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Es soll hier nicht die Frage aufgeworfen werden, welchen Ursachen die in den letzten Monaten erschienenen Kriegsromane ihre große Beliebtheit verdanken, welche Wandlungen im Bewußtsein ihrer Leser sie erzielt haben und ob ihnen eine Zukunft beschieden ist. Das wäre sehr reizvoll, aber auch sehr schwierig und führte vielleicht zu einigen ketzerischen Folgerungen – – jedenfalls, diese Frage soll uns heute nicht beschäftigen. Wir wollen nur feststellen, daß endlich, zehn Jahre nach der einstweiligen Verriegelung des Schlachthauses, Schriftsteller von Rang und Qualität den Mut gefunden haben, die verlogene Gloriole des Krieges in Dunst aufgehen zu lassen. Nicht mehr ist der Soldat der feldgraue Held, der das Siegesleuchten der Helden Rudolf Herzogs in den Augen, seine harte Pflicht tut und noch Zeit hat, zwischen den Granateneinschlägen, je nach Bildungsgrad entweder Verse aus dem Faust zu murmeln oder die Vorgesetzten durch Aussprüche von volkstümlicher Drastik zu erheitern und ihnen so den Glauben an die unverwüstliche Gesundheit des deutschen Volkstums zu bewahren –, jetzt ist der Soldat der Ärmste der Armen, der Hiob, den kein Gott mehr hört, ein untermenschliches Wesen von Blut und Dreck starrend. Über diesen Büchern steht kein Motto mehr, wie: »Auch der Krieg hat seine Ehren«, sie sind ganz und gar das feierliche Verdikt, das ihm die Ehren aberkennt und ihn vor versammelter Menschheit degradiert. Es ist kein Zufall, daß die Autoren der beiden hervorstechendsten Bücher bisher keinen literarischen Namen hatten, der eine davon überhaupt Debütant ist. Die akkreditierten Romanciers haben zu dem Krieg keine Stellung finden können; nur Arnold Zweig hat tapfer die Sperre gebrochen.
Die Bücher von Remarque und Ludwig Renn bieten qualitativ keine Unterschiede; beide wuchsen aus Anschauung und Erlebnis, beide hat die Erinnerung in langen Jahren geformt. Wenn hier dem »Krieg« von Ludwig Renn einige Bemerkungen gewidmet werden, so geschieht es, weil der Verfasser sich eigentlich in allem von dem alltäglichen Typ des Schriftstellers unterscheidet und weil seine Leistung von ihm selbst höchst wahrscheinlich nur als eine einmalige gedacht ist. Es müßte schon ein Wunder geschehen, wenn der Mann, der sich Ludwig Renn nennt, ein zweites Mal den Antrieb fühlte, seine Gestaltungskraft zu spannen. Diese Kriegsjahre waren sein Inhalt, sein Erlebnis. Jetzt ist die Beichte endlich fertig, und das Schriftstellertum fällt wie ein Bürde ab. Erich Maria Remarque hat schon früher geschrieben und veröffentlicht, wenn auch nichts Beträchtliches, und es wäre fast wider die Natur, wenn er nach seinem Triumph jetzt ruhen wollte. Er ist weltläufiger Großstädter, kennt die Literatur, die Zeitungen. Wenn wir Ludwig Renn mit dem Helden seines Buches identifizieren wollen, so ist er Kleinstädter mit dörflichem Einschlag, von Beruf Tischler. Das Schreiben ist ihm nicht als freundliches Geschenk mitgegeben worden; er hat es sich mühsam erarbeitet. Heute ist er Kommunist, vielleicht Funktionär in einem süddeutschen Nest. Man weiß es nicht.
Er selbst gibt Einblick, wie schwer ihm das Schreiben geworden ist. Schon draußen im Felde versucht er an Ruhetagen die Schilderung eines mitgemachten Gefechtes: »An den Schriftstellern fiel mir auf, wie willkürlich sie die Worte setzten, obwohl es doch eine ganz klare Notwendigkeit gab, wie man die Worte setzen muß, daß nämlich die Worte immer in der Reihenfolge stehen, wie sie der Leser erleben soll, zum Beispiel nicht: eine grüne, über mehrere Kuppen ansteigende Wiese; denn zuerst muß man doch wissen, daß es eine Wiese ist, und daher muß das Wort vorn im Satz stehen. Um mir über das Wichtige klar zu werden, stellte ich mir stets das ganze Bild mit allen Einzelheiten vor, mit Beleuchtung, jedem Geräusch und jeder seelischen Regung. Dann schrieb ich erst und ließ alles weg, was nicht unbedingt notwendig war. Aber dieses Schema nützte für die Darstellung der wichtigsten Dinge gar nichts. Dafür fehlten mir stets die Worte.« So primitiv tastet er sich an die Fähigkeit heran, Gesehenes und Gedachtes in Worte umzusetzen, und nur am Schluß der eben zitierten Sätze beunruhigt die Ahnung, daß es jenseits der präzisen Wortwahl eine Intuition gibt, die da Helle hineinwirft, wo das Wort allein die Dunkelheit nicht bezwingen kann.
Aber ist er auch nicht mit Intuition begnadet, so eignet er sich doch eine Ausdrucksform an, in deren holzschnitthafter Härte nichts Visionäres zuckt, die aber ein Gesamtbild von erschütternder Eindringlichkeit schafft. Die Einzelvorgänge sind mit größter Genauigkeit festgehalten; jedes Detail hat die Gewissenhaftigkeit eines Berichterstatters herbeigetragen, den das Bewußtsein, unvollständig zu sein, quälen würde. Es gibt keine gräßliche Verwundung, die er nicht mit der Treue eines alten niederländischen Martyrienmalers schilderte; er findet Abstufungen sogar in dem Geruch verwesender Leichen. Er versucht immer neue Lautmalereien für die Geräusche der großen Kanonaden sowohl wie für die vereinzelter Schrapnells. Ich weiß nicht, ob das auch auf den naturalistisch wirkt, der niemals das satanische Orchester des Krieges erlebt hat, ob es beim Lesen in den Ohren summt dies »Bramm! krapp! rams! päarr!« der kleinern Kaliber, das »Sui-krapp« der Schrapnells, das »Wram-ram« der schweren Einschläge, ob es nicht von dem, der es niemals gehört hat, als Spielerei empfunden wird. Es ist Renns fanatischer Realismus, der auf keine Nuance verzichtet. Gibt er von Gesehenem und Gehörtem das Äußerste, so spart er desto mehr mit dem, was in ihm vorging. Seine Stellung zum Krieg deutet er kaum an. Er ist nacheinander der Gefreite, der Unteroffizier, der Vizefeldwebel Renn, eine einzelne, winzig kleine Funktion im ungeheuern Organismus Krieg. Er fragt nicht viel nach dem Vaterland oder dem Warum dieses Geschehens, aber er weiß: wenn er, das miniaturhafte Teilchen, aus eigner Schuld für einen Augenblick erlahmt, dann wird das den Kameraden nebenan das Leben kosten. Und wenn er von den Kameraden spricht, ihren Wunden, ihrem Sterben, dann fühlt die Kriegsmaschine Ludwig Renn plötzlich, um im nächsten Augenblick wieder zusammenzufahren, wenn ein Kommando oder Signal zum Dienst ruft. Aber man versteht auch, warum die blutige Schande vier Jahre dauern konnte. Es gab so ungezählte Renns an allen Fronten und unter allen Fahnen. Sie fungierten so vorzüglich, weil sie die Menschen liebten, die Menschen um sich in ihrem Elend und Schmutz. Je gewaltiger der Tod Lücken schlug, desto enger schlossen sich die Überlebenden zusammen, fühlten sie die Verantwortung für einander. Es ist grausamer Irrtum, der Wille der Soldaten könnte den Krieg zerschlagen, wenn er einmal da ist. Es gibt dann nur noch Sieg oder Niederlage. Der Krieg kann nur im Frieden bezwungen werden.
Es ist schade, daß Renn den Zusammenbruch nur in ganz knapper episodischer Skizze streift. Sein Thema war der Krieg, und der Zusammenbruch ist wieder ein andres. In kleinsten Andeutungen nur spricht er von dessen Ursachen. Als ewiger Frontsoldat hat er auch die Etappe wenig kennen gelernt. Aber wenn er einmal ganz tendenzlos und unkarikiert einen Oberleutnant schildert, einen höchst strammen Herrn, der vom Stab vorübergehend zur Front kommandiert worden ist, einen organisationswütigen Kompagniedespoten, der zunächst dem Mißbrauch steuert, daß im vordersten Graben jemand Wickelgamaschen trägt, dann hat er auch den Geist beschworen, der das Heer ruiniert hat. Jedoch von diesem Punkte aus die Entwicklung bis zur schließlichen Auflösung zu verfolgen, das unternimmt er nicht. Denn wie selbst diese geduldigsten aller Soldaten rebellisch wurden, wie der Zweifel langsam den schweigenden Dienst zernagte und schließlich Meuterei hochflammte, das ist mit den Mitteln der dokumentarischen Treue nicht mehr zu fassen. Wo sich die Gefühle entzweien, da beginnen die Bezirke der Dichtung. Auch Remarque läßt sein Werk irgendwann im Sommer Achtzehn schließen. Niederlage und Rückkehr mit roten Fahnen bleiben die Kriegsbücher schuldig. Und das ist vielleicht der tiefste Grund, weshalb sie das Publikum so gerne mag.
Ludwig Renn ist heute Kommunist und Soldat der Weltrevolution. Mit einer im Trommelfeuer gestählten Stimme wird er in Versammlungen die apokalyptischen Schrecken der großen Mammondämmerung verkünden. Sein individuelles Werk ist vollbracht, jetzt gehört er wieder der namenlosen Masse an. Er hat, wie Millionen, den Weg durch die gleiche Hölle genommen, aber er hat sie nicht vergessen. Er hat sie klar und scharf, ohne daß ihn das Grauen durcheinandergerüttelt hätte, vermessen und aufgezeichnet. Er ist ihr Geometer, ihr Topograph geworden.
Die Weltbühne, 5. März 1929