Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Die große alte Null

In dem wenig heitern Quodlibet der Woche vor der Reichstagsauflösung hat es auch ein Zwischenspiel gegeben, das für einen Tag die republikanische Presse in helle Erregung versetzte, am selben Abend aber bereits für beendet erklärt wurde. Das ist der Flankenstoß, der von der Kanzlei des Reichspräsidenten gegen die preußische Linksregierung geführt wurde, mit dem Ziel Otto Braun zu stürzen und Preußen endlich den Deutschnationalen auszuliefern. Das war umso gefährlicher, weil Herr Hugenberg grade in diesen Tagen plante, seine Zustimmung für die Deckungsvorlagen des Reichskabinetts von dem Einlaß in die preußische Regierung abhängig zu machen.

Es spielen in diesem denkwürdigen Nocturno verschiedene Personen eine Rolle. Da ist zuerst Herr Reichskanzler Brüning, der sich anfangs über die Weigerung des Reichspräsidenten, an der Rheinlandfeier teilzunehmen, so lange das Verbot des Stahlhelms für Rheinpreußen nicht aufgehoben sei, äußerst überrascht zeigte, nachher jedoch zugab, nicht so ganz uneingeweiht gewesen zu sein. Da ist Herr Staatssekretär Meißner, dessen Bureau noch am 14. Juni der ›B.Z.‹ versichert hatte, »daß der Reichspräsident in keiner Weise eine solche Forderung für seine Beteiligung an den Rheinlandfeiern gestellt hätte und daß dieses Gerücht den Tatsachen nicht entspreche.« Jetzt läßt Herr Meißner durch ein Hugenbergblatt großspurig verbreiten, Hindenburgs Brief an Otto Braun sei dessen »rein persönliche Angelegenheit« gewesen. Herr Meißner, ein sehr durchschnittlicher Ministerialbeamter, der seine Karriere der Hingebung verdankt, mit der er Vater Ebert in die Überschuhe geholfen hat, war also von dem Ehrgeiz befallen, die »graue Eminenz« zu spielen und auf eigne Faust Schicksal zu machen. Ein schönes Verschwörerstück. Wenn alles gut gegangen wäre, würden Hugenbergs Mannen schon in der preußischen Regierung sitzen, und Otto Braun, der noch immer als der Kanzler einer Großen Koalition im Reiche gilt, wäre erledigt gewesen. »Jockey of Norfolk, be not too bold, for Dickon thy master is bought and sold.« Das Grollen der Demopresse ist verstummt, die angedrohte Interpellation durch die Parlamentsauflösung fortgeschwemmt, der Zwischenfall so gut wie vergessen. Im Wahlkampf wird es um nahrhaftere Dinge gehen als darum, ob wir ein persönliches Regiment haben, ob im Namen des Reichspräsidenten eine Kamarilla groben Unfug treiben darf. Gäbe es in Deutschland ein höher entwickeltes Gefühl für die Wahrung der konstitutionellen Garantien, so hätte dieses in der Kanzlei des Reichsoberhauptes gesponnene Komplott einen Sturm hervorrufen müssen wie 1908 die ›Daily-Telegraph‹-Affäre. Dann müßte dieser Wahlkampf ein Wahlkampf gegen Hindenburg werden, der dieses Kabinett Brüning gegen die Majorität des Parlaments gehalten, ihm den Artikel 48 als Wegzehrung mitgegeben hat und der seine Unterschrift zu häßlichen Kabalen mißbrauchen läßt.

Es hat wenig Sinn, wie es die republikanische Presse tut, sich über die ungeeigneten Berater des Präsidenten zu beklagen, wenn nicht die feste Absicht dahinter steht, diese Herren, soweit sie Beamte sind, verschwinden zu lassen. Handelt es sich aber um eine nicht beamtete, also kaum faßbare Clique, so bleibt nichts übrig, als den Beratenen selbst zur Verantwortung zu ziehen. Wer wird das wagen? Der Hindenburg-Byzantinismus gehört zu den fatalsten Erscheinungen dieser Jahre. Jeder Unterrichtete kennt die völlige Unzulänglichkeit dieses Reichspräsidenten, aber keiner spricht aus, daß auf diesem Platze ein politisches Analphabetentum auf die Dauer untragbar ist und am Ende zu lebensgefährlichen Komplikationen führen muß. Bei der pathologischen Vorliebe der deutschen Nation für geschlagene Generale ist der Fall kaum mehr reparabel. Was nützt es, daß der große Kriegshistoriker Hans Delbrück vor Jahren schon den Feldherrn Hindenburg eine »ehrwürdige Null« genannt hat? Die Nation läßt sich ihre Götter nicht durch kritische Erkenntnisse verekeln. Herr von Hindenburg hat das seltene Glück gehabt, daß die ersten Jahre seiner Präsidentschaft mit der Konsolidierung, mit der neuen Entfaltung der Wirtschaft zusammenfielen und von der Masse der Gedankenlosen alles auf sein Pluskonto gesetzt wurde. An politischen Vorstellungen hat er grade die für das Ehrenpräsidium des Stahlhelms erforderliche Dosis mitgebracht. Aber er hat Glück gehabt, der alte Herr, er hat im Frieden überhaupt mehr Glück als im Kriege.

Man wird dem entgegenhalten, daß sein Amt vornehmlich repräsentativ ist und weder Geist, noch Persönlichkeit, noch eigne politische Anschauungen erfordere. Als Georges Clemenceau einmal vor einer Präsidentenwahl gefragt wurde, wem er seine Stimme geben werde, antwortete er mit seiner zynischen Offenheit: »Dem Dümmsten«. Nach diesem Rezept sind in Republiken schon oft die Spitzen erkoren worden, und es mag sich bewährt haben, an die Stelle von unruhigen, problematischen Potenzen, die zu Eigenmächtigkeiten neigen, eine friedliche, raumfüllende, stattlich aussehende Null zu setzen. Dagegen läßt sich nichts einwenden, so lange diese Null das Verständnis für die Gründe ihrer Inthronisierung nicht verliert, so lange sie nicht Gegenstand eines volkstümlichen Aberglaubens wird, der ihr mystische Kräfte zuschreibt, und so lange sie nicht alles unbesehen unterfertigt, was ihr der oberste Kanzleichef zur Unterzeichnung vorlegt. Als Herr von Hindenburg gewählt wurde, war er der Kandidat der Rechten, die Hoffnung der Cidevants. Er hat die Verstiegensten unter seinen frühern Freunden manchmal enttäuschen müssen, Alter und mangelnde Befähigung für Politik verhinderten eine eigne Linie. Er war in seinem hohen Amt kaum jemals Triebkraft aber immer Hemmung, und sein Rücken ist breit genug, um die Intrigen jener Leute zu decken, die es verstehen, eine Gefühlssaite bei ihm zum Schwingen zu bringen. Und sie haben ihn immer richtig funktionieren lassen. Dieses Kabinett Brüning, das so sachte in die Diktatur hineinführt, ist im Präsidentenpalais entstanden, von dort rühren die Vollmachten zu seinen verfassungswidrigen Handlungen. In der letzten Reichstagsdebatte haben die Herren Graf Westarp, von Keudell und Scholz mit angenehmer Deutlichkeit ausgesprochen, daß diese Regierung die Regierung Hindenburgs ist, daß gegen sie kämpfen gegen Hindenburg kämpfen heißt. Wenn dieser Wahlkampf einen Sinn haben soll, so muß er ein Wahlkampf gegen Hindenburg sein.

Die republikanischen Parteien und ihre Blätter wagen nicht zu gestehen, daß es schon lange einen Fall Hindenburg gibt. Statt offen auszusprechen, daß dieser Präsident abtreten muß, wenn wir wieder zu vernünftigen verfassungsmäßigen Zuständen kommen wollen, redet man sich auf »schuldigen Respekt« hinaus oder faselt von dem »großen alten Manne« oder von dem »edlen Greis, der unter schwerster Selbstüberwindung der Republik seine Dienste zur Verfügung stellt«. An diesen Diensten wird die Republik noch lange zu beißen haben. Wäre Herr von Hindenburg ein starker, bewußter, politisch handelnder Reaktionär, eine Persönlichkeit von Urteil und Willen, so wäre alles viel einfacher. Aber dieser Präsident ist als Person kaum existent sondern eine glorreiche Attrappe, die von unverantwortlichen Fingern bewegt wird, ein vergöttlichtes Zéro, von dem viele Priester leben, ein Idol, in dessen Namen seine Diener agieren und Macht beanspruchen und erhalten, weil die Weigerung pietätlos wäre. Es hat wenig Zweck, einmal einen Tag lang die Ratgeber zu schelten, dem Beratenen selbst aber weiterhin die tiefste Devotion zu bezeugen. Es ist ein kindliches Spiel, etwas an dem Mantel zu zerren, wo es um den Herzog geht.

Die Weltbühne, 22. Juli 1930


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