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Wie Kenner meinten, sollte die größere Aktivität der österreichischen Heimwehren ursprünglich Mitte September einsetzen, mit dem Abflauen des Fremdenverkehrs. Nun hat der Tatendrang steierischer Dorfhelden den Vorhang zu früh aufgezogen, und die Histrionen stehen verwirrt. Statt des Signals zum Marsch auf Wien ist der ungenierte Disput gekommen, was ein Rechtsputsch für das österreichische Staatswesen bedeuten würde. Daß die benachbarten Diktaturstaaten nicht ruhig bleiben würden, ist gewiß, aber auch die Tschechen würden, etwa durch den Einmarsch der Ungarn ins Burgenland, auf die Beine gebracht werden. Und englische Zeitungen richteten in den letzten Tagen sehr präzisierte Warnungen an den österreichischen Bundeskanzler, aus denen sich ergibt, daß das Kabinett MacDonald über das Komplott der Weißen informiert ist und dem Unternehmen nicht wohl will. Natürlich heizt die deutsche Rechtspresse gehörig ein. Diese Sorge, Österreich nicht zur inneren Abrüstung kommen zu lassen, ist wohl verständlich, denn es ist ja das Experimentierland des deutschen Fascismus. Dort soll die Orchesterprobe für das größere Spiel vor sich gehen.
Jedenfalls fühlt sich unsre sogenannte nationale Opposition durch die österreichischen Ereignisse recht gekräftigt. Es geht ihr übrigens auch sonst nicht schlecht, denn sie hat durch den kläglichen Verlauf der haager Konferenz neues Futter erhalten. Selbstverständlich würde auch Hugenberg als deutscher Machthaber nicht gleich mit geschwungenem Schirm in die Hermannsschlacht ziehen. Hugenberg ist ein Straßenkämpfer, kein Grabensoldat. Seine Ziele liegen im Innern, aber seinen besten Agitationsstoff hat er sich immer von der Außenpolitik geholt.
Was geschieht eigentlich im Haag? Die deutsche Presse pendelt unvermittelt zwischen Verzagtheit und Hoffnung, aber ein rundes Bild gelingt ihr nirgends. Vornehmlich beschränkt man sich darauf, den Schuldigen zu suchen. Aber auch hier klaffen die Meinungen auseinander. Die ›Frankfurter Zeitung‹, zum Beispiel, belastet allein Briand und feiert Snowden als guten Patron der deutschen Sache: »Er (Snowden) wollte erstens für England Vorteile gegenüber der Regelung der pariser Experten mit nach Hause bringen; das war das erstrebte Geschäft. Aber er wollte zweifellos außerdem – und das war wieder die gute Politik – mit der Energie seiner finanziellen Forderungen einen Druck auf Frankreich ausüben, daß es sich in der Räumungsfrage nun endlich entschließe.« Also Frankreich will à tout prix die Okkupation so lange wie möglich ausdehnen, aber Labourman will Deutschland seinen freien Rhein zurückgeben. Doch in den ›Sozialistischen Monatsheften‹ schreibt der Abgeordnete Quessel: »Überhaupt scheint es notwendig, darauf hinzuweisen, daß die Rheinlandsräumung für Frankreich nach Annahme des Youngplans eine Selbstverständlichkeit ist. Ja, noch mehr. Es scheint in Paris auch keine Neigung vorhanden zu sein, Englands starkes Interesse an einer dauernden Rheinlandkontrolle verschleiern zu lassen. Man weiß, daß die Neutralisierung des Rheins von Rotterdam bis Basel ein Lieblingsgedanke der britischen Generalität ist. England will sich mit seinen Truppen gewiß nicht dauernd am Rhein festsetzen, aber es will auch nicht deutsche oder französische Truppen am Rhein sehen ... An der Neutralisierung der Rheinlande durch eine Dauerkontrolle ist London stark interessiert, weil es den Rhein als den kontinentalen Grenzgraben des britischen Weltreiches ansieht ... Natürlich wird England im Haag bestrebt sein, seine grundsätzliche Zustimmung zu einer Dauerkontrolle des Rheins so hinzustellen, als ob es damit lediglich einen Wunsch Frankreichs erfülle. Dieses Spiel will man aber dies Mal von Paris nicht mitmachen.« Die Verschiedenheit dieser beiden Auffassungen ist unverkennbar. Ist Briand weiß, ist Snowden schwarz? Oder umgekehrt? Wenn aber hier zwei Stellen, wo immer konstruktiv und denkend gearbeitet wird, so differieren, was kann man dann von andern verlangen, die ihre hochwichtigen Verdikte auf Grund der letzten Zufallsinformation durchs Telephon tuten? Hat dies Diabolospiel aber einen Sinn?
Keine der großen Konferenzen bisher war so unbehelligt von nationalistischen Hetzteufeleien wie diese. Es geht auch nicht wie früher der Kampf um große Grundprinzipien, nicht Bellizisten und Pazifisten stehen sich gegenüber, keine der großen Mächte vertritt ein offensichtliches Unrecht oder eine Anmaßung, mindestens drei der Mächte pochen auf die Erfüllung von gleich gut begründeten Forderungen. Deutschlands Räumungsverlangen ist nicht weniger berechtigt als Englands Wunsch nach einer bessern Quote, aber auch Frankreich ist zu begreifen, wenn es sich sträubt, England finanzielle Zugeständnisse zu machen und zugleich in der Räumungsfrage Deutschland bedingungslos nachzugeben. Wenn die ›Frankfurter Zeitung‹ meinte, Snowden handle zugleich als Deutschlands Sachwalter, so kann mit gleichem Fug gesagt werden, daß seine Aggressivität auch auf Frankreichs Verständigungswillen nicht günstig einwirkt. Denn eins ist doch wohl unbestreitbar: die deutsche Frage an die Konferenz kann nicht eher spruchreif werden, ehe sich nicht die Andern einig geworden sind. Wenn sich aber der englische Schatzkanzler jeden einzelnen Verhandlungspartner vornimmt und ihn zunächst mit einem seiner schrecklichen Hiebe in zwei Teile spaltet, dann in tagelangen Einzelverhandlungen die Stücke gewissenhaft zu Kleinholz verarbeitet, dann wieder tagelang verschnauft, um in Muße zu überlegen, wer jetzt an die Reihe kommt, so mag ein solches Verfahren All Britain auf ihren Champion stolz machen, aber es sollte auch außerhalb Englands einleuchten, daß diese methodische Destruktion der Gegner der Tod der Konferenz ist. Als die deutsche Delegation jedoch wirklich einmal auf Snowdens Unterstützung rechnete, als nämlich Herr Stresemann fragte, was denn nun nach dem 1. September werden solle, da antwortete Snowden nicht anders als Briand, daß der Dawesplan eben in Kraft bleiben müsse. Mit diesem Schutzengel ist es also nichts Rechtes.
Ganz richtig jedoch meint die ›Frankfurter Zeitung‹, Briand habe Angst vor der innern Politik. Das stimmt. Aber es stimmt auch, daß das Gleiche für Stresemann gilt. Wenn nicht alles trügt, steht der seit Locarno verfolgte Kurs vor einer Schicksalswende. Die von Hugenberg ausgehende Oppositionsstimmung frißt sich weiter, der Mitte zu. Stresemanns eigne Partei ist niemals besonders kapitelfest gewesen, wenn von rechts unwirsch gefragt wurde: Wie lange noch? Und im Zentrum wartet der begabte Herr Prälat Kaas, der vielleicht nicht grade mit der Nachfolge Stresemanns, aber doch mit einer Position rechnet, von der aus er das Auswärtige Amt maßgeblich beeinflussen kann, und der auf seiner reichen Klaviatur auch die grollenden Töne des unterdrückten Rheinlandes zur Verfügung hat und gewiß seine eigne Musik machen wird, wenn die Hand, die heute noch den Taktstock der Außenpolitik führt, müde wird. Und diese Hand ist zur Zeit mindestens sehr nervös.
Stresemann ist der Gefangene seiner frühern Erfolge. Man erwartet mehr von ihm als er schaffen kann, es hat sich gleichsam eine Erfolgspsychose um ihn verbreitet. Er ist aber auch nur ein Stückchen der schwierigen und unglücklichen haager Konstellation und nicht ihr Meister. Weil er aber fürchten mußte, daß seine notgedrungene Untätigkeit während des endlosen Quotenstreits zu Hause als Laschheit ausgelegt werden würde, brachte er schließlich die deutschen Schmerzen aufs Tapet, erzwang er Diskussion darüber, was zu tun sei, wenn der Youngplan am 1. September noch nicht gültig wäre. In unsrer republikanischen Presse herrscht viel Genugtuung darüber, daß »endlich etwas geschehen sei« und »Stresemanns Initiative die Konferenz endlich in Fluß gebracht habe«. Es soll nicht verschwiegen werden, daß außerhalb der demokratischen Redaktionen Stresemanns Schritt ganz anders beurteilt wird, der Eindruck sogar ein katastrophaler ist. Nicht verstanden wird, daß der Schuldner es sein muß, der die Gläubiger, die ihn scheren sollen, zum Frieden mahnt. Gewiß sind mit dem Inkrafttreten des Youngplans zunächst Erleichterungen verbunden, aber im deutschen Publikum fehlt der in England so verbreitete Sinn für finanzpolitische Dinge. Jetzt kann man wieder überall hören, daß die Erfüllungspolitiker in einem gradezu masochistischen Rausch Deutschland gebunden den Shylocks ausgeliefert haben. Die psychologische Wirkung der deutschen Initiative auf Die zu Hause hätte besser berechnet werden müssen. Der Ball, den Stresemann zwischen die zankenden Verhandlungspartner werfen wollte, ist fehlgegangen und in Hugenbergs Hauptquartier gerollt.
Ein Erfolg mußte mitgebracht werden, man konnte nicht mehr warten, denn man war der Innenpolitik verpflichtet. Es wäre wohl auch noch möglich gewesen, von vornherein mit Briand in Verbindung zu kommen; der Friedensfürst Aristides ist schließlich die Kreation der Wilhelm-Straße. Man darf auch nicht vergessen, daß die tapfern Gladiatoren im Haag alle an den Seilen des Gläubigers Amerika zappeln. Dafür hat man nirgends mehr Verständnis als in Paris, während man in England grade jetzt neue freundschaftliche Bindung an Amerika sucht. Doch die deutsche Delegation stellte sich drei Wochen ruhig in den Schatten Snowdens, vertrauensvoll annehmend, der Schatzkanzler vertrete auch ihre Sache. Damit wurde Deutschland aber zum stillen Satelliten Englands, grade als die Auseinandersetzungen am wildesten waren. Während die französische Presse England nachsagte, es wolle den Youngplan ruinieren, konnte man im ›New Statesman‹, der Revue der Labourelite, eine wahre Freudenkundgebung über das Ende der englisch-französischen Freundschaft lesen. Es wäre höchst unwahrscheinlich, hieß es da, daß sich im Falle eines kommenden Krieges Frankreich und England im selben Lager befinden würden ... Angesichts solcher Maßlosigkeit war es lebensgefährlich, in der deutschen Presse die Version verbreiten zu lassen, Snowden verfechte auch die deutschen Interessen, eine Version, die, wie sich gezeigt hat, nicht einmal stimmt. Deshalb darf man sich auch nicht wundern, wenn Briand jetzt verschnupft ist und nicht mehr leicht mit sich handeln läßt. Und deshalb muß man jetzt mit der Möglichkeit rechnen, daß Deutschland, das sich in Englands Hände begeben hat, schließlich noch dessen Kompensationsobjekt wird und die Differenzen der Andern aus seiner Tasche begleichen muß. Das ist eine sehr böse Entwicklung. Briand, so sagt man, fürchtet die Erinnerung an Cannes 1922. Und ein zweites Cannes werde ihm bereitet werden, wenn er sich nicht durchzusetzen vermag. Aber Stresemann riskiert ein Cannae.
Die Weltbühne, 27. August 1929