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Keusche Liebe

Als ich unlängst ging vorüber,
Wo mein Liebchen einst gewohnt,
Hat ein unerquicklich trüber
Anblick schlecht den Gang belohnt.

Frechen Blickes sah ein Wesen
Aus dem nied'ren Mezzanin,
Das Frau Venus sich erlesen,
Ird'scher Lieb' zur Priesterin.

Arm und Nacken, Schultern, Büste
Bot sie nackt der Schaulust dar,
Und – ein Glutenherd der Lüste –
Funkelnd sprach das Augenpaar.

So im breiten Strom der Gassen
Eine Sünden-Loreley,
Sucht sie Wand'rer zu erfassen
Mit besonderer Melodei.

Freundlich kündet dem ein Nicken,
Der zum Fenster aufwärts schaut,
Daß gewillt ist zu beglücken
Eine stets bereite Braut,

Daß, wenn alle Frau'n ihn meiden,
Eine hier ihn nicht verschmäht,
Nämlich, wenn nicht zu bescheiden
Es um seine Cassa steht.

Mir nicht diese Glut des Blickes,
Dieser Wang' und Lippe Glut,
Daß mir nicht entschwund'nen Glückes
Mahnung heiß empört das Blut.

Wo nun wilde Taumelfeste
Feiert heiße Liebesbrunst,
Schien ein Kuß mir schon die beste
Gabe holder Mädchengunst.

Wagte kaum den Arm zu breiten
Um des Liebchens schlanken Leib,
War bei tausend Albernheiten
Seufzen doch schon Zeitvertreib.

Jener Kuß, den einst ich wagte,
Hat mir tief in's Herz gebrannt;
Wer nach Küssen jetzt dort fragte,
Müßte zählen unverwandt.

Aber zählen müßt' behende
Einer fort und immerdar,
Bis er einen einz'gen fände,
Der wie jener eine war.

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