen Magnaten anzutreten, deren nationalpolitische Erkenntnis und Methode bekanntlich im Stiefelabsatz steckte. Was großserbische Willkür in Mazedonien treibt, ist schlechthin abscheulich, doppelt verwerflich bei Angehörigen einer jungen Nation, die selbst ein paar Jahrhunderte am Katzentisch gesessen hat und deren Chronik nicht nur viel Heroismus der Tat zeigt, sondern auch des Duldens und Ertragens. Die letzten Jahre brachten bitterböse Versuche zur Mazedonisierung Kroatiens. Dennoch wäre es nicht so bald zur äußersten Zuspitzung gekommen, wenn nicht im vergangenen Sommer ein ins Parlament verschlagener montenegrinischer Ehrhardt den angebeteten Kroatenführer Raditsch durch ein paar Revolverschüsse zu Tode verwundet hätte. Seitdem ist die Krise permanent, sie hätte, seit die Kroaten das Parlament boykottierten und Versöhnungsversuche scheiterten, kurz oder lang mit der Unabhängigkeitserklärung Agrams enden müssen. Die Diktatur ist ein verzweifelter Versuch, den heutigen Bestand des Staates zu erhalten.

Die Frage ist: großserbischer Zentralismus oder Föderativstaat? Die Kroaten fühlen ganz mediterran, sie sind ein kleines, hochzivilisiertes Volk und Altserbien, dessen Ehrgeiz nach dem Balkan zielt, um ein rundes Jahrhundert voraus. Wie können diese Gegensätze mit einem den Habsburgern abgeguckten Schematismus zum Ausgleich gebracht werden? Agrams Sprecher Matschek hat das gewiß geflügelt werdende Wort gebraucht von der falsch zugeknöpften Weste, die noch ein Mal aufgeknöpft werden muß. Der Verfassungsstaat hat seine Aufgaben nicht lösen können, sie nicht einmal begriffen, die Diktatur arbeitet mit keinen günstigeren Voraussetzungen, denn sie ruht auf der altserbischen Militärkaste, die nicht im Traum daran denkt, Prärogative preiszugeben. Diese Alexanderschlacht gegen die Demokratie hat nur einen verrotteten Parlamentarismus in die Flucht gejagt, der König mag im dynastischen Interesse klug gehandelt haben, daß er zur Aktion überging, ehe ihm die seit langem diktatursüchtigen Militärs einen Primo vor die Nase setzten, aber für die Therapie der Staatskrise ist damit gar nichts geschehen. An die Stelle eines verwahrlosten Zivilregiments wird jetzt eine robuste Generalswirtschaft treten, deren außenpolitische Gefahr darin besteht, daß sie sehr bald Mussolini und seinem Ahmet Zogu das ersehnte Stichwort geben kann.

Die wirkliche Tragik dieser Konflikte liegt darin, daß es für sie überhaupt keine Lösung gibt, so lange jeder Staat sich in erster Linie als selbstherrliche Machtorganisation betrachtet. Der Streit zwischen Serbien und Kroatien schreit nach einem überstaatlichen europäischen Schlichtungshof. Der Völkerbund darf sich in innere Angelegenheiten der Staaten nicht einmischen. Wenn auch ein Volk mit Galgen und Füsilladen in einem Staatsverband zurückgehalten wird, den es als Kerker empfindet – einerlei, der Völkerbund muß neutral bleiben. Ohne das grausame Dogma von der Souveränität der Staaten wäre die jugoslavische Krankheit nicht unbehandelbar. Heute ist sie fast hoffnungslos. Cujus regio, ejus natio! Das ist die verruchte Weisheit der neuen politischen Gegenreformation, der Staatsjesuiten von Heute.

Die Weltbühne, 15. Januar 1929


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