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Vor der Apotheke trennten sich Frau Berta und Torben. Während der letztere auf dem Wege zu seinem Hotel in einen Blumenladen ging, um einige schöne Orchideen zu wählen, die Jytte gesandt werden sollten, saß Frau Berta mutlos drinnen in der Apotheke, wo sie einige Zeit warten mußte, da der Laden voll von Kunden war. Ihre Gedanken weilten bei Jytte. Sie entsann sich, wie sie es in früheren Tagen oft bekümmert hatte, daß Jytte, wenn sie sich einmal verheiratete, weit von ihr weggeführt werden könne. Jetzt würde sie sie mit Freuden auf die andere Hälfte des Erdballs senden, sogar ohne Hoffnung, sie je wiederzusehen, wenn sie nur wußte, daß Jytte ihre Gemütsruhe wiedergefunden hatte und glücklich geworden war.
Als sie ihre Besorgung gemacht hatte, kehrte sie gleich nach Hause zurück.
Auf dem Wege wurde sie von der Generalkonsulin Kolding und ihrem Mann angeredet, so ziemlich die Menschen, denen sie am allerwenigsten gerade jetzt begegnen wollte, – so gründlich unsympathisch wie sie ihr beide waren. Der Konsul ging mit einem seiner kleinen Söhne an der Hand, einem kleinen, pausbackigen Simson von vier Jahren, mit langem Haar, das auf seine rote Jacke herabfiel.
Der stolze Vater stellte ihr den Jungen mit den Worten vor: »Einundzwanzig Kilo. Frau Geheimrat sollten nur versuchen, ihn in die Höhe zu heben. – Nicht wahr? Ich glaube, auf den können wir stolz sein. Und für die Farbe der Wangen garantiere ich, die ist waschecht.«
»Ihre Tochter ist doch nickt krank?« fragte jetzt Frau Kolding. »Sie gingen gestern abend so früh nach Hause.«
»Nur ein wenig Müdigkeit. Morgen hat sie es schon überwunden.«
»Ja, ich habe es Fräulein Jytte ansehen können, daß sie sich nicht ganz wohlfühlte. Sie müssen mir gestatten, Ihnen zu sagen, Frau Abildgaard,« fuhr sie fort, nachdem sie ihrem Gatten einen Wink gegeben hatte, sich zurückzuziehen. »Sie handeln nicht richtig, weder gegen sich selbst noch gegen Ihre Tochter, indem Sie sich außer der Bewegung halten. Ich wage zu behaupten, daß jedem, der das Wellersche System mit Ernst zur Richtschnur für sein Leben nimmt, geholfen werden kann, wenn Hilfe überhaupt noch möglich ist.«
Frau Berta zog sich ein wenig von ihr zurück, um sich von der Hand zu befreien, die die Generalkonsulin mit der vertraulichen Teilnahme des Beichtvaters auf ihren Arm gelegt hatte.
»Haben Sie Dank für Ihr Interesse, Frau Kolding; aber –«
»Ich will Ihnen sagen, Frau Geheimrat, ich war als junges Mädchen selbst so elend infolge von Nervosität, daß ich oft mehr tot als lebendig war. Meine Willenskraft war vollständig untergraben, und ich fühlte mich grenzenlos unglücklich. Durch einen reinen Zufall hörte ich dann von dem Wellerschen System. Und hier sehen Sie das Resultat. Ich habe vier gesunde und muntere Kinder und weiß kaum mehr, was Krankheit ist.«
»Ja, das muß schön für Sie sein, Frau Kolding, – aber mir tut Ihr Mann so leid, er steht da und wartet. Dann also leben Sie wohl! Wir sehen uns ja noch!«
Sie verließ die kleine, kurzhalsige Dame mit einem Gefühl tiefen Unbehagens. Sie war nicht im Zweifel über den Charakter dieser Wellerschen Bewegung, die in allen Schichten der Gesellschaft unheimlich um sich griff. Es mußte eine Art hypnotischer Besessenheit sein. Sie verpflanzte sich wie ein Ansteckungsstoff und endete damit, die Leute verrückt zu machen.
In erhöhter Unruhe eilte sie nach Hause. Als sie innerhalb der Gartenpforte angelangt war, blieb sie plötzlich stehen und griff sich nach dem Herzen. Oben von der Villa her tönte ihr Klavierspiel entgegen. Es war Jytte.
Was bedeutete das? ... Sie blieb verwirrt stehen. Hatte die Liebe gesiegt? Oder war alles vorbei? War Jytte wieder vor sich selbst in das Elfenland der Musik hineingeflohen? Diese Triller und Läufe taten ihrem Ohr weh wie Lerchengezwitscher über einem offenen Grab.
Jytte erhob sich vom Klavier, als die Mutter hereinkam, und sah sie gespannt an.
»Bist du unten in der Stadt gewesen?«
»Ja, ich hatte ein paar Besorgungen zu machen. Dihmer ist übrigens hier gewesen.«
»Ich hörte es sehr wohl. – Ihr seid vielleicht zusammen gegangen?«
»Ja.«
Jyttes Augen folgten der Mutter, die Hut und Mantel abgelegt hatte und sich nun auf das Sofa setzte.
»Hast du es ihm denn gesagt?« fragte sie zaghaft.
»Ich finde, Jytte, wir sollten jetzt ruhig und vernünftig über das reden, wovon du diese Nacht mit mir gesprochen hast. Setze dich doch ein wenig hierher!«
»Dann hast du also nichts gesagt?«
»Nein, Jytte. Denn ich kann und will nicht glauben, daß es wahr sein kann. Das ist etwas, was du dir aus irgendeinem Grunde selbst einzubilden versuchst. Du kannst diesen Herrn von Auen unmöglich im Ernst lieben.«
»Habe ich das gesagt?«
»Ja, es ist auch einerlei. Aber du hast gesagt, daß du Torben Dihmer nicht genügend liebst, um ihn zu heiraten, und das glaube ich nicht.«
Sie erhob sich vom Sofa und trat an Jytte heran, die seitlich auf dem Klavierstuhl saß, die Hände auf die Rücklehne gelegt. »Warum machst du dir alle diese zwecklosen Sorgen?« sagte sie und strich ihr über das Haar. »Du grübelst dich in alle möglichen krankhaften Stimmungen hinein, die dir das Leben und das Glück aus den Händen stehlen. Kannst du denn das nicht merken? ... Laß jetzt dein Herz reden, Kind!«
Sie nahm Jyttes Kopf in beide Hände und beugte ihn hintenüber mit einer verzweifelten Hoffnung, diese gemordete Liebe wieder ins Leben rufen zu können. Jytte aber sah ihr verdrießlich in die Augen und sagte:
»Du hast mich sonst immer gelehrt, meinen Verstand zu gebrauchen. Und nun meine ich, wir sollten aufhören, über Dihmer zu reden, Mutter! Das hat sonst nur zur Folge, daß ich ihn nur immer weniger und weniger lieben kann.«
Sie erhob sich und ging sofort aus dem Zimmer – nach oben hinauf.
Frau Berta blieb neben dem Stuhl stehen. Der Zorn brauste in ihr auf. Nein – dachte sie –, soll dies leichtfertige Spiel mit Leben und Tod denn nie ein Ende nehmen! War es denn nicht ihre Pflicht, zu dem äußersten Mittel zu greifen und Jytte zu zwingen,– sie mit verbundenem Auge ihrem Glück zuzuführen, wie eine scheue Stute, ohne daß sie jemals erfuhr, daß sie nicht freiwillig gewählt hatte?
Der Gedanke war auf dem Heimwege nach der Begegnung mit Generalkonsuls in sie gefahren. Sie hatte von einem deutschen Arzt in Genua gehört, der wegen seiner Heilungen durch Hypnose von der eleganten Welt hier unten sehr gesucht war.
Es ward jedoch bei ihr zu nicht mehr als einem aufzuckenden Zornesblitz. Sie wußte nur zu gut, daß sie es nie wagen würde, das Schicksal ihres Kindes den verborgenen Mächten des Lebens aus den Händen zu nehmen, um es nach ihrem eigenen Willen zu lenken. Hier stand sie an der Grenze ihres Mutes und erkannte ihre Ohnmacht. So sicher sie war, den Weg zu Jyttes Frieden und Glück zu wissen, – sie wagte dennoch nicht, die Verantwortung auf sich zu nehmen.
»Dein Wille geschehe!« tönte es in ihr Ohr mit der dunklen Stimme der Großtante, und sie nickte zur Bestätigung vor sich hin. – Ja! Sie streckte die Waffen! Übergab ihr Kind der Obhut der unbekannten Mächte. Sie war jetzt müde, konnte nicht mehr! –
Oben in ihrem Stäbchen hatte Jytte ihre Schreibmappe herausgeholt. Sie saß, die Hand unter der Wange, und schrieb an Torben. Mit ihrer großen, festen Schrift, die für viele ein Zeugnis entsprechender Charaktereigenschaften gewesen war, bat sie ihn um Verzeihung, weil sie ihm vielleicht falsche Vorstellungen über das gegeben hatte, was sie für ihn empfand.
»Mein Benehmen Ihnen gegenüber gestern auf dem Ausflug kann ich mir selbst nur als einen unverzeihlichen Übermut erklären, vielleicht dadurch hervorgerufen, daß Sie uns beim Frühstück reichlich von dem starken Wein einschenkten. Ich bin fest entschlossen, niemals zu heiraten. In diesem Punkt bin ich dieselbe wie damals, als ich Ihnen zuletzt aus einem ähnlichen Anlaß schrieb. Ich bin übrigens überzeugt, daß Sie sehr bald ohne Gemütsbewegung auf diese kleine Angelegenheit zurücksehen werden. Ich meinerseits bedaure, daß ich nun wahrscheinlich Ihre Freundschaft verscherzt habe, auf die ich so großen Wert legte. Die Schuld trifft ausschließlich mich.«
Sie schrieb den Brief ohne innezuhalten, ungeduldig, ihn ihm durch einen Boten zu übersenden, damit sie nicht erst Gefahr lief, daß er wiederkam. Als sie seinen Namen auf dem Umschlag sah, stutzte sie selbst darüber, wie deutlich er da stand. Nicht eine Sekunde hatte die Hand gezittert.
Aber hinterher, als der Brief abgeschickt war, saß sie lange da und starrte mit halbtoten Augen vor sich hin. Hatte es wohl jemals so einen Menschen wie sie gegeben? – fragte sie sich selbst. Und wie war es diesem Menschen denn schließlich ergangen?...