Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Der heroische Gigolo

Zum zweitenmal stellt sich Lytton Strachey in Deutschland vor. Nach der »Königin Victoria« nun »Elisabeth und Essex. Eine tragische Historie« (S. Fischer Verlag). Ich weiß nicht, ob die Herren vom Fach auch diesen Engländer zu den »historischen Belletristen« rechnen. Mir scheint, er zeichnet sich nicht nur durch präziseste urkundliche Vorarbeit aus, was zu wenig wäre, es sprudeln da noch ganz andre Quellen als die des tüchtigen Aktenstudiums. Dieser Schriftsteller ist von der Welt der shakespearischen Königsdramen berührt, von ihren Leidenschaften und Humoren. Seine schöne, biegsame und doch etwas getragene Sprache, die Hans Reisiger meisterlich verdeutscht hat, strömt die volle Musikalität elisabethanischer Blankverse aus.

Robert Devereux, Earl of Essex, ist in die Geschichte eingegangen durch den Putsch gegen seine königliche Freundin, für die er seine zweiunddreißig Jahre auf den Richtblock legen mußte. Das haben wir in der Schule gelernt und nicht kurzweilig gefunden. Und Elisabeth selbst –? Was wäre sie uns mehr als Hekuba, ein Name, ein Denkmal meinetwegen! In Westminster Abbey ist ihre eiserne Korsage und ihr schrecklich schwerer Reifrock zu sehen, und die ungeschnürten Frauen von heute stehen davor, die kurzen Haare gesträubt beim Anblick dieser Folterinstrumente. Lytton Strachey hat eine gründlich tote Zeit erweckt. Es ist kein Kostümspuk, seine Gestalten atmen.

Das Leben der großen Herren von damals war herzlich unsicher, der Kopf schien oft nur leihweise überlassen zu sein, aber dafür war dies kurze Sein von köstlicher Abundanz. Alle diese Herren kreisten um eine seltsame alternde Frau, der das Schicksal jeden Wunsch erfüllt hatte bis auf den einen: Frau zu sein; denn einer jener kleinen Kunstfehler der Natur, die über ein Menschenleben entscheiden, hatte ihr die physische Liebe versagt. So entfaltet sie, teils aus Selbstbetrug, teils aus Eitelkeit, um vor der Welt ihr Manko zu verbergen, einen Apparat, als handle es sich darum, die sexuelle Libertinage einer neuen Messalina zu cachieren. Sie spielt vor der Öffentlichkeit die Komödie der verführerischen, der hingebenden, der sich wegwerfenden Frau. Der Hof ist immer voll von neuen Gerüchten; man zerbricht sich den Kopf, wer diesmal der Begünstigste ist. In Wahrheit beschränken sich die Exzesse der Königin darauf, im Vorübergehen den jungen Kavalieren den Kopf zu krauen oder sie an den Ohren zu ziehen.

Doch dem jungen Essex bringt sie eine dauernde Zärtlichkeit entgegen, die ihm gefährlich wird, weil er seine Rolle absolut nicht verstehen kann. Er ist für sie die junge, frische Mannespuppe, der Gigolo; sie hat ihn gern, aber macht sich über seinen Mangel an Bedeutung nicht die geringsten Illusionen. Sie hat andre seiner Art begünstigt und abgetan – er aber ist ein kreuzbraver, etwas hohlköpfiger, etwas romantischer Junge. Es wird sein Schicksal, daß ihn eine geniale Frau in aufwallendem mütterlichem Instinkt formen will, vielleicht auch nur, um ihn fürs Leben zu sichern. Essex jedoch begreift nicht, daß er nur ein Riesenspielzeug ist, das im Augenblick zerbricht, wo diese Finger ungeduldig werden. Bald fühlt er sich durch die Gunst der Königin geschmeichelt, bald wieder behandelt er sie wie eine verblühende Frau, deren Nachstellungen ihm lästig werden. Vor allem aber begreift er nicht, daß er nur der Gigolo ist. Er fühlt sich als junger Achill, als Krieger und Staatsmann, dem selbst die Krone nicht zu hoch ist. Im Kriege und in der Politik, wo er hingestellt wird, erweist er sich als fataler Dilettant. Doch das Schlimmste an ihm ist, daß er diese Frau nicht versteht, nicht den Schwung ihrer Persönlichkeit, nicht ihre Überlegenheit, die nicht durch einen Hermelin legitimiert zu werden braucht. In breitbeiniger Vitalität steht er neben einem Rätsel, das er als solches nicht anerkennt. Und eines Tages wurde das Rätsel ungemütlich, weil er eine persönliche Verstimmung ins Politische umsetzte, und schlug ihm einfach den Kopf ab.

Es ist eine wilde Zeit gewesen. Diese Menschen waren verfeinert und primitiv zugleich. Man liebte platonische Dialoge, das Sonettemachen war eine ständige Übung, aber man glaubte auch eisenfest an die Folter als einziges Mittel zur Rechtsfindung, man glaubte an die Alchemie so entschlossen wie wir heute an die Nationalökonomie. Sexualberatungsstellen waren noch nicht erfunden. Man mußte mit sich selbst fertig werden.

Um die beiden Hauptakteure stellt Lytton Strachey breite Gruppen von Mitspielern. In der ersten Reihe spielt Francis Bacon of Verulam, der in der Geistesgeschichte einen großen Platz hat, aber als private Existenz leider ein Jago oder Edmund Gloster war: – er wurde der Verräter des jungen Essex und der Profiteur dieser Tragödie. Dann die Höflinge, die Minister und Soldaten, dazwischen in ungewissem Flackern, das Zigeunertum der irischen Rebellen, und endlich, unvergeßlich, die Sterbeszene Philipps II.: eine närrische Feierlichkeit in schwerer spanischer Barockluft, wie eine Vision des Greco die spindeldürren, asketischen Gestalten, das Auge nach oben gerichtet, kleine spitze Flämmchen über den Häuptern.

Die Weltbühne, 9. Juli 1929


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