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Wenn jemand unter den heute lebenden Dichtern die Berufung zum Klassiker hat, so ist das André Gide. Klassiker haben hübsch artig zu sein, aber Klassiker sind meist sehr ungezogen. Herr Gide macht davon keine Ausnahme. Er vertraut seinen Lebenserinnerungen, die Ferdinand Hardekopf jetzt übersetzt hat, ein algerisches Abenteuer mit einem Araberjungen an: »Noch lange, nachdem Mohammed mich verlassen hatte, verblieb ich in einem Zustand zitternder Glückseligkeit, und obwohl ich die Lust schon fünfmal erreicht hatte, erneuerte ich meine Ekstase zu wiederholten Malen ...«
Die Genugtuung des Dichters ist verständlich, aber es wäre hübscher gewesen, wenn er sie nicht publik gemacht hätte. Auch wenn es statt eines Mohammed eine Fatima gewesen wäre. Der große Victor Hugo, zum Beispiel, führte ein Journal mit merkwürdig verkritzelten, unleserlichen Zeichen, die sich zu gewissen Zeitläuften mehrere Male des Tages wiederholten. Unschuldige Editoren deutelten lange vergeblich daran herum, und erst der lebenserfahrenen modernen Philologie ist die Lösung gelungen.
Herr André Gide jedoch will solche Dunkelheit nicht hinterlassen. Die Geschichte ist nicht sehr dezent, trotz der höchst erlesenen Form, und es hat auch niemand danach gefragt. So bleibt nur die eine Möglichkeit: Gide weiß, daß die Dichter nicht mehr wie früher von den Frauen bevorzugt werden. Sie sind sogar ziemlich in Mißkredit gekommen. Sie sind von den Sportsleuten ziemlich radikal ausgestochen worden, und die fatale Psychoanalyse behauptet sogar, daß alle künstlerische Betätigung nur als die prunkvolle Bemäntelung von Impotenzgefühlen anzusehen sei. Mit diesem Vorurteil räumt André Gide gründlich auf, er zeigt mit einleuchtender Deutlichkeit, was auch ein Schriftsteller seines Ranges heute noch zu leisten vermag.
Dafür sollte die ganze Zunft ihm dankbar sein, daß er ihren alten Ruf wieder hergestellt hat, und der Pen-Club wird ihm gewiß eine Ehrendeputation mit Dankadresse ins Haus schicken.
Nachdem der Beweis aber so außerordentlich vielfältig geglückt ist, lasset uns wieder zu dem alten Grundsatz zurückkehren, daß uns nur die literarische Potenz eines Autors interessiert.
Die Weltbühne, 8. Oktober 1929