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Zweites Buch.
Der Schmied Sören und sein Geschlecht

I

Dorf Enslev liegt im südlichen Jütland in einer ärmlichen Gegend mit dunklen Heidemooren. Hier wurde vor vielen Jahren ein alter Schmied unter großen Ehrenbezeigungen zur Erde bestattet. Der Bürgermeister von Kolding erschien in Amtstracht nebst mehreren Stadtverordneten in hohen Hüten. Sie kamen in zwei Landauern mit Livrékutschen gefahren. Die ganze Bevölkerung war auf den Beinen und stand als Zuschauer längs des Weges, als der Sarg unter Glockengeläute vom Hause nach der Kirche getragen wurde und von dort wieder hinaus nach dem Grabe in der östlichen Ecke des Kirchhofs, der Begräbnisstätte der Armen.

So viele Menschen dort versammelt waren, befand sich doch niemand unter ihnen, der den Mann, der da begraben wurde, wirklich gekannt hatte. Bald vierzig Jahre hatte er dort in der Gegend wie ein Fremder gelebt. Selbst erzählte er nie etwas von seinem Leben. Man wußte von ihm nur, daß er in Thy geboren war und daß er den dreijährigen Krieg mitgemacht hatte.

Die Leute liebten es nicht, seinem Blick zu begegnen. Er habe einen Wurm im Auge, sagte man; und viele dachten, er habe wohl seine Gründe, so schweigsam über sich selbst und seine Vergangenheit zu sein.

Es geschah auch nicht um seiner selbst willen, sondern um seinen Kindern Ehre zu erweisen, daß so viele von den großen Leuten der Gegend ihm das letzte Geleite gaben. Da waren vier Söhne und zwei Töchter. Mit Ausnahme des jüngsten der Söhne, der die Schmiede geerbt hatte, waren sie den Verhältnissen der Eltern längst entwachsen. Der älteste von den Söhnen konnte zur Beerdigung des Vaters sogar mit einem funkelnagelneuen Ritterkreuz auf der Brust erscheinen. Er war Uhr- und Instrumentenmacher in Kolding, Mitglied des Stadtrats und zweiter Vorsitzender des Handwerkervereins. Von den Töchtern war die eine mit einem Pfarrer verheiratet, die andere mit einem steinreichen Viehzüchter in Australien verlobt.

Es war jedoch weder das Ritterkreuz des Instrumentenmachers noch das Ornat des Schwiegersohns, was die Zuschauer längs des Weges veranlaßte, die Augen aufzusperren. Alle suchten sie in der Schar der Leidtragenden nach dem Sohn Tyge, dem Politiker und Redakteur – Tyge Enslev, wie er sich nach seinem Geburtsort nennen ließ. Der Name des Dorfes war durch ihn im ganzen Lande bekannt geworden. Noch in den allerletzten Tagen war er abermals von Mund zu Mund geflogen in Anlaß einer kühnen Rede, die er in Kopenhagen gehalten hatte. Viele hatten daran gezweifelt, daß er überhaupt zum Begräbnis würde kommen können. Sie stellten sich vor, daß er wieder hinter vergitterten Fenstern sitze in Gesellschaft eines Kruges Wasser und eines Neuen Testaments, ein Märtyrer für die Sache des Volkes.

Aber da ging er zusammen mit seinen Geschwistern hinter dem Sarge her, klein und untersetzt, mit einem weichen Künstlerhut auf dem Kopf, dunkelbärtig und blaß. Seinen lahmen Fuß stützte er während des Gehens mit einem Stock. Vor Freude über das Wiedersehen war die Jugend nicht weit davon entfernt, Hurra zu rufen.

In der Kirche sprach zuerst der Gemeindepfarrer, der alte Propst Faaborg, und dann der Schwiegersohn, der hinterher auch das Erdaufwerfen verrichtete. Sie schwangen sich jedoch beide nur zu einer feierlichen Prozession von allgemeinen Redensarten auf. Aber plötzlich kam Bewegung in die Versammlung. Tyge Enslev trat auf den Kieshaufen hinter dem Grabe, um zu reden.

Es gab damals noch eine Verordnung für dänische Friedhöfe, die ungeweihten Personen verbot, am Grabe das Wort zu ergreifen. Tyge Enslev hatte sein juristisches Examen gemacht, mußte also wissen, daß er sich einer Gesetzesübertretung schuldig machte. Sowohl der Propst als auch der Bürgermeister sahen sich empört nach dem Dorfschulzen um.

Mehr aber noch waren Tyges Geschwister ergrimmt, weil er ohne Ermächtigung in ihrem Namen auftrat. Das Verhältnis zwischen ihnen war schon im voraus nicht das beste.

Er hatte den Kopf entblößt. Die Frühlingssonne schien auf seine dichte, schwarzgraue Mähne, und der Wind warf ihm das Vorderhaar über die Stirn, die von zwei tiefen Falten über der Nasenwurzel gespalten war. »Dänemarks erster Redner«, wie ihn eine Zeitung kürzlich genannt hatte, war erst einige dreißig Jahre alt, trug aber schon die Spuren des Alters. In das Gemüt dieses Mannes war ein siedender Brand geworfen, der seine Nerven beständig in höchster Spannung hielt.

Er machte bei dieser Gelegenheit von seiner Kunstfertigkeit als Redner keinen Gebrauch. Er war merkwürdig gedämpft, die Stimme klang bewegt, die Worte fielen schlicht und ruhig. Zuerst gedachte er der früh verstorbenen Mutter, dann brachte er dem Vater einen Dank dar für seine große Treue gegen das Heim, »für die Überwindung seines Selbsts, diesen größten und fruchtbarsten aller Siege«.

Der Ton wie auch die Worte klangen eigentümlich in den Ohren vieler. Die Leute sahen einander an und dachten, daß er vielleicht mehr wisse als andere von den Geheimnissen in Schmied Sörens verborgenem Lebenslauf, der auf das eigene ausdrückliche Verlangen des Alten seinen Abschluß hier auf der Begräbnisstätte der Armen fand.

Gleich nach der Beerdigung fuhren der Bürgermeister und das übrige städtische Gefolge davon. Namentlich der Bürgermeister hatte Eile, wegzukommen, um nicht durch eine zu nahe Berührung mit einem politischen Aufrührer bloßgestellt zu werden. Auch die Bewohner des Dorfes selbst verabschiedeten sich an der Kirchhofstür.

Aber es nahm Zeit in Anspruch, bis alle der Familie die Hand gegeben hatten, und namentlich scharten sich die Leute um Tyge, um etwas Neues über die gespannte politische Lage zu hören.

Die übrigen Geschwister standen schließlich ganz verlassen da, bleich vor Ungeduld, fortzukommen. Der ordengeschmückte Instrumentenmacher und ein anderer älterer Bruder, der Schullehrer und Kirchensänger war, standen für sich, ein Stück davon entfernt, und wandten der politisierenden Gruppe den Rücken zu. Der Instrumentenmacher, der sich anstandsvoll auf seinen stramm aufgerollten seidenen Regenschirm stützte, betrachtete mir erkünsteltem Entzücken die frühlingsgrüne Landschaft, während ihm das Blut in die bebenden Wangen stieg und wieder sank.

Der Schullehrer war eine fleischschwere ochsenähnliche Gestalt, deren breite Brust ein schwarzer Bart bedeckte. Er wandte während der ganzen Zeit die Ohren dem zu, was hinter ihm vor sich ging, und seine Augen waren voller Unruhe.

Die Schwester Katrine, die Pfarrersfrau, eine brünette, hünenhafte Schönheit, mit großen Federn auf dem Hut und einer Tournüre, kam in voller Empörung zu ihnen hin, auf den Fersen gefolgt von ihrem ornatgekleideten Mann, der mit verwirrter, unglücklicher Miene dahintrippelte wie ein geprügelter Hund.

»Ich meine, wir sollten jetzt gehen,« sagte sie. »Das Geschwätz nimmt ja nie ein Ende. Und was sagt ihr zu Tyge? Habt ihr je so was erlebt?«

»Tyge hört sich gern selbst reden,« sagte der Instrumentenmacher mit einem Ausdruck großmütiger Nachsicht.

»Ich finde, es ist so ungefähr das Frechste, was mir vorgekommen ist! Einen öffentlichen Skandal bei seines eigenen Vaters Begräbnis zu machen! Der Propst war wütend. Ich bin überzeugt, er berichtet höheren Ortes darüber, und dann wird es kein billiges Vergnügen für den guten Tyge. Aber dann muß er natürlich wieder zum Märtyrer gemacht werden. Das ist eine alte Geschichte.«

Frau Katrines Mann wagte eine schüchterne Einwendung zu machen.

»Du hast natürlich ganz recht. Es war höchst verkehrt von deinem Bruder, und es kann unangenehme Folgen für ihn haben, falls die Sache aufgemutzt wird. Aber auf der andern Seite, liehe Katrine, was dein Bruder sagte, war ja sowohl schön empfunden

»Unsinn! darüber reden wir ja gar nicht. Du willst doch wohl nicht leugnen, daß es Kresten als dem Ältesten zukam, im Namen der Familie zu danken. Aber Tyge muß sich immer vordrängen und sich wichtig machen. Das ist die Sache.«

»Sst, Katrine! Sprich nicht so laut!«

»Laß mich in Ruhe! Mir ist es einerlei! ... Und jetzt gehen wir. Dann könnt ihr andern tun, was ihr wollt!«

Sie nahm ihren Mann unter den Arm und steuerte mit einem majestätischen Brausen ihres schwarzen seidenen Kleides von dannen.

»Katrine hat im Grunde recht. Da ist ja nichts, worauf wir zu warten brauchten,« sagte der Instrumentenmacher. »Wollen wir gehen?«

Die schweren, unruherfüllten Augen des Schulmeisters hatten sich wieder zu der Gruppe um Tyge hingestohlen. Er zog sie jetzt schnell zurück und sagte mit einem Seufzer, als wahre er sich gegen eine Verlockung:

»Ja, Kresten! Gehen wir!«


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