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Das deutsche kunstliebende Publikum, das sich sonst gern von Edgar Wallace fesseln läßt, fühlt sich seit vierzehn Tagen von Philip Snowden gefesselt. Edgar Wallace hat schon seine lustigen Parodisten gefunden. Wer travestiert nun Philip Snowden?
Unnötige Sorge, das tut er selbst. Wirklich, es ist eine unendlich witzige Parodie, als Kreuzritter der londoner Commerz hier diesen alten Labour-Abgeordneten zu sehn, der durch viele Jahre als Budgetkritiker der Schrecken seiner kapitalistischen Amtsvorgänger gewesen ist, wenn er, auf zwei Krückstöcke gestützt, ihnen mit leiser, eindringlicher Stimme nachwies, daß sie erbarmungswürdige Idioten seien, die täglichen Frühstückseier nicht wert. Und nun sieht man diesen alten sozialistischen Unterhaustiger zum erstenmal zu einer im Sinne aller Engländer besonders gemeinnützigen Tätigkeit angespannt. Er muß den nationalen Geldsack verteidigen und, wenn möglich, sogar neu füttern.
Auf viele hat die Schroffheit Snowdens im Haag überraschend gewirkt. In Paris jedenfalls kannte man den Gegner und wußte man, warum man ihm lieber an einem neutralen Konferenzort als grade in London begegnen wollte, wo dieser Härteste aller Widersacher, der die Trockenheit von Finanzreden gern mit persönlichen Invektiven belebt, noch dazu unter die erlauchten Gastgeber gehört hätte, denen man Komplimente sagen muß. Es ist in Paris noch in schwarzer Erinnerung, wie er vor ein paar Monaten im Unterhaus, noch als Abgeordneter, die Zahlungswilligkeit der Franzosen bezweifelte und sie »bilkers« nannte: – Drückeberger. Das war grade während der Krise des Young-Komitees. Es ist gar nicht auszudenken, was etwa bei einer Begegnung Snowden-Poincar é herausgekommen wäre, bei einem Match zwischen Lothringen und Yorkshire.
Auf dem Kontinent ist man leicht geneigt, Philip Snowden einfach für einen schmähenden Thersites zu halten. In England wird dieser Auffassung lebhaft widersprochen. Er gilt dort als unbeugsamer Charakter, als ein Politiker von ungewöhnlicher dialektischer Schärfe und einem profunden Sachwissen, das von einem fast übernatürlichen Gedächtnis glänzend bedient wird. Er wird von seinen Freunden geliebt und verehrt. Sie wissen, daß sein oft höchst ungemütlicher Sarkasmus nur ein gutes und menschenliebendes Herz schützt. Sie wissen, daß dieser Autodidakt, der als Schreiber in einem Postamt begonnen hat und dem vor Jahrzehnten ein Verkehrsunfall die gesunden Glieder raubte, das wahre Haupt der Arbeiterpartei ist. Er ist früher der leidenschaftlichste Widersacher der Bündnispolitik Greys gewesen. Er hat 1914 zu jener ehrenvollen Minorität gehört, die Kriegskredite verweigerte, und er hat gegenüber dem chauvinistischen Überschwang der ersten Nachkriegsjahre Mut und Haltung gezeigt, ein Independent in des Wortes bester Bedeutung. Erinnerungen an diese Zeit mögen seine Gefühle für die französische Delegation noch unliebenswürdiger stimmen. Der geschmeidige MacDonald kann eine Vergangenheit vergessen. Der Typus Snowden vergißt nicht.
Die deutschen Nationalisten in ihrer abgrundtiefen Verbohrtheit aber sind vor Wonne ganz aus dem Häuschen, daß es mal Einer den Franzosen wieder richtig sagt. So müßten die Unsern auch reden, dann wäre es zu Ende mit der Tributschmach. Sehen wir ganz davon ab, daß der englische Schatzkanzler trotz seiner Erbittrung gegen Frankreich eine der Siegernationen vertritt, weshalb er sich eine Sprache leisten kann, die die deutsche Sache in zehn Minuten erledigen würde – wo hätte denn die deutsche Rechte einen solchen Kopf produziert, so temperamentvoll und perlklar zugleich, um tiefste wirtschaftliche Zusammenhänge wissend und schon durch seine immer bereiten Sachkenntnisse erdrückend? Wer ist denn dieser nationale Finanzpolitiker, der fähig wäre, das ganze System der Reparationen zu kassieren? Etwa Hugenbergs Doktor Bang? Mahlzeit.
Es sollte sogar in Deutschland einleuchten, daß Snowden kein Feuerwerk für unsre patriotischen Stammtische abbrennt, sondern ausschließlich englische Interessen vertritt. In Wahrheit hängt dieser Polemiker, der so redet, als ob er mühelos mit Tod und Teufel fertig werden könnte, an verdammt kurzer Leine. Seine Regierung, die sich im Parlament von Fall zu Fall ihre Mehrheit suchen muß, braucht einen von der ganzen Nation anerkannten Erfolg. Snowden muß etwas nach Hause bringen, ein Faktum oder auch nur eine Illusion, jedenfalls etwas, das wie ein Mittel gegen die allgemeine würgende Sorge, gegen die Arbeitslosigkeit aussieht. Denn das Britische Reich ist nicht mehr das alte. Seine politische und wirtschaftliche Vormacht ist still an Amerika übergegangen, seine Dominien stehen gleichberechtigt neben der Mutter, seine koloniale Welt bebt. England steht wieder in einem nackten Existenzkampf und scheint gegen den robust anrückenden Generalmarsch der Rätsel und Schwierigkeiten geistig besser gerüstet als materiell. Fast wird Philip Snowden, dieser feine alte Intellektuellenkopf mit den lahmen Füßen, zum Symbol des Imperiums, das er im Haag repräsentiert.
Aber er ist nicht der einzige Gebundene. Da ist Herr Doktor Stresemann, der die baldige Rheinlandräumung mitbringen muß, wenn ihn nicht die Hugenbergwelle fortschwemmen soll, und da ist, schweigsam und pessimistisch, wie noch niemals, Aristide Briand, an eine reaktionäre Mischmaschregierung gekettet. So sind die wichtigsten Spieler ohne Bewegungsfreiheit, sie sind alle in falsche Rollen gedrängt, sie fühlen sich darin nicht wohl und recht unsicher in der neuen Gruppierung. England möchte am liebsten den ganzen Youngplan torpedieren, auch die Sachlieferungen, die auf seine Kohlenindustrie ungünstig wirken, beschränkt sich aber darauf, einen andern Verteilungsschlüssel zu fordern, weil es sich im Youngplan zu schlecht fortgekommen fühlt. In diesem Quotenstreit hat es die kleinern Mächte zur Seite, die sonst gewöhnlich hinter Frankreich stehen. Politisch wünscht es die sofortige Rheinlandräumung, ohne irgend ein Kontrollorgan für die Zukunft; läßt aber darüber mit sich reden. Frankreich verteidigt den Youngplan und die Sachlieferungen. Der Termin der Rheinlandräumung aber wird von dem abhängen, was Briand seinen Kollegen zuzumuten wagt. Frankreich erscheint diesmal allein, nur von Italien etwas dünn und nicht ohne Ironie akkompagniert, denn der Duce mag die Labourists nicht. Es ist unter diesen Umständen nicht ohne Witz, daß man sich einstweilen geeinigt hat, das Kompensationsobjekt für England von Italien beschaffen zu lassen.
Alles in allem: ein Bild von Verwirrung, von falschen Fronten und trügerischen Augenblicksallianzen. Daraus mag die eine oder andre der beteiligten Mächte ein Geschäft ziehen – die erhoffte letzte Bereinigung der Reparationsfragen ist das nicht. Es läßt sich schwer vorstellen, was aus diesem Durcheinander Gutes kommen soll. Das Günstigste wäre noch ein Kompromiß, das nicht für lange vorhalten wird.
Doch bei näherm Zusehen fällt eines auf: Deutschland und Frankreich stehen im Haag gleichermaßen isoliert. Und daraus sollten sich keine fruchtbaren Möglichkeiten ergeben? Solche glückhafte Konstellation kommt nicht oft in einem Jahrhundert vor. Pariser Pressestimmen beweisen, daß man es drüben erfaßt hat. In Deutschland wird kaum, und dann nur von höhnischen Glossierungen begleitet, davon Notiz genommen. Die wunderbare Gelegenheit zu einer Generalreinigung der deutsch-französischen Beziehungen vergeht ungenützt. Hier könnte die Grundlage geschaffen werden für eine ganz neue innere Gestaltung des Kontinents. Herr Stresemann hat in seiner Begrüßungsrede im Haag so schön von dem echten Führer gesprochen, der oft gegen die öffentliche Meinung seines Landes handeln muß, der aber den Mut zum Vorangehen in unbekannte Bereiche haben muß. Hic Rhodus, hic salta!
Denn wie diese Konferenz auch enden mag, man wird weder Briand noch Stresemann nachher bei der Heimkehr ein gemästetes Kalb schlachten, sondern ihnen nur vorwerfen, daß sie sich auf Halbheiten eingelassen hätten, die niemand nützen. Nur der englische Schatzkanzler, der die stark an ökonomische Dinge gebundene Phantasie der City entzündet hat, kann auf einen begeisterten Empfang rechnen, ob er nun auf ein paar ergatterte Millionen pochen kann oder ob er schließlich doch die Verhandlungen mit einem schrillen Nein beendet. Honoratioren von Handel und Industrie werden ihn emphatisch begrüßen, seinem Wagen die Pferdekräfte ausspannen und den Gefeierten unter dem Abgesang des Huldigungsliedes »He is an awfully nice fellow« von Victoria Station ins Treasury ziehen.
Die Weltbühne, 20. August 1929