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Das ist nun auch wieder zehn Jahre her. Zwar wußte damals jedes Kind, daß katastrophale Ereignisse bevorstanden, nur die hohen republikanischen Amtsstellen blickten versonnen in den deutschen Frühling von 1920. Zwar hatte noch am Tag vorher die ›Berliner Volkszeitung‹ unmißverständliche Nachrichten aus den Militärlagern gebracht, aber Herr Ulrich Rauscher, der heute für einen großen Diplomaten gehalten wird, weil er in Warschau die dicksten Schlachzizen untern Tisch trinkt, wollte die Warnung mit einem Verbot des ruhestörenden demokratischen Organs ahnden. Denn Gustav Noske hatte gesagt: Alles in Ordnung! – und Noskes Wort galt. Am Abend saßen Preußen und das Reich noch friedlich in einer Jeßnerpremiere, und als sie aus dem Theater kamen, da wälzte sich schon ein phantastischer grauer Heerwurm von Döberitz nach Berlin. Die Brigade Ehrhardt war da. Die Brigade Ebert rückte ab.
Es ist heute sehr schwer, sich in die Bizarrerie jener Tage zurückzuversetzen. Was die Spitzen der jungen Republik damals geleistet haben, wird uns in den Jubiläumsnummern der Linksblätter bald reichlich und überreichlich in Erinnerung gebracht werden. Nichts wird uns erspart bleiben, nicht die Kaltblütigkeit Eberts, nicht die lächelnde Überlegenheit Eugen Schiffers. Und vielleicht werden auch ein paar Worte vom üppig gedeckten Honoratiorentisch für die Millionen Namenloser abfallen, die in einem imposanten Massenstreik den Anschlag der Rebellen abwehrten und in drei heroischen Tagen die Generale zu zähneknirschender Resignation zwangen. Heute hat sich allerdings schon die freundliche Lesart eingebürgert, daß die überlegene Suada des Nationalliberalen Schiffer viel mehr bewirkt habe als Streik, Demonstrationen oder gar der bewaffnete Widerstand im Ruhrrevier. Kaum waren denn auch die weißen Generale abgezogen, so wurde auch schon der rote Teufel an die Wand gemalt. Die inzwischen wieder in Berlin eingetroffene Republik dankte ihren Verteidigern, indem sie zur Pazifizierung des Landes Truppen losließ, die eben noch als eidbrüchig und rebellisch betrachtet worden waren. In Westfalen durfte Watter Massakers veranstalten, überall fanden Razzien auf Republikaner statt, in einem berliner Außenbezirk wurde ein leidenschaftlicher Sozialist wie Alexander Futran als »Spartakist« erschossen. Gebrochen wurden alle von der wiedergekehrten Regierung gemachten Versprechen, gebrochen wurde das mit den Gewerkschaften in Bielefeld geschlossene Abkommen. Zwar mußte Noske endlich abgeschoben werden, doch dafür kam Otto Geßler. Generalissimus wurde Herr von Seeckt, der sich in den Tagen der Gefahr in kühler Neutralität gehalten hatte, nicht General Reinhardt, der einzige hohe Kommandeur, der sich bereit erklärt hatte, die Meuterer mit dem Degen in der Faust am Brandenburger Tor zu empfangen.
Niemals ist gutgemacht worden, was im März 1920 verfehlt worden ist. Nur einmal noch – und zwar nach der Ermordung Walther Rathenaus – gab es eine ähnliche Chance. Nur im März 1920 und im Juni 1922 sah der Deutsche die Republik so, wie sie der Franzose immer gesehen hat: nämlich kämpferisch, als Tochter der Freiheit, mit der phrygischen Mütze, nicht mit der von den alten Jungfern der weimarer Nationalversammlung gehäkelten Schlafhaube. So wie sie Eugène Delacroix gesehen hat: auf der Barrikade die Fahne schwingend, inmitten von pulvergeschwärzten Männern. Damals hätte die deutsche Republik einen Inhalt bekommen können, eine Idee, an der sich Gemeinschaftsgeist entzünden kann. Das ist endgültig vorbei.
Vor zehn Jahren stand jedes antirepublikanische Unternehmen noch im Schatten der Dynastie Hohenzollern. Der monarchische Gedanke hat seitdem gründlich abgewirtschaftet, nicht weil die Republik so energisch gewesen ist, sondern weil die Monarchisten überhaupt nicht sehr einladend aussahen und es ihnen immer an einem zugkräftigen Prätendenten gefehlt hat. Vor zehn Jahren waren die maßgebenden Kreise der Wirtschaft noch durchaus monarchistisch gerichtet, doch dann kam ihnen die große Erkenntnis, daß die republikanische Form nichts am Charakter des Klassenstaates zu ändern braucht, daß die Demokratie kein Hindernis bildet, die schon vorhandenen Privilegien der Besitzenden zu vergrößern und zu vervollkommnen. Nicht die Anziehungskraft der Republik hat zugenommen, ihre Gegner sind klüger, sind elastischer geworden. Sie wissen jetzt, daß es lohnender ist, dabei zu sein und mitzutun als draußen zu stehn und Steine durchs Fenster zu werfen.
So ist aus alledem der Begriff der regierenden Mitte entstanden. Im Gegensatz zu Frankreich hat unser Republikanertum niemals Wert darauf gelegt, »links« zu sein. Die französischen Radikalen, die auch eine recht gemischte Gesellschaft sind, erneuern sich trotzdem immer wieder an dem Gedanken des Kartells, der Union aller linken Gruppen. Man vergleiche die saubere Schärfe, mit der jetzt Camille Chautemps gegenüber André Tardieu operiert hat, mit der Duckmäuserei der deutschen Demokraten – nein, die zählen nicht mehr – man muß schon die Regierungssozialisten selbst zum Vergleich nehmen, um den Kontrast zwischen funktionierender und ewig mit Panne behafteter Demokratie klarzulegen. Wir wollen Frankreich gar nicht als das demokratische Musterland hinstellen, es gibt da auch genug Rostflecken, aber was sich drüben erhalten und vervollkommnet hat, gibt es hier nicht: das ist die Begabung für die Republik. Das meiste, was im Reichstag und in der Wilhelm-Straße geschieht, ist so geschickt angelegt, daß es nicht einzelnen Personen und Parteien sondern immer dem ganzen System zur Last gelegt werden kann. Niemals ist infolgedessen von der Mißwirtschaft eines Kabinetts, von dem Versagen einer Koalition die Rede, immer geht ein Fehlschlag zu Lasten der Staatsform. Die guten Leute von der Demopresse, die für mildernde Umstände plaidieren und so gern darlegen, wie fleißig im Reichstag in den Kommissionen gearbeitet werde, vergessen das.
Die Gefahr von heute heißt nicht Hugenberg sondern Hermann Müller oder Severing oder Koch-Weser. Die ärgste Bedrohung liegt nicht in den Plänen der Rechtsradikalen sondern in den nicht vorhandenen Plänen der republikanischen Parteiführungen. Vor zehn Jahren zogen brüllende Landsknechtshaufen in Berlin ein und forderten ihren Kaiser wieder, forderten Krieg gegen den Erbfeind, forderten die Häupter der Novemberverbrecher. Solche Taktlosigkeiten überläßt man heute den Nationalsozialisten; ein kleiner Cauchemar für die Regierenden, der den Spesenaufwand schon wert ist, nicht mehr. Heute heißt es praktischer: Abbau der Sozialpolitik, heißt es: Rationalisierung. Die Parolen sind neu geworden, die Leute, die sie ausgeben, sind die Alten, und die Republikaner haben zwar auch noch ihre alten Leute, aber neue Parolen haben sie nicht gefunden. Mindestens seit der Ära Stinnes ist der Kampf immer mehr auf rein wirtschaftliches Terrain gerückt. Aber die Republikaner haben dafür keine Terminologie gefunden, und manchmal scheint es, daß sie noch nicht einmal den veränderten Zustand sehen.
In ein paar Tagen wird vielleicht auch das Geraufe um den Youngplan beendet sein, irgend ein parlamentarischer Schlaumeier wird schon die sozusagen erlösende Formel gefunden haben. Und dann wird im Zeitungsviertel eitel Glück sein. Jubelhymnen werden angestimmt werden: es ist wieder einmal geschafft! Das ist eben der Grundirrtum der Herren, in einer vorübergehenden Auflockerung des parlamentarischen Knäuels schon so etwas wie eine Lösung zu sehen. Ein Kompromiß ist endlich gelungen, eine Gesetzesvorlage mit Ach und Krach durchgepeitscht – aber, was bedeutet das?
Die ganze deutsche Politik von heute ist wie ein schlechter Film auf happy end gestellt. In der Politik gilt aber nicht nur das Ende sondern auch der Weg. Die Art, wie ein guter Ausgang herbeigeführt wird, ist nicht weniger wichtig als dieser selbst. Das hat man von Anfang an nicht beachtet, und was sich in diesen letzten Wochen im Reichstag abgespielt hat, das ist wirklich geeignet, dem parlamentarisch-demokratischen Regime den Rest an Reputation zu nehmen. Die stärksten Kräfte liegen schon lange nicht mehr bei der regierenden Mitte, sie liegen links und rechts davon. Und unabhängig von der kommunistischen und nationalistischen Opposition bildet sich die große, noch gar nicht abschätzbare Front derer, die die Nase voll haben, die nicht mehr mitmachen. Wohin werden diese Massen einmal in einer Stunde der Entscheidung fallen?
Zehn Jahre nach der Niederwerfung der Kapp-Rebellion durch streikende Arbeiter brütet die Regierung über dem Republikschutzgesetz. Das bedeutet die Legalisierung, die Verewigung der Noskemethoden. Wer, Herr Minister Severing, soll eigentlich die Republik verteidigen, wenn nicht die Scharen der Arbeiter, die Objekte dieses Gesetzes werden sollen –? Gewiß, die Geschichte wiederholt sich nicht. Der Marsch von Döberitz ins Herz von Berlin war eine Einmaligkeit. Die Reaktion hat inzwischen die unterirdischen Zugänge kennen gelernt, sie kennt sich, vor allem, in den Schlupfwinkeln und Hintertüren der Verfassung gut aus; sie kann auf die offene Emeute verzichten. Ohne sich für das Privatleben der Herren Minister interessieren zu wollen – manchmal möchte man doch wissen, ob sie gut schlafen, ob sie nicht im Traum von dem Bilde eines unheimlichen Mannes gequält werden, der ruhig und trocken vollendet, was den Lüttwitzen nicht gelang und der der Nachrichter einer verfehlten Epoche deutscher Geschichte werden wird. Im Hintergrund von alledem lauert der Fascismus, und die Kräfte, die ihn abwehren sollten, tun alles, um die Situation für seinen Sieg reif zu machen. Einmal werden sich die braven Republikaner wie der arme Selbstmordkandidat Wedekinds sagen müssen, daß sie in Ägypten gewesen sind und die Pyramiden nicht gesehen haben.
Die Weltbühne, 11. März 1930