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Dann geschah es eines Tages im Herbst, daß unerwartet Besuch nach dem Schloß kam. Das Wetter war unruhig, und der Kranke hatte eine schlechte Nacht gehabt; noch um die Mittagszeit war er nicht aufgestanden.
Die alte Barbara stand im Wohnzimmer ihres Herrn und legte ein paar Stücke Torf auf das Feuer, als sie einen Wagen auf den Schloßhof rasseln hörte. Erschreckt lief sie ans Fenster. Eine niedergeschlagene Kalesche mit zwei Herren hielt unten vor der Treppe.
Den einen von ihnen kannte sie; es war der Doktor aus Randers. Wer aber war der bartlose Fremde, der daneben saß? Und was wollte dieser Mensch hier?
»Is Mikkelsen denn ganz rappelig geworden?!« rief sie laut aus, als sie sah, daß beide Herren aus dem Wagen stiegen und die Treppe hinaufgingen.
Ganz erregt eilte sie auf die Diele und sagte hier dem Fremden gerade ins Gesicht, daß er nicht hineinkommen könne.
Der Doktor trat würdig dazwischen, aber die Alte stand wie eine Mauer.
»Ick häff min Instrukschon,« sagte sie in ihrem Bauerndialekt. »Dat weten Se jo ok sülvst recht got, Mikkelsen.«
»Hören Sie einmal, Schwester Barbara! Dieser Herr ist Professor der Medizin an der Kopenhagener Universität ... er ist also Arzt ... und außerdem ein Jugendfreund des Gutsbesitzers. Wollen Sie hineingehen und melden, daß Professor Hagen hier ist! Sie verstehen, daß dies ein Befehl ist.«
Sein Ton machte Barbara stutzen. Ihre Augen sahen mißtrauisch bald den einen, bald den andern der beiden Männer an, die sie dann schweigend über den Gang in das Zimmer ihres Herrn führte, das außer der Eßstube und dem Schlafzimmer der einzige von den vielen Räumen des Hauses war, der sich in bewohnbarem Zustande befand.
»Zum Kuckuck auch, was für ein Gespenst hat sich denn mein lieber Freund hier angeschafft?« fragte der Professor, als sie gegangen war. »Soll dies eine Krankenpflegerin vorstellen?« Doktor Mikkelsen zuckte die Achseln.
»Es ist eine ehemalige Wartefrau hier aus der Gemeinde. Ich habe mehrmals den Vorschlag gemacht, eine ordentliche, im Krankenbaus ausgebildete Pflegerin kommen zu lassen, aber er will niemanden anders um sich haben. Die alte, einfältige Person hat eine geradezu wunderliche Macht über sein krankes Gemüt erlangt. – Nun ja, aber dann will ich mich jetzt zurückziehen. Ich habe, wie gesagt, ein paar Patienten in der Nähe, und der Gutsbesitzer sieht mich nicht gern, wenn er nicht ausdrücklich nach mir geschickt hat.«
Der Professor – ein kleiner blonder Mann mit einem rotwangigen Kindergesicht – drückte ihm die Hand.
»Ich werde es Ihnen sagen lassen, wenn ich die Gelegenheit zu einer Konferenz günstig finde. Vorläufig danke ich Ihnen für Ihre Begleitung.«
Als er allein geblieben war, ließ er seinen Blick durch das große, dunkle Zimmer mit seiner rauchgeschwärzten Decke, der zerrissenen Tapete und den andern traurigen Zeugen von Verfall und Zerstörung schweifen. Und er schüttelte den Kopf. Nach den neuen Aufklärungen, die er unterwegs von Doktor Mikkelsen erhalten hatte, war es ihm vollständig klar, daß der Gemütszustand seines Freundes vorläufig eine größere Gefahr für ihn war als die eigentliche Krankheit, und er freute sich, daß er die Reise nicht einen einzigen Tag aufgeschoben hatte. Es war offenbar hohe Zeit, daß die Hilfe kam.
Barbara kehrte mit dem Bescheid von ihrem Herrn zurück, daß er im Begriff sei aufzustehen und in einem Augenblick dasein werde.
»Ich kann wohl zu ihm hineingehen?«
»Ne, ne, versöken Se dat um Gottes willen nich. He hätt sich all nog upregt.«
Die Alte war so erschüttert, daß sie die Worte kaum herausbringen konnte. Schon allein eine fremde Stimme in dieser Stube zu hören, die dem Schweigen und dem Tode gewidmet gewesen war, erfüllte sie mit bösen Ahnungen.
Während er wartete, ging Professor Hagen auf Untersuchungsreisen in der Stube aus und fand zwischen den Büchern auf dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers einen alten Folianten in Schweinsledereinband. Es war eine deutsche Bearbeitung von einer Reihe von Werken des Altertums über die Heilkunde. »Was zum Kuckuck ist denn dies?« dachte er laut, als er zwischen den Blättern des Buches auf lose Papierstücke mit Aufzeichnungen von der Hand des Freundes stieß.
Er untersuchte nun auch die andern Bücher. Da war ein großes astronomisches Werk und eine Schrift über den Erdmagnetismus. Außerdem eine französische Übersetzung von einer arabischen Gesundheitslehre aus dem Mittelalter, von einem Manne verfaßt, der sich »der Zauberkundige in Cordova« nannte. Auch diese war voll von Randbemerkungen.
Unwillkürlich wandte er sich an Barbara, die vor dem Ofen kauerte, als habe sie dort Zuflucht gesucht. Die Alte saß mit einem Flederwisch da und fachte das Feuer unter dem Torfe an.
Im selben Augenblick tat sich eine Tür langsam auf, und Torben Dihmer erschien in der Öffnung. Beschwerlich hob er den Fuß über die Schwelle, blieb dann stehen, gleichsam zögernd, indem er sich mit der einen Hand an dem Türrahmen festhielt.
So wohl vorbereitet der Professor auch war, stutzte er jetzt dennoch bei dem Anblick.
Wie der Freund dort in der Tür stand, fast unkenntlich, in einem verschossenen Schlafrock von braunem Tuch, fahl und gleichsam stockfleckig, die geschwollenen Augen fast geschlossen und den welken Bart in Strähnen, sah er aus wie eine Leiche, die aus ihrem Grabe auferstanden war.
Torben Dihmer las seine Gedanken, und als der Professor sich ihm näherte, streckte er abwehrend die Hand aus.
»Komm mir nicht zu nahe!... Ich stinke schon!«
»Ach was, Unsinn! Du siehst im Gegenteil brillant aus! Du hast dich, weiß Gott, tapfer gehalten!«
Er legte die Hände auf seine Schultern, und bei dieser vertraulichen Berührung wurde Torben von seiner Bewegung überwältigt. Er ermannte sich jedoch schnell, ließ den Türrahmen los und ging in das Zimmer.
Aber er war nicht weit gekommen, als die Kräfte ihn verließen. Er hatte sich geschämt, sich vor dem Freund wie ein alter Mann mit dem Stock blicken zu lassen, und begann nun zu schwanken. Der Professor mußte ihn unter den Arm fassen und ihn zu seinem Lehnstuhl am Tisch führen.
Im Laufe der folgenden Stunden saßen die beiden Jugendfreunde da und sprachen miteinander, während Barbara sich häufig etwas im Zimmer zu schaffen machte und in steigender Unruhe ihren Herrn umkreiste, mit einem schwachen Jammern wie ein eifersüchtiger Hund.
Der kleine, elegant gekleidete Professor saß mit den Daumen in den Ärmellöchern da und trommelte mit den andern Fingern auf seine hohe Vogelbrust. Um den Freund zu zerstreuen, erzählte er bunt durcheinander von seinen eigenen Erlebnissen und überbrachte Grüße von gemeinsamen Freunden, während er im geheimen seine Beobachtungen anstellte. Als Torben Dihmer ihn argwöhnisch fragte, was ihn um diese Zeit des Jahres nach Jütland geführt habe, gab er eine Geschichte zum besten, er sei zu einem Patienten nach Aarhus gerufen.
»Du hättest übrigens auch auf die Briefe deiner Freunde antworten können, dann hättest du jetzt mehr von uns allen gewußt, als ich dir so in aller Eile erzählen kann. Weißt du wohl, daß es bald zwei Jahre her ist, seit ich meinerseits zuletzt von dir gehört habe?«
Torben nickte.
»Ja, aber das ist absolut höchst unerlaubt – wie unser alter Rektor sagte. Du hast mit andern Worten deine alten Freunde und Freundinnen vergessen.«
»Das habe ich natürlich nicht getan. Aber was sollte ich schreiben? Ich erlebe ja nichts als krank zu sein, und das ist auf die Dauer nichts Interessantes oder Erbauliches für die Gesunden. Ich habe gewollt, daß ihr alle an mich denken solltet wie an einen Verstorbenen – denn das bin ich ja in Wirklichkeit. Ich glaubte übrigens, ihr hättet das verstanden.«
»Nein, höre aber einmal, lieber Freund! Du nimmst deinen Zustand wirklich reichlich schwer. Freilich bist du nicht gesund – aber –«
»Gib dir bitte keine Mühe!« unterbrach ihn Torben. »Ich bin fertig, du! Das habe ich lange gewußt. – Und nun haben wir genug über mich gesprochen.«
Der Professor schwieg einen Augenblick. Worauf er von neuem über Kopenhagen und gemeinsame Bekannte zu plaudern begann. Gleichsam zufällig erwähnte er auch seine Cousine Jytte Abildgaard; aber als er sah, wie der Freund bei dem bloßen Laut des Namens die Augen abwandte wie vor einem zu plötzlichen und gewaltsamen Licht, lenkte er schnell ab und stellte ein paar Fragen an ihn über seinen Schlaf und seinen Appetit.
Nach einer Weile sagte er: »Ich sandte dir neulich eine Karte, um dich auf meine Ankunft vorzubereiten. Hast du die erhalten?«
»Ja.«
»Ich schrieb, wie du dich vielleicht entsinnst, daß ich mit guten Nachrichten käme. Bist du denn gar nicht neugierig?«
»Ach, in meiner Lage interessiert einen nicht viel. Wenn man am Galgen hängt, vergeht einem die Neugier – das weißt du wohl.«
»Ich sage dir, Torben, du bist zu mutlos! Jetzt will ich dich an ein anderes Sprichwort erinnern: Hoffnung läßt nicht zuschanden werden!«
»Mir nützt das Hoffen aber nichts mehr, und es ist ja nur eine erbärmliche Feigheit von mir, daß ich der Sache nicht schon längst mit einem Schuß Pulver ein Ende gemacht habe. Aber eines Tages tue ich es wirklich.«
Die letzten Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Er beugte sich vor und legte den Kopf in die Hand, um das Weinen zu bekämpfen.
Aber nun wollte der Professor mit seiner frohen Botschaft nicht länger zögern. Er setzte sich auf die Seitenlehne von dem Stuhl des Freundes und schlang den Arm um seine Schulter.
»Alter Freund! Höre jetzt einmal, was ich dir zu sagen habe! ... Du sollst guten Mutes sein. Du hast vergessen, daß wir in einer großen Zeit leben, wo die Wissenschaft – und nicht zum mindesten meine eigene – jeden Tag ein neues Wunder schafft. Deine Krankheit ist nicht mehr gefährlich, in einem halben Jahre wirst du dich vollkommen stark und gesund fühlen... Ja, du siehst mich an! Aber du kannst doch wohl verstehen, daß ich dir nichts Unüberlegtes sage.«
Torben, der den Kopf erhoben hatte, senkte ihn wieder und streichelte gleichzeitig die Hand des Freundes, die auf seiner Schulter lag.
»Ich kenne dich, Asmus! Du willst so gern trösten. Aber laß es jetzt genug sein. Du weißt doch, daß ich getan habe, was in Menschenmacht steht, um gesund zu werden. Ich habe auf deinen eigenen Rat sowohl Professor Hermann in Wien als auch Schinders in Nauheim aufgesucht.«
»Ja, und alte Quacksalber und Zauberer hast du selbst studiert,« entgegnete Asmus Hagen, indem er ihn am Ohr zupfte, »du siehst, ich habe deine Lektüre schon untersucht. Aber jetzt mußt du vernünftig sein! Dann will ich dir erzählen, was sich zugetragen hat.«
Er erhob sich, wanderte wieder durch das Zimmer und begann zu berichten.
Er sei im Spätsommer in Paris gewesen, sagte er, und habe dort mit dem berühmten Oberarzt Dr. de Bèze gesprochen, der nach jahrelangen Untersuchungen jetzt nachgewiesen habe, daß gewisse Krankheitszustände, die man bisher Veränderungen in dem Gewebe des Herzens zugeschrieben, in Wirklichkeit die Folge einer Zerstörung der Schilddrüse seien, was weit weniger gefährlich für den Patienten sei. Freilich sei die Krankheit unheilbar, aber die moderne Arzneiwissenschaft habe ihre Wirkungen, sozusagen, vollständig aufgehoben, ganz einfach, indem sie dem Körper das fehlende Drüsensekret in künstlicher Form zuführe.
»Während einer Visite im Krankenhause habe ich selbst Gelegenheit gehabt, Dr. de Bèzes Patienten zu untersuchen und die Journale zu lesen, und es fiel mir gleich auf, wie sehr das ganze Krankheitsbild dem deinen glich. Und nun muß ich dir ein Geständnis machen, lieber Freund! Ich habe seitdem mit unserm gemeinsamen Freund Schinders in Nauheim korrespondiert und mit deinem Hausarzt hier, dem gewiß sehr vortrefflichen Doktor Mikkelsen. Und nun, wo ich dich gesehen habe, trage ich kein Bedenken, zu sagen, daß ich die beste Hoffnung hege, dich gesund zu machen.«
Torben, der mehrmals während der Rede des Freundes eine abweisende Bewegung mit der Hand gemacht hatte, war zuletzt still geworden.
»Aber das ist ja unmöglich,« sagte er tonlos, »ich fühle es doch am besten selbst. Ich bin schon ein halbwegs ausgelöster Kadaver.« »Unsinn! Es ist viel mehr Leben in dir, als du dir einbildest. Aber du handelst übel gegen dich selbst. Du hast dich zu früh in die Dunkelheit vergraben, Junker Torben! Wer hätte das von dir gedacht? ... Aber warte nur, du kannst noch der Glücklichste von uns allen werden!«