Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Die Internationale der Angst

Die Furcht vor dem Kommunismus hat sich mehr und mehr zu einer internationalen Psychose entwickelt. Daß die Länder ihre Grenzen noch immer wie chinesische Mauern aufziehen, den Reisenden mit Kontrollen quälen und ihn überhaupt als rechtloses Individuum auffassen, ist heute zum großen Teil auf die törichte Bolschewistenfurcht zurückzuführen. Denn es gibt keine vernünftigen Gründe mehr, um ein System aufrechtzuerhalten, das in so krassem Gegensatz zu den einfachsten Geboten des modernen Verkehrs steht. Wie in den Tagen Metternichs die Einfuhr von demagogischen Ideen verboten war, so soll jetzt die rote Gefahr von der Grenzpolizei erkannt und abgefangen werden. Wo sie sich aber dennoch ins Land schleicht, muß zu ihrer Bekämpfung die höchste Energie entfaltet werden. Diese Energie hat in allen Hauptstädten der Welt am 1. August eine ungewöhnlich blamable Niederlage erlebt.

Überall schien plötzlich die proletarische Revolution vor der Tür zu stehen. Die Polizeiminister machten märchenhafte Anstrengungen. Belagerungszustand, Schutzhaft, Zeitungsverbote. André Tardieu, der französische Innenminister, verwandelte Paris in ein Heerlager. Eine solche Aufregung gab es nicht, seit Gallieni mit den letzten Reserven an die Marne rückte. Natürlich hat Herr Tardieu etwas blinden Lärm gemacht. Denn er fühlt sich als Erbe der poincaristisch-briandistischen Epoche und möchte sich gern der Bourgeoisie als zuverlässiger Rettungsengel vorstellen.

Mögen also die Motive des militärischen, polizeilichen und juristischen Aufwands ziemlich verschieden und manchmal nicht sehr echt sein, die Angst der guten Bürger vor dem Bolschewismus ist jedenfalls durchaus echt. Selbst in Deutschland, wo man doch immerhin noch die am wenigsten abenteuerlichen Begriffe vom neuen Rußland hat. Am finstersten ist es darin vielleicht in der Schweiz und in andern kleinen Ländern. Aber auch in den riesengroßen U.S.A. wird heute ernsthaft das Verbot der Werke von Karl Marx erwogen.

In einem komischen Gegensatz zu solchen furchtgeborenen Exzessen stehen die Bemühungen der meisten Staaten, mit Moskau, dem roten Pontifikat, in einen wohlgeregelten politischen und wirtschaftlichen Verkehr zu kommen. In England wünscht auch der härteste Tory den Anstrengungen MacDonalds, die Beziehungen zu Rußland wiederaufzunehmen und gedeihlich zu gestalten, den besten Erfolg. In Rom werden russische Flieger stürmisch gefeiert, ohne daß Mussolinis Garden aufmarschieren. Und schließlich die Vereinigten Staaten selbst ... nun, alle nach Moskau gesandten Unfreundlichkeiten können doch den romantischen Kitzel nicht beseitigen, den Amerikaner empfinden, wenn von Rußland die Rede ist. Sie möchten das nicht gern zu Hause haben, gewiß. Aber die Sache ist so ungeheuer interessant, so nervenerregend diese Vorstellung von dem Treiben der roten Teufel. Die amerikanische Sensationslust wird immer wieder davon aufgerührt. Und außerdem winkt dahinter ein großes Zukunftsgeschäft.

Im übrigen können wir ganz sicher sein: um 1790 hat man im alten Europa die junge amerikanische Republik der Farmer und Handelsleute nicht viel anders betrachtet als heute die meisten Amerikaner und Europäer die Sowjetrepublik betrachten. Denn nichts vermag die Menschheit schwerer zu begreifen als die Traditionslosigkeit.

Es bleibt ziemlich unerfindlich, was denkende und unterrichtete Politiker an den kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands denn fürchten. Es ist richtig, daß diese Parteien ihre Direktiven von Moskau empfangen. Aber grade in der Behandlung der Sektionen der Dritten Internationale hat Moskau oft und oft gezeigt, daß seine Kunst hier ihre Grenzen findet. Die kommunistischen Parteien leiden stark unter Fraktionsstreitigkeiten, sie sind zum Teil nicht sehr groß und verdanken ihr Anwachsen – wie in Deutschland – manchmal vornehmlich dem Versagen der Sozialdemokratie. Die programmatischen Anforderungen der Kommunistenpartei sind überall sehr rigoros, man will auch gefühlsmäßig und theoretisch größtmögliche Einheitlichkeit erreichen. Das führt naturgemäß zu harten Gesinnungsproben. Der Widerstrebende, auch der ehrlich Widerstrebende, wird unbarmherzig ausgemerzt, und die Parteien kommen aus der Unruhe und dem Zustand des Fließens nicht heraus. So sind sie weniger Mächte der Gegenwart als vielmehr Zellen der Gärung und Unzufriedenheit, dazu bestimmt, vielleicht in ferner Zukunft als festgewordene Form in die Entscheidung geführt zu werden. Warum zittert die bürgerliche Gesellschaft eigentlich, die doch sonst die glückliche Begabung hat, akute Gefahren zu übersehen und leichtherzig der Sintflut entgegenzuleben, die vielleicht die Kinder verschlingen wird? Der Fascismus, zum Beispiel, rückt den demokratischen Staaten heute viel näher an die Gurgel als der Kommunismus.

Es bebt eine tiefe Unruhe in der kapitalistischen Welt, die niemals wieder aufhören wird. Der Begriff des Besitzes ist fragwürdig und unpersönlich geworden. Die Expropriation hat innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft lange begonnen. Der große Mammonismus hat die vielen kleinen Geldschränke und Truhen lange konfisziert und lange den letzten Sparstrumpf ausgeleert. Der Kapitalismus hat sich selbst isoliert, seine eignen Glieder abgestoßen und sich in eine raumenge, wenn auch gewaltig armierte Festung zurückgezogen. Er ist nervös und fürchtet Überrumpelung.

Wahrscheinlich wird es bis dahin noch recht lange dauern. Und die Dauer wird nicht zum wenigsten davon abhängen, ob der Kapitalismus den Verstand wieder der Furcht gegenüber zu seinem Recht kommen läßt. Geschieht das nicht, so wird die zahlenmäßig nicht große kommunistische Bewegung allein durch den Respekt, der ihr gezollt wird, gewaltig wachsen, und das Märchen vom kleinen und vom großen Klaus wird sich in schlimmer Wirklichkeit wiederholen.

Die Weltbühne, 13. August 1929


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