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In der ›Vossischen Zeitung‹ hat neulich H. H. Stuckenschmidt, Professor Weißmanns Nachfolger, eine sensationell wirkende Attacke gegen die heute übliche Vergottung beliebter Dirigenten unternommen. Stuckenschmidt prophezeite mit einer vielleicht zu pupillarischen Sicherheit den baldigen Sturz des Kapellmeister-Stars, mit einem musikgeschichtlich wohlfundierten Urteil wandte er sich gegen die moderne Überwertung des Interpreten, der vom Publikum leicht mit dem Schöpfer verwechselt wird, weil er auf einem hohen, für alle sichtbaren Platz steht. Es ist noch nicht lange her, da hatte der Mann, den wir heute Dirigenten oder Orchesterleiter nennen, die bescheidene Funktion des Einstudierers, er war der Souffleur oder Inspizient der gemeinsamen Leistung einer Anzahl von Musikern. In Frankreich hat sich diese glanzlose Rolle des Kapellmeisters bis heute gehalten, in Rußland ist man wieder dorthin zurückgekehrt. Es ist hier nicht zu untersuchen, ob Herrn Stuckenschmidts ästhetische und soziologische Argumente zutreffend sind. Wenn er – pardon – den Taktstock zum Generalmarsch gegen die Exzellenzen des Dirigentenpultes erhebt, so ist das weniger als persönliche Äußerung wichtig sondern bedeutungsvoll vor allem durch die Wahl des Zeitpunktes. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß die Öffentlichkeit der in jüngster Vergangenheit ins ungemessene gewachsenen Kapellmeisterpolitik müde zu werden beginnt. Ein paar Jahre lang haben etwa sechs Musikprominenzen um die vorhandenen Plätze gekämpft, sie haben in dieser Zeit oft Parlamente, Magistrate und Presse mit größerer Intensität dirigiert als ihr Orchester. Jetzt sind Kränze und Krippen verteilt, die natürliche Reaktion setzt ein. Ob sich Stuckenschmidts Voraussage in ihrer ganzen Ausdehnung erfüllen wird, bleibe dahingestellt. Aber es liegt in der Zeit, daß heute wieder eine so nüchterne Fragestellung möglich ist, ohne daß lichterlohe Empörung ausbricht.
Etwas Ähnliches bereitet sich auch im berliner Theaterleben vor. Wenn die Zeichen nicht trügen, so werden die sogenannten Prominenten, die wahren Sieger und Profiteure dieser zehnjährigen Theaterkrise, demnächst um ihren Thron kämpfen müssen. Seit langem ist das Starwesen, auf dem der größte Teil der berliner Theaterwirtschaft ruht, mit guten Gründen kritisiert worden. Es ist mit Recht betont worden, daß die Riesengagen der Stars durch Unterernährung der weniger berühmten Kollegen herausgeholt werden müssen; ästhetisch aber bedeutet der Vorrang des Stars Auflösung des Ensembles, Seriensystem an Stelle vernünftig gemischten Repertoires, Verarmung des Dramas, von dem keine andre Qualität verlangt wird als eine für den Prominenten auf den Leib zugeschnittene Rolle. Das ist jahrelang gesagt worden, und zwar mit sehr geringem Effekt. In diesen Tagen dagegen merkt man überall den gründlichen Stimmungsumschlag. Was ist eigentlich geschehen? Es hat nur ein Einzelner öffentlich protestiert, und plötzlich sagen alle Ja und haben es schon immer gewußt.
Es ist kein Mann aus der Kritikergilde sondern ein Theaterdirektor, Herr Doktor Robert Klein, der das Wort gefunden hat, das alle als das erlösende empfinden. Plötzlich ist die bedingungslose Anbetung der Stars überall umgeschlagen in Lästerungen gegen ihre Tyrannei. Es ist sehr symptomatisch für die Stärke des lange unter der Oberfläche schlummernden Gefühls, daß eine einzige schroffe Formulierung solche Wirkung haben kann. Selbst ein so illusionsloser Theaterkenner wie Felix Hollaender ist geneigt, in Herrn Klein einen neuen Luther zu sehen, den unerbittlichen Rufer zur Reformation der berliner Schaubühnen, und mit mehr oder weniger Temperament stimmen ihm die meisten Kritiker bei. Dabei ist grade der Konflikt Bergner Klein kein klassischer Anlaß, dem Herrn Direktor Ovationen zu bereiten.
Herr Klein ist nämlich kein Bahnbrecher einer bessern Zeit sondern nur der Nutznießer des stillen Überdrusses am Starwesen. In Wahrheit unterscheidet sich sein System in Nichts von dem der übrigen Theaterdirektoren und sein Appell »An Alle« ist trotz einiger Herzenstöne nicht mehr als ein überaus geschickter Versuch, vom Kernpunkt des Streites abzulenken und die eignen direktorialen Interessen in den Schutz der Öffentlichkeit zu stellen. Frau Bergner gilt in den Theaterkanzleien ganz gewiß für schwierig, aber in diesem Fall wäre es ein Unrecht, sie einseitig zu belasten. Herr Klein hatte nämlich selbst triftige Gründe, sie ins Berliner Theater abzuschieben, weil er die Absicht hatte, das Deutsche Künstlertheater an Hartung zu vermieten; andrerseits war für die Monate Januar und Februar Albert Bassermann engagiert, und zwar für den Fall, daß das Künstlertheater nicht disponibel wäre, gleichfalls für das Berliner Theater, womit Bassermann sich einverstanden erklärte. Wäre aber Frau Bergner bereit gewesen, ins Berliner Theater überzusiedeln, so wäre dies für Bassermann gesperrt gewesen, Herr Klein hätte dann entweder den Kontrakt mit Bassermann brechen oder Wartegeld zahlen müssen. Aus dieser Zwickmühle befreite ihn die ihm wohlbekannte Abneigung Frau Bergners gegen das Berliner Theater, mit dem sie aus akustischen Gründen nicht fertig wird und das ihr auch sonst unangenehm ist. Die Abneigung gegen bestimmte Theaterhäuser ist unter Schauspielern nichts Neues und kann bizarre Formen annehmen. Man kann die advokatorische Geschicklichkeit Herrn Doktor Kleins bewundern und die seelische Muskelkraft seines Vorgehens gegen eine zarte und leidende Künstlerin, aber eine reformatorische Tat sieht anders aus. Bemerkenswert ist nur das Echo, das seine gut einstudierte Flucht an die Öffentlichkeit gefunden hat. Die Prominentendämmerung hat begonnen.
Es wäre zu wünschen, daß jetzt nicht gleich urteilslos ein Extrem gegen das andre vertauscht wird. Im Grunde sind ja an dem Starwesen die Künstler am wenigsten schuldig. Kein Schauspieler kann deswegen zur Rechenschaft gezogen werden, weil er aus der vielleicht herzlich kurzen Zeit seiner Berühmtheit so viel wie möglich herauszuholen sucht. Es wäre die Pflicht der Theaterleiter gewesen, hier recht zeitig Barrieren zu schaffen. Das ist aber nicht geschehen. Die Direktoren haben an der Verwilderung unsres Theaterwesens ihr gerüttelt Maß Schuld. Die Herren haben bereitwilligst ein System aufgenommen und ausgebaut, das ihnen erlaubte, Pflege des Spielplans durch die nackte Rollensensation zu ersetzen. Verantwortlich für diese Entwicklung ist aber auch die Theaterkritik, die unermüdlich neue Prominente entdeckt und erhebt: begabte Chargenspieler, die auf einen flüchtigen Eindruck hin durch Vergleiche mit den Allerbesten bedenkenlos nobilitiert und oft nach ein paar Monaten schon ohne bessere Gründe ebenso bedenkenlos in das Gehenna der ewigen Bedeutungslosigkeit verwiesen werden. Die Tätigkeit der Kritik soll ordnend sein, statt dessen verwirrt sie; Gefühl für Unterschied soll sie wecken, statt dessen wirft sie Mittelmaß und Größe durcheinander und behilft sich mit der Notkonstruktion der »Prominenz«, die vom Reklamezettel stammt und über die künstlerische Bedeutung gar nichts aussagt sondern nur die Sprosse an der Gagenleiter bestimmt. Wenn die Hochmögenden der Kritik Herrn Klein so bewegt applaudieren, so bedeutet das nur, daß ihnen allmählich vor einem Zustand graut, gegen den sie ziemlich wenig unternommen haben, den die meisten von ihnen als den unerschütterlichen Boden der Tatsachen betrachtet haben. Mindestens aber kann man verlangen, daß jetzt, wo die Anzeichen des baldigen und wahrscheinlich recht radikalen Rückschlags da sind, die Herren sich nicht unschuldig und unbeteiligt stellen, und, wenn die Mode schon das neue Extrem verlangt, nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschütten, was wieder eine grobe Ungerechtigkeit wäre gegen die Künstler, deren Verblendung sie genährt haben. Von Rechts wegen müßten sie den Wein austrinken, in dem sie ihre Lieblinge gebadet haben.
Die Weltbühne. 31. Dezember 1929