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IX

Storeholt lag zwischen zwei kleinen Wäldern an dem einen Ende eines langgestreckten Sees, »das grüne Wasser« genannt. Die Gegend war flach; nicht die Schönheit der Umgebung, sondern die Fruchtbarkeit des Bodens hatte die Lage des Gutes bestimmt. Hier befand man sich mitten in der reichen fünenschen Humusebene, wo – wie man zu sagen pflegte – die Bauernkinder mit einem silbernen Löffel in der Hand geboren werden.

Seit hundert Jahren war Storeholt in der Hagenschen Familie vom Vater auf den Sohn vererbt worden. Der jetzige Besitzer, Jägermeister Hagen, war Frau Bertas Neffe, der Bruder von Professor Asmus Hagen und mit einer Tochter des bekannten Kopenhagener Kaffeegroßhändlers Söholm verheiratet.

Als der Wagen mit Frau Berta und Jytte vor der Treppe vorfuhr, stand die junge Frau des Hauses dort und nahm sie in Empfang. Sie war eine große, schlanke Dame, äußerst elegant gekleidet.

Der Jägermeister dahingegen ließ sich nicht sehen.

»Ich glaube, wir warten nicht auf John,« sagte die junge Frau, als ihre Gäste eine Viertelstunde später aus ihren Zimmern herunterkamen. »Wir müssen lieber zu Tische gehen.«

Statt des Jägermeisters trafen Frau Berta und Jytte ein älteres Fräulein Söholm, eine Schwester des Kaffeegroßhändlers. Die kleine fahlgelbliche, stark aufgeputzte Dame, deren Aussprache sie als eingeborene Kopenhagnerin aus dem Borgergadeviertel verriet, erzählte sofort bei Tische, daß sie ein Magenleiden habe und an Blähungen leide. In einem Sammetbeutel führte sie eine Apotheke aus Pulvern und Pillen in kleinen silbernen Dosen mit sich, die sie voll Zärtlichkeit vor ihr Gedeck stellte.

»Haben Sie schon eine Kur in Karlsbad versucht?« fragte Frau Berta, um ihr Teilnahme zu erweisen.

»Karlsbad? Ja, das habe ich freilich. Ich bin sowohl in Marienbad als auch in Schwalbach und in Rönneby gewesen – mein Bruder hat für mich bezahlt. Aber gleichviel: hat es geholfen? Ich gebe nicht das geringste auf Ärzte. Das tut mein Bruder auch nicht. Es ist nur Gelderpressung, sagt er. Nun habe ich mein Leiden siebenundzwanzig Jahre gehabt, und trotz allem, was er daran gewendet hat, hat es nicht geholfen.«

»Willst du wirklich nicht einen kleinen Löffel Suppe versuchen, Tante?«

»Nicht einen Tropfen, Kind! Das würde mich auf der Stelle töten.«

»Aber es ist Hühnersuppe.«

»Ich bedanke mich bestens. Das wißt ihr doch alle zusammen selbst, daß Suppe gerade am allerschlimmsten bläht.«

»Werden wir John denn heute gar nicht sehen?« fragte Frau Berta, um von dem Gesprächsstoff wegzukommen.

»Ja, das ist wirklich fatal,« sagte die junge Frau. »Er bekam plötzlich etwas zu tun. Ich weiß allerdings nicht, was es war. Aber es werden wohl Geschäfte sein. Wir sind ja im Termin.« Im Termin? ... Frau Berta schwieg, dachte aber das ihre dabei. Sie hatte noch nicht die Dezemberzinsen von dem Geld erhalten, das sie in dem Familiengut stehen hatte. War es denkbar, daß der Neffe sich dadurch bedrückt gefühlt hatte und um jeden Preis die Summe beschaffen wollte, ehe sie sich sahen? – Das sah ihm so gar nicht ähnlich; sonst aber begriff sie seine ein wenig verletzende Abwesenheit nicht.

Jytte dahingegen hatte es dem Ton der Jägermeisterin sogleich angemerkt, woher der Wind blies. Sie wußte, daß die Liebe zwischen dem Vetter und seiner Frau, die, was die letztere betraf, nie auf dem Siedepunkt gestanden hatte, jetzt am Gefrieren war, seit sie vor ein paar Jahren einen kleinen Sohn, ihr einziges Kind, verloren hatten.

Nach dem Essen gingen die Damen in den Garten hinaus, wo unter zwei großen Kastanien, die in voller Blüte standen, der Kaffeetisch gedeckt war. Fräulein Söholm fühlte sich jedoch gleich unpäßlich und mußte hineingehen.

Jytte hatte sich schon mit einem jungen schwarzen Pudel angefreundet, der still und vernünftig auf ihrem Schoß lag. Sie prickelte ihn an der Nase und belustigte sich über sein unerschütterliches Wohlbehagen.

Ihre Mutter und Frau Wilhelmine – die Jägermeisterin – sprachen von einem Theaterskandal, der die Gemüter in Kopenhagen erregt hatte. Das interessierte sie nicht. Sie lehnte sich in ihren tiefen Segeltuchstuhl zurück, ein wenig müde nach der Reise und schwer im Kopf von dem starken Blumenduft, der überall auf sie einströmte. Sie schloß die Augen und versank in das Gefühl sanften Selbstauslöschens, jenseitigen Lebens und Vergessens, worin ihr einziges Empfinden von Glück bestand.

Die Stimmen der beiden Damen klangen immer ferner. Aber gleichzeitig sah sie wie im Traum die Jägermeisterin, so wie sie vorhin dort am Tisch präsidiert hatte, formell, gesellschaftlich korrekt bis auf die Weise, wie sie Messer und Gabel mit den weichsten Handgelenken, den unbeweglichsten Ellbogen behandelte. Sie sah ihren auffallenden kleinen Kopf mit der glänzenden Frisur über einem steifen, hohen Herrenkragen, das lange Prinzeß Marie-Profil, das ihr Stolz war, das geleckte Lächeln, die kalten Augen. Es war wie eine Halluzination. Sie sah die Taille aus isabellenfarbener Rohseide bis auf jeden Faden im Gewebe, die schwere goldene Kette um ihr linkes Handgelenk, ihre langen Finger mit den eleganten Nägeln. Wie ein Schatten glitten plötzlich ihre eigenen Züge in das Bild hinein. Sie dachte daran, daß sie so wahrscheinlich selbst im Laufe von einigen Jahren in Favsingholm gesessen haben würde, falls sie sich mir Torben Dihmer verheiratet hätte. Eine Fremde im Hause ihres Gatten, gleichgültig kalt, beständig in einer Rüstung – und vielleicht auch mit einem Kind auf dem Friedhof.

Jetzt hörte sie ihre Mutter sagen: »Wilhelmine! Was für ein Herr ist das, der da unten aus dem Park gegangen kommt?«

Sie richtete sich schnell auf. Beängstigend durchzuckte sie der Gedanke, daß es Karsten From sein könne. Aber der Mann, der dort den Mittelweg des Gartens heraufkam, war eine hohe, kräftige Erscheinung, schwarz gekleidet, mit breitrandigem Strohhut, flatternden Rockschößen und zu kurzen Beinkleidern. Frau Wilhelmine holte ihr Stangenlorgnett hervor.

»Ich weiß wirklich nicht... Ja, warte einmal! Das ist der Pfarrer.«

»Euer neuer Pfarrer?«

»Nun, so neu ist er ja eigentlich nicht. Er ist schon ein paar Jahre hier gewesen.«

Als der Fremde in die Nähe der Damen kam, blieb er stehen, lüftete den Hut ein wenig und brachte eine Entschuldigung vor, weil er durch den Garten gegangen war.

Dann fragte er, ob der Jägermeister zu sprechen sei.

»Mein Mann ist diesem Augenblick nicht zu Hause. Aber vielleicht kann ich ihm etwas bestellen?«

Der Fremde kam näher heran.

»Ja, – wenn Sie die Güte haben wollten.«

»Sind Sie nicht Pastor Gaardbo?«

»Der bin ich.«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Frau Wilhelmine stellte vor. Der Pfarrer lüftete seinen Hut wieder ein wenig und setzte sich.

Er war ein jüngerer Mann mit einem schönen, bartlosen Gesicht, das seinen Charakter aus ein paar klaren, blauen Augen erhielt. Jytte fiel es auf, daß seine Hände für einen Pfarrer merkwürdig grob waren, daß sein Rock unterm Ellbogen blank, der Strohhut ein gewöhnlicher Binsenhut und der schwarze Schlips dünn wie ein Band war.

»Sie wissen vielleicht, daß Ihr Mann gestern so freundlich gewesen ist, dem Jugendverein den Festplatz im Striger Walde zu einer volkstümlichen Versammlung zu überlassen – sie wird Mittwoch in acht Tagen stattfinden. Es war ja von Anfang an geplant, daß diese Versammlung wegen der Wahlen teilweise politisch sein solle, und ich habe vor einiger Zeit die Verabredung mit dem Herrn Jägermeister getroffen, daß eine Rednertribüne errichtet und Wagenplätze geschaffen werden sollen. Aber – zu unserer Überraschung haben wir jetzt eben die Nachricht erhalten, daß Enslev den Wunsch hat, herzukommen und auf der Versammlung zu reden.«

»Kommt Enslev!« riefen Frau Berta und die Jägermeisterin wie aus einem Munde aus.

»Ja. Und aus diesem Grunde müssen wir auf einen weit größeren Besuch gefaßt sein, als wir gewohnt sind. Sowohl hier aus der Gegend als auch von anderwärts werden wahrscheinlich viele interessierte Leute kommen, oder doch auf alle Fälle eine Menge Neugieriger von der Art, wie wir sie sonst nicht bei unsern Versammlungen zu sehen pflegen. Auch die Kopenhagener Presse wird voraussichtlich Vertreter entsenden. Es müssen – mit andern Worten – Rezensentenplätze geschaffen werden. Der Herr Jägermeister hat sich uns ein für allemal zur Verfügung gestellt, wo es sich um dergleichen größere Arrangements auf dem Festplatz handelt. Deswegen wollte ich ihn sofort davon in Kenntnis setzen.«

»Ich werde es meinem Mann sagen. Er ordnet es dann schon so, wie Sie es haben wollen.– Darf ich Ihnen nicht eine Tasse Kaffee einschenken, Herr Pastor?«

»Nein, ich danke!« erwiderte der Pfarrer ohne Formalitäten.

»Eine Zigarette vielleicht?«

Sie reichte ihm ihr eigenes goldenes Etui, das auf dem Tisch lag. »Ich danke,« wiederholte der Pfarrer. »Ich rauche nicht.« –

Und da er sich nun seines Auftrags entledigt hatte, erhob er sich sofort, verneigte sich und entfernte sich eiligst.

Jytte war nachdenklich geworden. Ihr aufmerksamer Blick hatte das offenbare Wohlgefallen bemerkt, mit dem Frau Wilhelmine während der ganzen Unterhaltung den schönen jungen Pfarrer betrachtet hatte. Stück für Stück hatte sie seine Person einer zudringlichen Schätzung unterzogen. In ihrer Verlegenheit hatte Jytte schließlich gar nicht gewußt, wo sie ihre Augen lassen sollte.

»Nein, daß Enslev hierherkommt!« sagte Frau Berta. »Ich kann es eigentlich kaum verstehen, aber es muß ja richtig sein, wenn er es sagt. Wie heißt doch euer neuer Pfarrer?«

»Gaardbo.«

»Ja – ganz recht. Ich entsinne mich, daß ich den Namen ein paarmal in Berichten über politische Versammlungen gesehen habe. Ist er nicht ziemlich weitgehend?«

»Er ist wohl eigentlich Sozialdemokrat. Hier in der Gegend hören ihn auch hauptsächlich die Armen. Er soll übrigens recht gut predigen. Aber wir verkehren nicht. Er ist ein paarmal bei John im Arbeitszimmer gewesen, aber einen richtigen Besuch hat er nie gemacht. Er ist ein wenig Sonderling, was man ihm ja auch ansehen kann. Er hat überhaupt nicht bei einer einzigen Familie Besuch gemacht und geht nicht in Gesellschaften. Verheiratet ist er auch nicht.«

»Ist er schon Witwer?«

»Nein, er ist in der Tat noch Junggeselle. Er war freilich mit einer Cousine verlobt, die zwei Monate vor der Hochzeit starb. Übrigens soll Pastor Gaardbo ein Neffe von Enslev sein.«

»Von Enslev?« fragte Frau Berta. »Das kann doch sicher nicht stimmen. Davon hat Enslev nie gesprochen. Pastor Gaardbo hat ja auch nichts davon erwähnt.«

»Ich weiß nur, was man sich erzählt. Sein Vater soll Schulmeister gewesen sein, irgendwo auf dem Lande in der Gegend von Kolding, glaube ich. Du konntest es seiner Aussprache doch auch sicher anhören, daß er aus Jütland ist. Und er sieht ja auch im Grunde mehr aus wie ein Schulmeister als wie ein Pfarrer. Er sollte sich etwas ordentlicher kleiden.«

Jyttes Gedanken waren beständig auf der Lauer um Frau Wilhelmine herum. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie viel von dieser »Schwägerin« – wie sie sie nannte – erwartet hatte. Frau Wilhelminens schlanke Gestalt mit der vornehmen Haltung hatte sie viele Jahre von der Straße her gekannt, und sie schien ihr so viel zu versprechen. Daß sie die Tochter von »Kaffee-Söholm« war, wußte sie damals nicht einmal. Jetzt hatte sie längst begriffen, daß sich Wilhelmine ziemlich kühlen Herzens mit ihrem Vetter verheiratet hatte, um in eine angesehene Familie hineinzukommen und Jägermeisterin zu werden.

»Der arme John!« dachte sie. »Mit allen seinen Lächerlichkeiten ist er doch zu gut für diese naßkalte Schlange!«

Einige häßliche Flötentöne, die durch ein offenstehendes Fenster zu ihnen hinausdrangen, machten sie zusammenfahren.

»Was ist denn das? Wer spielt hier die Flöte?«

»Das ist Tante. Sie hat in einem ihrer Gesundheitsblätter gelesen, daß Flötenspiel gut für die Verdauung sein soll, und nun übt sie nach jeder Mahlzeit eine halbe Stunde. Es ist schrecklich anzuhören; aber wenn sie glaubt, das es ihr helfen kann, muß man sich ja dareinfinden.«

In diesem Augenblick hörte man die wunderliche Knabenstimme des Jägermeisters drinnen in den Zimmern. Er erteilte einem der Mädchen Bescheid in bezug auf ein Telegramm, daß er erwartete.

»Bringen Sie es mir sofort, wenn es kommt.«

Im selben Augenblick trat er auf die Verandatreppe hinaus: ein kleiner, kurzhalsiger Mann in einem hellgrauen Joppenanzug, eine korpulente Ausgabe seines berühmten Bruders, des Professors, dieselben runden, roten Kinderwangen, dasselbe glatte, hellgelbe Haar, auch dieselben stahlblauen Augen, freilich ohne des Bruders Klugheit im Blick.

Als er die Damen begrüßt und sich entschuldigt hatte, daß er bei der Ankunft nicht zugegen gewesen, wandte er sich an Frau Wilhelmine.

»Du sorgst wohl dafür, daß ich etwas zu essen bekomme,« sagte er in befehlendem Ton.

»Die Mädchen hatten Bescheid erhalten,« antwortete sie in die Luft hinein, ohne ihn anzusehen.

Nach einer Weile erhob sie sich trotzdem und ging hinein.

»Hast du Geschäfte gehabt, John?« fragte Frau Berta, die jetzt auch die Gewitterluft merken konnte.

»Freilich, ich bin ja zum Vorsitzenden für die Jungstierschau des Bezirks gewählt. Das ist ein sehr ehrenvoller und verantwortungsvoller Posten, der mir allerdings eine Menge Scherereien schafft. Und ich war wirklich schon ohnehin genügend in Anspruch genommen. Ich habe in letzter Zeit täglich mehrere Stunden in meinem Laboratorium gearbeitet. Mich beschäftigt noch immer die Ausrottung des Kartoffelschimmelpilzes. Ahnst du, Tante, um wie viele Millionen Kronen Verlust es sich hier alljährlich allein für Dänemark handelt?«

»Erzähle mir das ein anderes Mal, John! Weißt du, daß hier vorhin ein Herr war, der nach dir fragte?«

»Ja, Pastor Gaardbo. Ich habe mit ihm gesprochen. Wir begegneten uns in der Allee. Er hat euch ja die Neuigkeit erzählt, daß Enslev hierherkommt. Das wird ein großer Tag für die Gegend werden.«

»Ich verstehe es nicht,« sagte Frau Berta. »Ich glaubte, der gute Mann sei jetzt endlich zur Ruhe gekommen. Er ist ja auch wirklich krank.«

»Das merkt man wahrhaftig nicht. Hast du seine Verfassungsrede gelesen? Die war doch glänzend! Aber natürlich hat ihn die Wahl aufgerüttelt. Wie neulich so schön und richtig im ›Fünften Juni‹ stand: Er hat da draußen in seinem Landhaus am Furesee gesessen, wie ein zweiter Holger Danske, und den Bart durch den Tisch wachsen lassen, bis er merkte, daß die Freiheit in Gefahr war. Ich sagte auch zu Pastor Gaardbo, ich fände, wir müßten ihn festlich empfangen mit einer Ehrenpforte und einem Musikkorps – oder dergleichen. Wenn man mich auffordert, will ich gern die Begrüßungsrede halten.«

»Was sagte denn Pastor Gaardbo zu dem Vorschlag? Mir schien, er war ein wenig zurückhaltend.«

»Ja, er ist ein sonderbarer Mann. Gott weiß, ob er ganz zuverlässig ist. Wir sind politische Gesinnungsgenossen, aber wir verkehren nicht miteinander. Ladet man ihn zu einer Mittagsgesellschaft ein, so hat er immer eine Entschuldigung. Es ist nicht wie mit dem alten Propst Vollerup. Weißt du wohl noch? Der kam ganz von selbst, wenn er wußte, daß hier Gäste zu Tische waren. Und er und ich waren doch Todfeinde auf politischem wie auf sozialem Gebiet, von dem kirchlichen gar nicht zu reden.«

»Sage mir einmal, John, es kann doch unmöglich stimmen, was mir deine Frau erzählt, daß Pastor Gaardbo mit Enslev verwandt ist?«

»Freilich stimmt das. Aber es gehört auch zu den Verrücktheiten des Mannes, daß er nie davon spricht. Er hat mir gegenüber sogar einmal auf das bestimmteste erklärt, daß Enslev ihm die Pfarre hier nicht verschafft hat. Aber ich möchte wohl wissen, wie er sie sonst in dem Alter bekommen haben würde!«

»Wie verhält es sich denn mit der Verwandtschaft?«

»Pastor Gaardbos Vater hieß Sörensen und war Schulmeister in einem Dorf, das Gaardbo heißt. Und du weißt ja, daß Enslev eigentlich auch Sörensen heißt. Er nahm den Namen seines Heimatdorfes an, als er als Student nach Kopenhagen kam.«

»Also mit anderen Worten, John, Pastor Gaardbo ist Enslevs Brudersohn?«

»Stimmt! Aber der Roßapfel ist diesmal freilich ziemlich weit vom Pferd gefallen. Ich gestehe offen, mir gefällt der Mann nicht. Unter den kleinen Leuten in der Gemeinde dahingegen hat er großen Einfluß erlangt. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn von der Seite der Versuch gemacht würde, ihn als Folkethingskandidat aufzustellen, falls der alte Müller Jensen wirklich so krank ist, daß er sich zurückziehen muß. Ich weiß, daß schon eine diesbezügliche Bewegung im Gange ist. Aber du wirst mir doch zugeben, Tante Berta, daß es hier in der Gegend andere freisinnige Männer gibt, die ältere und berechtigtere Ansprüche haben, in Betracht zu kommen.«

»Du denkst doch nicht an dich selbst, John?«

»Ja, das leugne ich nicht.«

»Ich dachte, die Sache wäre abgemacht. Hat man nicht beschlossen, daß Balduin Hansen Müller Jensens Nachfolger werden soll?«

Der Jägermeister wandte ihr den Rücken mit einer Grimasse.

»Immer dieser Schulmeister! ... Ja, mißverstehe mich nicht! Ich erkenne vollkommen die große Arbeit an, die Balduin Hansen für die Volksaufklärung hier geleistet hat. Ich schätze den Mann persönlich und habe ihn verschiedene Male an meinem Tisch gesehen. Aber ich bin doch der Ansicht, daß er sich bei verschiedenen Gelegenheiten reichlich weit hinausgewagt und sich unter anderm seinen Vorgesetzten gegenüber ziemlich schroff benommen hat. Seinen Skandal mit Propst Vollerup konnte ich mit dem besten Willen nicht billigen. Ich hasse selbst allen Zwang. Jeder Übergriff der Behörden versetzt mich in Wut. Aber ich verlange einen gebildeten Ton, auch von einem Schullehrer. Und sage mir doch, Tante Berta, findest du nicht im Grunde auch, daß wir bereits Lehrer genug im Thing haben? An Bauern und Häuslern ist ebenfalls kein Mangel. Aber wo ist die Intelligenz? Was für landwirtschaftliche Minister haben wir zum Beispiel gehabt? Wenn Enslev kommt, sage ich es ihm gerade ins Gesicht, daß wir uns dieser Leute schämen müssen.«

»St!«

Frau Berta unterbrach ihn und legte ihm die Hand auf den Arm. Das Stubenmädchen war auf dem Wege zu ihnen von der Verandatreppe her. Sie kam, um zu melden, daß angerichtet sei.

»Dann mußt du entschuldigen, liebe Tante! Ich komme um vor Hunger! – – Noch immer kein Telegramm?« fragte er das Mädchen im Vorübergehen.

»Nein!«


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