Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Jahre 476 endlich stürzte der Barbarenführer Odoaker den Pannonier, der damals unter dem eindrucksvollen Namen Romulus Augustulus auf dem Thron saß, und ließ am Hofe zu Konstantinopel melden, daß es im Westen keinen Kaiser mehr gebe. Dies war das ruhmlose Ende des lateinisch-römischen Reiches.
H. G. Wells: Geschichte unsrer Welt.
Es läßt sich nicht sagen, daß die Besprechungen mit den Parteien, die Reichskanzler Brüning in diesen Tagen abhält, als besonders aussichtsvoll zu betrachten sind. Denn Herr Brüning verhandelt nicht über ein zu bildendes Programm, er hat es schon fertig daliegen und fordert nur ein Ja oder Nein. Ihm nahestehende Blätter haben bereits versichert, daß er nicht zögern werde, auch ohne Reichstag zu regieren.
Aber wie glaubt der Kanzler mit diesem Programm durchzukommen? Seine Basis ist ganz schmal, denn keine Partei wird wagen, sich offen mit diesen Hungervorlagen zu solidarisieren, und es bleibt zur Unterstützung nur die Reichswehr. Der leipziger Prozeß hat uns belehrt, daß die Herren Offiziere nicht so leicht zum Schießen zu bewegen sind, mindestens nicht ohne vorherige Abstimmung. Es ist immerhin tröstlich, daß in einer Periode der allgemeinen Verzweiflung am Parlamentarismus wenigstens eine Institution noch unverbrüchlich an parlamentarischen Formen festhält, aber eine Garantie gegen einen Putsch ist das grade nicht. Herr Brüning ist auch nicht der Mann der imponierenden Kommandotöne. Brüning als Diktator, das ist der Souffleur als Heldenspieler, der Sterndeuter als handelnder Mensch, Seni als Wallenstein.
Wahrscheinlich würde ein weniger doktrinärer Politiker es sich auch dreimal überlegen, mit diesen Vorlagen ans Licht zu gehen. Die Reichsregierung hätte sich den beteuernden Schlußsatz sparen können, daß sie von allen Teilen des Volkes Opfer fordere. Das ist nicht wahr. Ihre Pläne belasten nur die wirtschaftlich Schwachen, während Kapitalisten und Grundbesitzern eine Steuersenkung von 400 Millionen zuteil werden soll. Dafür tritt für alle Beamten eine Gehaltskürzung von 6 Prozent in Kraft; Auftakt zu einem allgemeinen Lohndruck. Dafür wird die Arbeitslosenversicherung dem langsamen Verfall ausgesetzt, der Wohnungsbau vermindert, der Mieterschutz abgetragen. Das Lebensniveau wird gesenkt, ohne daß ein Ausweg ins Bessere auch nur angedeutet wäre. Man muß die Dinge mit der Verblendung der schwerindustriellen deutschen Allgemeinen Zeitung betrachten, um zu diesem Schluß zu kommen: »Das Kabinett kämpft dafür und muß weiter dafür kämpfen, daß wieder ein Schuß von wirtschaftlichem Liberalismus das erstarrte ökonomische und soziale Gefüge auflockert, der Unternehmerinitiative neue Möglichkeiten und Wege ebnet.« Was die Regierung vorhat, ist keine Sanierung, sondern eine Stabilisierung des Hungers. Initiative? Die Misere wird fixiert, ein Intermezzo in eine Perennität verwandelt.
Wir schreiben wieder Oktober, und alles erinnert an Oktober Achtzehn, an Oktober Dreiundzwanzig. Ein paar Leute tun so, als ob sie regierten und glauben es auch wohl selbst. In Wahrheit aber ist es die ewig gleich geschäftige Tretmühle der Administration, die den Irrtum möglich macht, es gäbe noch eine Staatsgewalt. Weil die Postschalter noch offen sind, glaubt man, der Herr Reichskanzler habe noch zu sagen. Die Regierung ist nur noch ein selbstgefällig wackelndes, aufgeblasenes Zero, um das sich niemand kümmert, und das in dem Augenblick platzen wird, wo es sich vertrauensvoll auf die Bajonette setzt.
Und wo sind nun die Abwehrkräfte? Sind sie überhaupt noch vorhanden? Gibt es noch Republikaner? Der Nationalsozialismus wird nicht abnehmen, so lange die Armee der Verzweifelten ständig neuen Zuzug erhält. Der Griff nach den Beamtengehältern wird Zehntausende von Funktionären des Staates der neuen Heilslehre willfährig machen, mißlungene Lohnbewegungen werden ungezählte Arbeiter und Angestellte nach dorthin treiben, wo wenigstens Bewegung ist, nicht schweigendes Verwesen. Mag auch Hitler ein Narr in Folio sein, ein übergeklappter leopoldstädter Heringsbändiger – dieser selbstberufene Gladiator der deutschen Nation fühlt doch, daß Politik eine öffentliche Sache ist, die in den Schubkästen der Fraktions- und Verbandskanzleien verschimmelt.
Der Kampf gegen den Fascismus liegt heute allein bei der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei. Das Bürgertum mag dazu einige beachtliche intellektuelle Kräfte stellen, organisierte Potenzen hat es nicht mehr aufzuweisen. Begreifen die beiden echten Arbeiterparteien nicht, daß es an der Zeit ist, der Pseudo-Arbeiterpartei, die ihrer beider Existenz bedroht, das Paroli zu bieten? Gewiß, zwischen ihnen liegt ein hoch getürmter Wall von geredetem und gedrucktem Unflat. Gibt es denn keinen Herkules, der einen Weg schaufelt durch diesen gefrorenen Propagandamist? Bei den Kommunisten blickt man neidisch nach den sechs Millionen der Nazis und spekuliert: Die gehören eigentlich zu uns! Ein gewaltiger Irrtum, denn was bei Hitler nicht Treibsand ist, denkt und fühlt bürgerlich und militaristisch und lehnt den Klassenkampf als nicht fein genug ab. Die sozialdemokratischen Führer wieder blicken fasziniert nach dem Zentrum und hoffen noch schwach auf eine Renaissance alter Koalitionen, wie die wohl mehr als taktischer Art zu bewertende Entschließung der Reichstagsfraktion bezeugt. Die Arbeiter indessen sind kaum mehr zu bremsen, und der Parteivorstand wird sich bald ein besseres Rezept aussuchen müssen, als das jetzt praktizierte: radikale Reden und unverbindliche Resolutionen. Auf der letzten berliner Funktionärversammlung, wo Aufhäuser sprach, schlug ein ungewohntes Feuer durch. Dort wurde zum Beispiel ein Antrag eingebracht, der ein offenes Mißtrauensvotum gegen die Regierung Brüning forderte und sich scharf gegen die vom Parteiausschuß vertretene Ansicht wandte, die Notverordnungen dem Steuerausschuß zu überweisen. Weiter war darin die Erwartung ausgedrückt, daß die berliner Abgeordneten eventuell auch gegen den Willen der Fraktionsmehrheit diese Politik verfolgen würden. Natürlich wurde der Antrag niederkartätscht, aber es ist bezeichnend, daß er in diesem sorgfältig gesiebten Gremium fünfzig Stimmen fand und die Parteipresse bis heute gezögert hat, ihn wörtlich zu bringen.
Finden die beiden sozialistischen Parteien sich nicht in einer gemeinsamen Abwehrfront zusammen, dann gibt es gegen den Fascismus keinen Halt mehr. Der Staatsapparat, ohnehin reaktionär und unrepublikanisch, ist zu seiner auch offiziellen Aufnahme bestens vorbereitet. Herr Brüning fühlt sich als Kanzler der Sanierung. Aber er ist kein Beginn, kein Übergang, er ist ein Letzter. Er ist der Romulus Augustulus unter den Kanzlern der demokratischen Republik, den das Schicksal bestimmt hat, die Kapitulation vor den Barbaren zu unterzeichnen. Romulus Augustulus – das ist ein Name, bei dem sich die Geschichte nicht aufhält, wir denken uns nicht viel dabei, und für eine Sekunde nur huscht eine Vision vorüber von niedergemähten Legionen und einem schwachen kranken Knaben mit zitternden dünnen Gliedern und einem Kopf, so alt und welk wie das alte welke römische Reich.
Die Weltbühne. 7. Oktober 1930