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In unserm Bücherschrank steht auch eine deutsche Literaturgeschichte, die Vilmar, Kurz, König, Scherer oder Engel heißt und vornehmlich zu Nachschlagezwecken dient. Denn abgesehen von Wilhelm Scherer, dessen kritische Stärke und stilistische Qualität ihn in eine sehr hohe Region heben, ladet keines der Bücher zum Verweilen ein. Fast alle legen nur leidvoll Zeugnis ab von der kurzen Geltungsdauer menschlichen Urteils und waren wohl schon bei Entstehung langweilig, überheblich, zelotisch, reaktionär. Die meisten der zahlreichen deutschen Literaturgeschichten erkennen Dichtern mit gefestigter evangelischer Lebensanschauung vor allen andern den Lorbeer zu. Bis dann der große Adolf Bartels kam und mit ihm der Rassetic, was die Misere nicht geringer machte. Der Ruhm der deutschen Literarhistorik liegt vor allem in der Spezialarbeit, in der Monographie.
Arthur Eloessers Werk »Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart«, (Bruno Cassirer Verlag), dessen erster Band – bis zu Goethes Tod reichend – jetzt erschienen ist, hat zunächst den großen Vorzug der Lesbarkeit. Die Diktion ist von einer heute kaum mehr gekannten Flüssigkeit, sie meidet die wissenschaftliche Gespreiztheit ebenso sicher wie die falsche Monumentalität, sie ist frei und leger, ohne in Feuilleton auszuarten. Eloesser ist seit langem ein sehr genauer Kenner der französischen Literatur und Liebhaber Molières, und diese frühe Neigung hat ihn für immer gesichert gegen Pedanterie und gegen den klotzigen Glauben an die Unstürzbarkeit eines kritischen Verdikts. Ihm liegt auch das alte philologische Vorurteil fern, daß die Produkte einer verschollenen Literaturepoche lesenswerter werden, weil jemand eine dicke Abhandlung darüber geschrieben hat. Der »zweitbeste Theaterkritiker Berlins«, wie ihn S.J. einmal genannt hat, ist ein Mann, der Literatur und Schaubühne von allen Seiten kennt und sich von feierlichen Traditionen ebenso wenig vormachen läßt wie von der hohlen Gestik Lebender.
Besonders schätzbar ist an diesem Band des Autors Kunst, zu gliedern und den Leser nicht mit Stoffmengen zu erdrücken. So kommt Eloesser denn auch mit den denkbar wenigsten Namen aus; er nimmt nur das noch Lebendige oder für die Entwicklung Notwendige. Der Band beginnt mit den schweren pompösen Dichtern des Barock und geht dann nach einer besonders liebevollen Behandlung der beiden verbummelten Genies Johann Christian Günther und Christian Reuter ins achtzehnte Jahrhundert über, die Heldenzeit der deutschen Literatur, die damals nicht nur kein Publikum hatte sondern sich auch erst die Sprache erobern mußte. Aus dem Besitz professoraler Sekten geht sie in die Hände Klopstocks, Lessings, Wielands und Herders über und hat in ein paar Dezennien Deutschland durchdrungen. Bei Goethes Tod ist dieser Prozeß nicht nur lange vollendet, die deutsche Literatur selbst ist über die Grenzen gegangen, sie wirkt in fremden Ländern schulebildend und hat den europäischen Geist um den Begriff Weltliteratur bereichert. Eloesser belebt die Schilderung der gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Kette von Dichterporträts, die oft in reizender Kleinmalerei ausgeführt sind. Die Idyllik und Enge dieser Zeit wird ganz lebendig. Der deutsche Geist unternahm seine kühnsten Flüge, weil er auf Erden nicht viel Platz hatte. Die Kleinstaaterei des alten Reiches sowohl wie der grobe Kasernenglaube der neuen preußischen Militärmacht ließen keine Möglichkeit offen, Literatur in Leben zu verwandeln. Es war leichter, Himmel zu stürmen und Götter zu stürzen als auch nur die soziale Wirklichkeit eines einzigen thüringischen Duodezstaats umzugestalten.
Der zweite Band wird bis zur Gegenwart führen. Man darf neugierig sein, wie sich Eloesser mit dieser Aufgabe abfinden wird. Denn die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts ist voll toter Strecken, und alle bisherigen Darstellungen sind mit Namen belastet, die uns heute viel weniger bedeuten als etwa Heinse oder Wieland, von Lichtenberg ganz zu schweigen. Hier ist das Prinzip der Auswahl, das der Verfasser im ersten Band so konsequent durchgeführt hat, noch viel notwendiger.
Die Weltbühne, 17. Dezember 1929