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Die Kongresse der großen Parteien sind schon lange nicht mehr der Schauplatz wichtiger Entscheidungen, sondern Divertissements von Parteibeamten für Parteibeamte. Daß die Verkündung der Verfügungen fürs nächste Geschäftsjahr noch immer von Referaten und Debatten umrahmt wird, hat nichts zu bedeuten, sondern ist nur eine pietätvolle Erinnerung an eine romantische Vergangenheit, wo das Schicksal der Partei noch auf ihrem Konvent in offener Sitzung entschieden wurde. Man kennt diesen Zustand und ist überrascht, daß man noch immer so überrascht werden kann wie jetzt durch den schmählichen Verlauf des magdeburger Parteitages der Sozialdemokratie. Das war eine Gerusia von Satten und Trägen, die ihre einstudierten Texte gut geölt und gleichgültig heruntersagten. Wenn schon Einer laut wurde, dann war die Erregung nicht seelischer, sondern gastrischer Natur.
Zwei Mal war dieser Kongreß verschoben worden. Vor noch nicht langer Zeit flackerte es in der Partei bedenklich wegen der Panzerkreuzeraffäre und wegen des Wehrprogramms. Nichts von dieser Stimmung wurde mehr laut. Keiner der Redner fand das rechte Wort für Herrn Severings immer unerträglicher werdendes staatsmännisches Gehaben. Keiner fuhr Herrn Otto Wels in die Parade, als er auftrumpfte: »Wenn schon Diktatur, dann die unsrige!« Keiner entlarvte das als die großmäulige Phrase eines wattierten Jahrmarktsathleten. Keiner forderte von Zörgiebel Rechenschaft für die vierundzwanzig Toten. Keiner fragte, zu was für aberwitzigen antidemokratischen Konsequenzen die am 1. Mai begonnene Zernierung der kommunistischen Rivalin noch führen würde und ob es wahr sei, was alle Spatzen von den Dächern pfeifen, daß das Verbot kommunistischer Parteiblätter und kommunistischer Organisationen nur das Vorspiel sei für das Verbot der gesamten Partei. Keiner fragte das, keiner forderte eine Debatte über die wichtigsten aktuellen Dinge heraus. Es fiel kein Wort, das die Herren Arrangeure aus dem Bau gelockt hätte. Sie konnten, wo versucht wurde, vom Konzept abzuweichen, mit hochfahrender Geste zur Tagesordnung rufen. Daß es ihnen so leicht wurde, liegt nicht allein an ihrem angeborenen Talent sich durchzusetzen, wofür an verschiedenen Regierungstischen der geeignete Platz wäre, es liegt nicht zum wenigsten an der abermals erwiesenen Unfähigkeit der linken Opposition, sich eine Position zu ertrotzen. Der gleiche Vorwurf trifft leider den Wortführer der Linken: Herrn Doktor Paul Levi. Es kann nicht länger verschwiegen werden.
Die Opposition bildete sich in Sachsen während des Ruhrkampfes und erhielt ihren Antrieb durch die unschöne Gelassenheit, mit der die Obergenossen in Berlin die Absetzung des Kabinetts Zeigner und die schändliche Mißhandlung Sachsens durch die Reichswehr ertrugen. In beinahe sechs Jahren ist es der Opposition nicht gelungen, an höchster Stelle als vorhanden betrachtet zu werden. Sie ist provinzial und oft nur lokal begrenzt. Es ist ihr nicht gelungen, durch ein geistiges Band eine in entscheidenden Augenblicken einheitlich handelnde Gruppe zu schaffen. Es ist eine über ganz Deutschland gesprenkelte Diaspora, deren Teilchen von einander nichts wissen. Der Abonnent der Parteiblätter von Leipzig oder Frankfurt weiß davon, aber weiß davon auch der Arbeiter, für den die ›Münchner Post‹ ortszuständig ist? Mindestens in Herrn Sollmanns kölner Diözese wird kein Arbeiter von dem Vorhandensein einer Opposition wissen. Ausdehnung und Gewicht der Opposition sind also ganz unbestimmbar. Manchmal gibt es frische Zufuhr, und öfter noch schwenkt ein Prominenter wieder zu den Besonnenen zurück. Dem reumütigen Radikalen, der sich mit Ach und Krach durchs Nadelöhr gezwängt hat, tätschelt der Parteivorstand liebreich den gequetschten Buckel. So war es der magdeburger Regie ein Leichtes, die Genossen von Links als Quantité négligeable zu behandeln. Indem man die Existenz einer Opposition nicht anerkannte, löste man sie desto geschickter in eine Reihe von Einzelpersonen auf, die das traurige Vergnügen hatten, ihre Klagen und Vorwürfe an eine kompakte Majorität zu verschwenden, die das gar nicht wissen wollte, und vornehmlich auf den Tribünen wurde ihnen Beifall geklatscht. Deshalb wirkte zum Beispiel Herrn Fleißners Angriff auf die Koalitionspolitik, weil er echolos blieb, nur wie eine gutartige Konzession an das überschäumende sächsische Nationaltemperament. Deshalb konnte Herr Kanzler Hermann Müller Herrn Doktor Eckstein aus Breslau wie einen Schuljungen herunterputzen. Deshalb konnte Herr Otto Braun den neuköllner Stadtschulrat, der gegen das Konkordat sprach, in einem wahren Feldwebeljargon anfahren. Und deshalb konnte Seine Herrlichkeit der ›Vorwärts‹ es wagen, über Rede und Auftreten des Mannes, den alle bisher für den Wortführer der Opposition gegen das Wehrprogramm gehalten haben, den folgenden Bericht zu bringen: »Paul Levi im weißen Sporthemd – es ist drückend heiß, und der Vorsitzende Wels hat schon längst den Rock ausgezogen – löst versöhnende Heiterkeit aus. Doch das Äußerliche wird rasch vergessen, denn was Levi zu sagen hat, interessiert immer, auch diejenigen, die ganz andrer Meinung sind. Er vertritt einen abgeänderten Gegenentwurf, der an dem umstrittenen Begriff des ›kapitalistischen Staates‹ festhält und in diesem Staat jede Wehrmacht beseitigen will. Levis Redezeit wird stillschweigend verdoppelt, er erntet zum Schluß stürmischen Beifall seiner Anhänger.« Aus. So unterrichtet dieses unsagbare Zentralorgan, das restlos eingestampfert zu werden verdient, seine Leser über die Ausführungen des Wortführers der Wehrgegner, dessen Broschüre zum gleichen Gegenstand eben noch Sensation gemacht hat. Dem interessantesten Kopf der Partei wird nicht nur das Korreferat verweigert – welche Großmut, daß Wels ihn zwanzig Minuten reden läßt! – aus seinem Auftreten wird ein humoriges Intermezzo voll »versöhnender Heiterkeit«. Haben die träggewordenen Grauköpfe keine Erinnerung mehr an ihre Parteitage vor zwanzig Jahren? Wie fieberte da alles dem Auftreten grade der Opposition entgegen! War um Georg Ledebour, um Georg von Vollmar, um Rosa Luxemburg und Ludwig Frank versöhnende Heiterkeit? Da gab es noch ein Für und Wider, gab es noch hinreißende Leidenschaften, und wenn ein Lachen heiß und herzlich quoll, so entzündete es sich am Geiste und nicht an der Garderobe des Redners. Vorbei, vorbei.
Die Oppositionen von damals, ob sie radikale oder reformistische waren, wußten sich in Achtung zu setzen. Die Opposition von heute aber hat noch nicht von den Herren Parteichefs die Voraussetzung alles Wirkens zu erzwingen gewußt, nämlich als existent betrachtet zu werden. Sie ist wohl gelegentlich ungeduldig, aber es ist ihr noch niemals gelungen, den Hochmögenden so nah an den Leib zu rücken, daß es ihnen unter dem Plastron ungemütlich wird. Was ihr fehlt, ist die innere Überzeugung, daß an dem gegenwärtigen Zustand der Partei etwas zu ändern ist; es kommt ihr mehr darauf an, das Prinzip zu wahren als selbst die Macht zu erlangen. Und es fehlt ihr ganz und gar an einem Menschen, der zur Personifikation ihres Gedankens wird, wie es Rosa Luxemburg und Ludwig Frank für ihre Richtungen gewesen sind. Es gibt Kurt Rosenfeld und Seydewitz und manche andre. Aber die allgemeine Anschauung ist, daß es nur Einen gibt, der dazu berufen wäre. Dieser Eine jedoch geht sorgfältig um die Berufung herum.
Paul Levi ist ein Redner von elementarer Kraft, am Barreau nicht weniger als auf der Tribüne, er ist ein selbständiger Kopf, ein vielfach interessierter Mensch, der den politischen Durchschnitt in Minutenfrist mit der flachen Hand erledigt. In der eignen Partei jedoch wirkt er fast immer nur wie ein glänzender Gast, wie ein wandernder Virtuose, der für einen Abend leuchtet und dann weiterzieht. Wie mit Geheimschrift steht auf dem Zettel des sozialdemokratischen Parteitheaters dieser Jahre: ... als Gast Herr Doktor Paul Levi. Aber der berühmte Gast ist kein Liebhaber des Ensemblespiels. Die zweite Vorstellung schon ist meistens abgesagt. Zu eng ist für den Mann die Politik. Die Ehrgeize flackern hierhin, dorthin. Gesellschaftliche Verpflichtungen, Interessen des Kunstsammlers, das Auto ... Es gibt viele bessere Dinge als die leidige Partei. So kann es kommen wie vor zwei Jahren auf dem kieler Parteitag, wo die Opposition ohne ihren Leader auftrat, weil es dem grade eingefallen war, nach Italien oder der Provence zu fahren. Und dennoch hat alles bei ihm einen einheitlichen Zug, es ist ein Wille dahinter, der die auseinanderstrebenden Elemente packt und strafft. Er ist trotzdem kein Salonsozialist. Breitscheid, der begabte Nationalliberale, als Sozialist, das ist eine unwahrscheinlich obscöne Erfindung. Paul Levi aber ist, was Breitscheid gern sein möchte: ein widerspruchsvoller Mensch, immer etwas amateurhaft, immer etwas gelangweilt, doch mit einem beträchtlichen Fundus hinter der lässigen Geste. Vielleicht hemmt ihn auch das Mißtrauen, mit dem die gelernten Sozialdemokraten ihn, den frühern Mann von Spartakus, den einstigen Führer der Kommunistenpartei betrachtet haben und noch betrachten. »Genosse Levi«, begrüßte ihn der jetzt verstorbene Adolf Braun vor ein paar Jahren in einer Fraktionssitzung, »Sie haben zwei Parteien zerstört, lassen Sie die dritte in Ordnung.« Dieses Wort ist an ihm kleben geblieben, es mag ihm oft in den Ohren klingen. Er fühlt, daß er nicht Fuß faßt, seine Haltung bleibt immer etwas nonchalant. Er selbst aber gefällt sich darin, der ewig kommende Mann zu sein, der im entscheidenden Augenblick lieber in ein freundlicheres Klima reist.
Aber wäre es nicht endlich an der Zeit, das Fiescospiel zu beenden und den Löwen zu zeigen? Weiß Gott, wie viel Monate die Partei noch zuzusetzen hat. Zwar hat sie ihre Leute noch an der Strippe und der Drill funktioniert. Sie fühlt sich in Sicherheit. Aber manchmal will es scheinen, als wäre diese Sicherheit die der stellvertretenden Generalkommandos im Kriege, die so unumschränkt schalteten. Eines Tages stiegen rote Fähnchen auf, und die Diktatoren waren plötzlich nicht mehr da. Die Partei braucht endlich wieder einen Führer, frei von republikanischem Spießertum, aber von konstruktiven Ideen erfüllt. Paul Levi kommt aus dem Bannkreis Lenins, und mag er tausend Mal seine alte Partei brüsk verlassen haben, als Einziger heute in der Sozialdemokratie trägt er das Pathos der Revolution im Blute. Sein Plaidoyer im Jornsprozeß war eine Rede von einem wahrhaft dantonschen Format. Wie sehr braucht die Partei einen Mann im Mittelpunkt, an dem sich die Phantasie der Jugend entzünden kann. Ich lese seine moabiter Rede gegen Jorns und frage, welcher deutsche Redner heute über diese Macht des Wortes verfügt? »Die schreckliche Tat, die damals begangen worden ist, ist keinem gut bekommen. Der Hauptmann von Pflugk-Harttung oder der Bruder – ich weiß nicht, welcher – zerrissen von einer Handgranate, die er andern zugedacht hatte. Der Leutnant Liepmann, in jungen Jahren ein siecher Krüppel. Der Jäger Runge, ein elender Mann, gemieden und verstoßen von seinen Arbeitskollegen. Andre flüchtig, wer weiß wohin, alle gezwungen, ihr Antlitz vor den Menschen zu verbergen. Nur einer stieg hoch, der Kriegsgerichtsrat Jorns, und ich glaube, er hat in den zehn Jahren vergessen, woher seine Robe die rote Farbe trägt. Meine Herren, hier glaube ich, hier treten diese Mauern und tritt die Decke zurück. Hier ist ein Tag des Gerichts gekommen! Die toten Buchstaben, benutzt zu dem Zwecke, Schuldige zu schützen, und die vermoderten Knochen der Opfer: sie stehen auf und klagen an den Ankläger von damals.« Ich frage, wer in Deutschland seit Ferdinand Lassalle diese fegende Vehemenz der Rede hatte. Hier ist der Mann, der mit allem ausgestattet ist, um die Sturmfahne gegen Bonzentum und feisten Opportunismus zu erheben. Ob er will, davon wird nicht zum wenigsten die Zukunft der ganzen deutschen Sozialdemokratie abhängen. Ich spreche meinen Zweifel offen aus: ich glaube, er wird nicht wollen. Zum Kampf gegen diese entsetzliche Parteimaschinerie gehört eine Riesenquantität Beständigkeit, die Paul Levi nicht aufbringt. Denn er ist der geborene großartige Gastspieler, der schweifende Virtuose, der hinreißt und verschwunden ist, noch ehe der Taumel verfliegt, oder, wenn man will, der brillante Episodist, der in einer Fünfminutenrolle die Stars in die Ecke spielt und Beifall auf offener Szene erzwingt, der aber, wenn ihn das Publikum bei Aktschluß ruft, schon längst bei Schwannecke sitzt.