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Am Mittelmeer, eine Meile von Genua entfernt, liegt eine kleine Stadt. Sie gleicht den meisten andern der vielen Hotel- und Pensionatsstädte, die eine sonnenanbetende Zeit dort unten in dem Warmbeet Europas unter den olivengrauen Apenninen zum Treiben gebracht hat. Schichtweise liegt sie an der Bergmauer, mit steilen Straßen, Bogengängen und tropischen Palmengärten. Am Strand entlang führt eine Promenade. Auf schweren Grundmauern ist sie ein Dutzend Meter über der Brandung erbaut, die bei Seewind – und der weht recht häufig über dem Mittelmeer – mit einer Bewegung aufspringt, die an ein sich bäumendes Pferd erinnert, und sich dann mit einem Sieden in Schaum auflöst, so ganz verschieden von dem Dröhnen, mit dem unsere eigene große Nordseebrandung gleichsam in schweren Träumen sich über die Sandbänke dahinwälzt. Nimmt der Wind zu, und zieht er seine Siebenmeilenstiefel an – und es stürmt gar nicht so selten unter der Azurküste –, so bricht sich das Meer gegen die Grundmauer mit einem hohlen Sprenglaut und steigt mit einem turmhohen Spritzen auf, als habe eine unterirdische Explosion stattgefunden.
Das größte Hotel der Stadt ist das Parkhotel, ein marmorweißer, fünfstöckiger Sonnentempel mir Hunderten von Altanen oder Altären nach Süden zu. Davor liegt eine große, halb öffentliche Palmenanlage, die unten am Strande in einer Terrasse endet, mit Aussichtsbänken und einer Treppe, die nach der Promenade hinabführt.
Hier saß an einem windstillen Tage Ende März eine Gesellschaft von den Gästen des Hotels, den Blick auf das Meer gerichtet. Sie waren nach dem zweiten Frühstück da hinuntergegangen, um sich über eine gemeinsame Nachmittagszerstreuung zu beraten; aber nachdem man mehr als eine Stunde in verschiedenen Sprachen gegackert hatte, war man noch zu keinem Ergebnis gelangt. Hinter den äußersten Felsblöcken des Vorstrandes, wo die Brandung siedet, lag das Wasser blank wie Metall und wiegte das Spiegelbild der Mittagssonne und ihrer Lichtbrücke. Es war deswegen von einigen eine Ruderfahrt vorgeschlagen. Andere hatten dahingegen empfohlen, nach Genua zu fahren, um ein paar Negerboxer zu sehen, die dort in einer amerikanischen Menagerie auftraten. Unter den Belustigungen des Tages war auch eine Begräbnismesse in der Domkirche da drinnen und eine Fliegervorstellung erwähnt. Überhaupt war da so viel, zwischen dem man wählen konnte, daß niemand so recht wußte, wozu er Lust hatte; und die lebhafte Beratschlagung löste sich mit dem Ergebnis auf, daß die meisten in das Hotel zurückkehrten, um bis zu der großen Promenadenstunde, um drei Uhr, wenn die Musik spielte, auszuruhen.
Die Standhaftesten – darunter mehrere Damen – machten jedoch Ernst daraus, ein Boot zu mieten und sich auf das Meer hinausrudern zu lassen. Auf den Bänken zurück blieben schließlich nur zwei dänische Herren: ein kleiner schwarzbärtiger Mann von jüdischem Aussehen und ein großer Vollblutnordländer mit strotzenden Wangen und Augen wie ein Frühlingshimmel.
»Wer ist eigentlich der junge Mann, der Fräulein Abildgaard so auf Schritt und Tritt folgt?« fragte der erstere, der am selben Morgen hier angekommen war und dem andern schon ein Dutzend Fragen über ihre Mitpensionäre gestellt hatte.
»Nein, den jungen Kopenhagener mit den lila seidenen Strümpfen. Er hat sie jetzt auch auf die Ruderfahrt begleitet.«
»Ach, das ist der junge Mohn! Ein Sohn von Mohn & Drejer. Ein Todeskandidat, was Sie ihm gewiß ansehen können. Er ist mit einer Krankenpflegerin vom Roten Kreuz hier ... auf dem Wege nach Ägypten. Der arme Kerl! Er soll nur noch eine halbe Lunge haben.«
»Man hat mir gesagt, daß der Gutsbesitzer Torben Dihmer hier erwartet werden kann.«
»Ja. Er kommt aus Wiesbaden. Wir erwarten ihn jeden Tag.«
»Ob wohl etwas daran ist, daß er und Fräulein Abildgaard verlobt sein sollen?«
»Darüber hat man Gott weiß wie lange geredet, da muß man wohl anfangen, daran zu glauben. Dihmer ist übrigens mein Freund, und ich gönne es ihm wohl, eine schöne und interessante Frau zu bekommen, jetzt, wo er endlich wieder gesund geworden ist. Denn er soll wirklich vollständig geheilt sein, sagt man.«
»Ja, das weiß ich von Professor Hagen selbst. Er ist mein Arzt.«
»Merkwürdig! eine wirkliche Auferstehung von den Toten, kann man ja fast sagen. – Es könnte eigentlich ganz interessant sein, so etwas einmal ausprobiert zu haben.«
»Sind Sie selbst Ihrer Gesundheit wegen hier unten, Herr Generalkonsul?«
»Ich? ... Finden Sie, daß ich so aussehe?« fragte der Hüne lächelnd, aber doch gleich ein wenig beängstigt. Es war ein sonnengebräunter Mann in den besten Jahren, mit einem kräftigen Schnurrbart und zwei mandelgroßen, schimmernd weißen Vorderzähnen, die jedesmal, wenn er lächelte – und er lächelte fast immer – hinter dem Bart wie durch eine Hasenscharte zum Vorschein kamen. »Nein, Gott sei Dank, mir fehlt nichts. Seit ich angefangen habe, das Wellersche System zu gebrauchen, habe ich mich wie ein Füllen auf einer Sommerwiese gefühlt. Ich habe früher nach der Pettermannschen Methode gelebt, aber das ist Humbug und Reklame. Weller dahingegen ist der glückliche Löser des Problems. – Und Sie, Herr Direktor Zaun? Sie sind wohl Ihrer Gesundheit wegen hierhergekommen, nicht wahr? Ist Ihre Brust angegriffen?«
»Nein, ich leide an Schlaflosigkeit – leider. Professor Hagen hat mir eine Luftkur verordnet.«
»Ja, Schlaflosigkeit muß eine fürchterliche Plage sein. Ich hatte einmal jetzt im Winter eine unangenehme Nachricht spät abends erhalten. Ich versichere Sie, ich lag anderthalb Stunden wach, ohne einschlafen zu können. Stellen Sie sich vor! Zweimal mußte ich aus dem Bett heraus und eine kalte Dusche nehmen, ehe ich mich beruhigen konnte. Die Nacht vergesse ich nie! ... Sie sollten es mit Weller versuchen, Direktor Zaun. Um sieben Uhr auf, das System pünktlich durchgemacht in zwölf Minuten vor weit geöffneten Fenstern, hinterher eine kalte Dusche, Hafergrütze, gekochtes Obst, und späterhin am Tage Atemübungen und elektrische Massage oder Lichtbäder. Ich sage Ihnen, nach ein paar Monaten werden Sie sich des Lebens freuen wie ein Füllen auf einer Sommerwiese. Sehen Sie mich nur an! Ich habe während der letzten vier Jahre nicht einmal einen Schnupfen gehabt!«
»Ja, das weiß ich; das Wellersche System hat große Verbreitung gefunden.«
»Lieber Freund, es handelt sich um eine Weltbewegung! Die Pettermannsche Methode ist Humbug. Ausgesprochener Humbug. Meine Frau hat in der letzten Nummer unseres Vereinsblattes einen Artikel geschrieben, der ganz vernichtend für Pettermann ist. – Erst mit Weller ist das Problem wirklich gelöst. Kraft, Gesundheit, Gemütsruhe und Lebensfreude für die ganze Menschheit durch die einfachsten und natürlichsten Mittel – wieder einmal die Geschichte von dem Ei des Kolumbus!«
»Beabsichtigen Sie, sich längere Zeit hier aufzuhalten, Herr Generalkonsul?« fuhr der unermüdliche Frager fort.
»Das weiß ich wirklich noch nicht. Wir pflegen sonst die Saison in San Remo zu verbringen, aber meine Frau und ich selbst finden, daß die Luft hier reichlich so kräftig ist. Es ist, als söge man Kraft und Lebensmut mit jedem Atemzug ein.«
Er schloß die Augen und atmete dreimal tief aus. Es war wie eine Andacht; und als er den Blick wieder aufschlug, hatte sein Gesicht einen ganz verklärten Ausdruck.
»Herrlich! Und die Natur ist ja überall hier gleich prachtvoll. Man muß zugeben, daß der liebe Gott auf der Höhe seiner Schöpferkraft gewesen ist, als er diese wunderbare Küste modellierte. Wie Arthur Höj neulich so brillant in einem Feuilleton schrieb: In diesen herrlich geschwungenen Linien an dem Sockel Europas scheint man seine Künstlersignatur: Deus fecit! lesen zu können!«
Mit ausgestrecktem Zeigefinger begann er die Worte in die Luft zu schreiben, aber plötzlich ließ er die Hand sinken. Er hatte unten auf der Promenade einen Mann erblickt, der in einiger Entfernung an dem Geländer stand. Ein hoher, bärtiger Mann in einem hellen Staubmantel.
»Wie war es denn doch noch gleich?« forschte der Direktor von neuem. »Hat nicht die Geheimrätin vor einigen Jahren einen Sohn auf eine etwas sonderbare Weise verloren?«
»Auf eine sonderbare Weise?« sagte der Generalkonsul, ohne die Augen von dem Manne dort unten abzuwenden, der jetzt einen Krimstecher aus der Tasche geholt hatte und das Boot mit der kleinen Hotelgesellschaft, das sich da draußen in der Dünung wiegte, beobachtete. »Er nahm Gift – die Geschichte ward niedergeschlagen, aber es ist ganz sicher. Der junge Mann hatte ein Verhältnis mit einer Statistin an einem Vorstadttheater gehabt, und als die dann eines schönen Tages mit einem andern durchging, nahm er sich aus Schwermut das Leben. Die Familie ist überhaupt ein wenig exzentrisch. Sie wissen vielleicht, daß noch ein Sohn da war, der sich auch etwas plötzlich aus dem Staube machte.«
»Noch ein Sohn?«
»Ja, das ist schon lange her. Ein schneidiger und verteufelt schöner Bursche übrigens. Er wollte Marineoffizier werden und hatte eine Übungsfahrt als Kadett mitgemacht, aber in irgendeinem westindischen Hafen entfernte er sich zusammen mit ein paar Kameraden vom Schiff, um auf Abenteuer auszugehen.«
»Ja, jetzt erinnere ich mich dessen. Es hat so viel davon in den Zeitungen gestanden.«
»Das will ich glauben! Es war ja auch eine schlimme Blamage für die Familie. Man hat seither nie wieder von ihm gehört, also wird er wohl irgendwo in der Welt zugrunde gegangen sein. – Ach, hören Sie mal, Herr Direktor! Tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie sich den Herrn einmal an, der dort auf seinen Stock gestützt steht. Den da mit dem Krimstecher.«
Der Direktor holte einen Kneifer heraus, den er mit einem Druck der Hand vor ein goldenes Pincenez setzte, das bereits auf seinem orientalischen Gesichtsvorsprung ritt.
»Den Herrn da? Den habe ich vorhin schon gesehen, als wir nach dem Lunch hierhergingen. Er saß da drinnen im Garten unter einer der großen Fächerpalmen. Das ist gewiß ein Russe. Es könnte wohl so aussehen, als wollte er sich hier nach einem längeren, unfreiwilligen Aufenthalt in Sibirien erholen.«
»Ein Russe? Aber ... Nein ... Ja, bei meiner Seelenseligkeit! Das ist Dihmer! Das ist er in höchsteigener Person!«
»Gutsbesitzer Dihmer?«
»Nein, ich weiß doch nicht recht ... dieser Bart! Und doch! Ich glaube, ich will einmal rufen.«
»Aber geht denn das an? Ich sage Ihnen, ich bin ziemlich sicher, daß es ein landesverwiesener Russe ist.«
»Ich versuche es doch einmal ... Dihmer! Torben Dihmer!«
Die Gestalt zuckte zusammen, und der Krimstecher verschwand schnell in die Tasche des Mantels, während sich der Mann in der Richtung des Lautes umwandte.
»Ja, natürlich ist er es! Dieses Widderprofil ist doch nicht zu verkennen! ... Dihmer! Alter Freund!«
Der Generalkonsul schwenkte seinen weißen Kalabreser und stand einen Augenblick später unten auf der Promenade, die beiden Hände auf Torbens Schultern gepflanzt.
»Willkommen, aus dem Totenreich. Weiß Gott, ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt, mit dem Bart! Du siehst leibhaftig aus wie einer von diesen Russen, die sich hier unten aufhalten, um sich nach einem längeren Aufenthalt in Sibirien zu erholen. Gratuliere, du medizinisches Wunder! Du weißt doch, daß in allen Zeitungen über dich berichtet worden ist?«
Torben war unglücklich über diese Begegnung. Als der Generalkonsul einen Schritt zurücktrat, um ihn recht gründlich zu betrachten, stand er verlegen da und ritzte mit seinem Stock in den Kies. Nach einer Weile kam Direktor Zaun die Treppe herabgeschlichen und ließ sich vorstellen; aus einem jeden seiner Züge guckte die Neugier heraus.
Sein Gesicht kam Torben bekannt vor, aber er entsann sich nicht, woher – und machte sich auch nichts daraus, zu fragen.
Die drei Landsleute gingen nun eine Strecke den Weg entlang, und als Torben keinen andern Ausweg sah, die genierende Begleitung loszuwerden, machte er den Vorschlag, daß sie auf einer der leeren Bänke Platz nehmen wollten. Von dort aus konnte er das Boot im Auge behalten und sich dagegen sichern, durch eine Landung überrascht zu werden.
Der Generalkonsul überwältigte ihn mit Fragen. Er wollte wissen, wann Torben gekommen sei, welchen Weg er gewählt habe, in welchem Hotel er wohne, und ob er schon Landsleute oder vielleicht »Landsmänninnen« getroffen habe. Torben saß mit einem peinlichen Gefühl da, als werde er rein körperlich befingert und beschnüffelt. Er erwiderte nur, er sei am vorhergehenden Abend über Mailand hierhergekommen, vermied es aber, den Namen der friedlichen Pension zu nennen, in der er sich verborgen hatte.
Und um sich gegen weiteres Zollverhör zu sichern, fragte er: »Wie lebst denn du selber? Du bist verheiratet, nicht wahr?«
»Lieber Freund, das weißt du doch! Mit Natalie Lund. Wir haben schon vier Sprößlinge, vier junge Löwen, die zusammen zweiundsechzig Kilo wiegen. Nach sechsjähriger Ehe. Du mußt doch zugeben, daß wir unsere Bürgerpflicht erfüllt haben.« Torben bezeugte ihm seine Achtung mit einer Neigung des Kopfes.
»Ja, meine Frau verdient wirklich Hochachtung. Ich freue mich darauf, dich ihr vorzustellen. Ein passionierter Freiluftmensch, wie ich selbst auch. Unverfälschte Natur. Keine Korsettverkrüppelung. Keine Wandernieren. Den dritten Februar zwölf Uhr fünfzehn Minuten stellte sich unser letztes Kind mit einem großen Freudenschrei aus dem Jenseits ein, und am fünfundzwanzigsten desselben Monats hatte meine Frau die Koffer gepackt und war klar zur Abreise mit der ganzen Schar. Ich kann wohl sagen, daß das ein Rekord ist.«
»Du bist mit der ganzen Familie hier?«
»Ja, ich reise so wie der Elefant des Kalifen mit einer Ammenstube auf dem Rücken. Eigentlich wollten wir nach San Remo, wie gewöhnlich, aber meine Frau und ich finden beide, daß die Luft hier reichlich so frisch ist, mehr ozonhaltig. Die Natur ist ja überall gleich herrlich, und das reisende Publikum ist ungefähr das gleiche. Ja, für dich, lieber Freund, muß es sein, als erwachtest du mitten im Paradies.«
Hierauf erwiderte Torben nichts.
»Sie kommen von oben her, aus der Rheingegend?« begann nun Direktor Zaun, der mit abgewandtem Gesicht dagesessen und sich offenbar gekränkt gefühlt hatte, weil er nicht wiedererkannt worden war. »Dort ist ja in diesem Jahre ein ungewöhnlich feuchter und kalter Nachwinter gewesen. Man spricht von einer ernsten Beschädigung der jungen Weinpflanzen. Das würde ja einen großen ökonomischen Verlust bedeuten. Wie denken Sie über den Generalstreik im Ruhrgebiet? Glauben Sie, daß etwas daraus wird? Die letzten Nachrichten klingen ja recht beunruhigend.«
Als er hörte, daß Torben nichts davon wußte, zog er ein mächtiges Bündel Zeitungen aus der Tasche seines Überziehers. Es waren große englische, deutsche und französische Weltblätter, darunter eine Riesennummer der »Frankfurter Zeitung«, zwischen deren fünfzig Seiten sein Kopf verschwand, während er einen Artikel suchte. Und als er ihn endlich gefunden hatte, begann er daraus vorzulesen.
Seine Stimme mit den sonderbaren Kehllauten, seine leidenschaftlich gerunzelte Stirnhaut, die Art und Weise, wie er jeden Augenblick den Kneifer mit der ganzen Hand nervös zurechtdrückte, endlich seine Zeitungsgier, dies affenartige Erfülltsein von all dem Gleichgültigen, das sich ringsum in der Welt zutrug, erweckten von neuem eine flackernde Erinnerung in Torben, aber er konnte sich noch immer nicht entschließen, zu fragen.
Nun sah er auch, daß das Boot da draußen gewendet hatte und sich dem Ufer näherte. Um nicht Gefahr zu laufen, Jytte Abildgaard zum ersten Male angesichts dieser fremden Menschen zu begegnen, erhob er sich und sagte Lebewohl.
»Nein, so warte doch!« sagte der Generalkonsul. »In einer halben Stunde fängt die Musik an, dann wird es hier lebhaft.« »Gerade deswegen will ich jetzt gehen. Ich bin ja noch ein wenig Rekonvaleszent.« –
Auf dem Heimwege nach seinem Hotel fühlte er sich wirklich ganz elend, und die Angst stieg in ihm auf, daß er sich in seiner Ungeduld vielleicht zu früh in das Treiben des Lebens hinausgewagt habe. Die Ärzte hatten ihn ja freilich für geheilt erklärt, und wenn er nicht versäumte, seine Pillen zu nehmen, fühlte er sich auch ziemlich wohl, aß mit Appetit, schlief wieder wie in alten Zeiten und konnte auch an seinem Äußern keine tieferen Spuren seiner Krankheit bemerken, ausgenommen ein leichtes krampfhaftes Zittern des rechten Augenlids. Aber die letzte Woche mit ihrer Reiseunruhe und jetzt Jyttes Anblick waren doch zu viel für seine Kräfte gewesen.
Die Begegnung mit dem Generalkonsul hatte ihn noch mehr verstimmt. Es war ihm beim Anblick des ehemaligen Freundes ergangen, wie es ihm überhaupt bei dieser so heftig ersehnten Wiedervereinigung mit dem Leben ergehen zu sollen schien: er kannte die Wirklichkeit nicht wieder. Sie gestaltete sich für ihn zu einem Hohlspiegel, der alle Linien in dem Erinnerungsbild, das er davon bewahrt hatte, verzerrte und vergröberte.
»Aber das ist natürlich ein Überbleibsel meiner Nervosität« – tröstete er sich beständig. Er hatte zu lange mit sich selbst eingemauert gelebt, um es ertragen zu können, mit seinen Mitmenschen in eine so nahe Berührung zu geraten. Den Eindruck, den sie gleich an dem ersten Tage auf der Reise von daheim auf ihn gemacht hatten, konnte er nicht vergessen. Als der Zug in den Bahnhof von Aarhus einlief und er das Gedränge auf dem Bahnsteig sah, die Reihe häßlicher Gesichter erblickte, die an dem Fenster seines Abteils vorüberglitt, hatte ihn eine Angst erfaßt, ungefähr so wie die, mit der er zum erstenmal als Kind in einen Raubtierkäfig hineinsah.
Auch nichts von dem, was er seit seiner Abreise von zu Hause erlebt hatte, war ihm recht zu Wirklichkeit geworden. Alles war wie die Bilder in einem wirren Fiebertraum an ihm vorübergeeilt. Jener sternenklare Februarmorgen vor sechs Wochen, als der Wagen daheim an der Treppe hielt und Barbara mit einem Licht in den Zimmern herumlief, um seine Handtasche zu suchen, erschien ihm oft als die letzte wirkliche Erinnerung, die er von sich selbst hatte.
Nur eines hatte ihn nicht enttäuscht – das Wiedersehen mit den jungen weiblichen Wesen. Es gab Tage, an denen er ein Gefühl hatte, als hätten alle schönen Damen der ganzen Erde einander in Wiesbaden ein Stelldichein gegeben. Sie hatten ihm auf den Promenaden den Sonnenschein und die Naturfreude ersetzt, die er in dem unveränderlich stillen, grauen Flußnebel, der die ganze Umgebung verhüllte, entbehren mußte. Bei den abendlichen Festen in den barbarisch vergoldeten Sälen des Kurhauses hatte er wieder den Anblick der liebreizenden Bewegungen genossen, mit denen die Damen der großen Welt die bunten Schleppen über den Fußboden führen und ihre Fächer aufschlagen können, – so angeboren natürlich, wie der Pfau sein Rad schlägt. Er konnte ganz still auf einer Bank sitzen, nur um der Unterhaltung von ein paar jungen Mädchen zu lauschen, diesem fröhlichen Geplauder über nichts, das wie Vogelgezwitscher erquickte, nach all dem törichten Wiederkauen des Zeitungsklatsches, den man sonst überall hörte.
Und nun hatte er Jytte Abildgaard gesehen. Leibhaftig war sie dort unter den Palmen des Hotelparks an ihm vorübergegangen. In einem weißen Kleid, einen pflaumenfarbenen Seidenschal über den Schultern. Umschwärmt von Kavalieren, die sie umsummten, wie Bienen eine Honigblüte. Unverändert. Gleich aufrecht und jugendlich üppig. Gleich unergründlich in ihrer unangefochtenen Jungfräulichkeit ...
Er hatte sein Hotel erreicht und stand einen Augenblick draußen unter der Markise, die seinen Balkon beschattete. Er hatte bei seiner Ankunft am vorhergehenden Abend versäumt, ein Zimmer mit Aussicht nach dem Meer zu nehmen. Nun sah er dafür in einen Garten hinab, mit der üppigsten Wildnis der Flora aller Jahreszeiten. Seite an Seite hingen Goldlack, Pelargonien und Nasturzien in reichen Büscheln über die Gartenmauer. Magnolien und Rosen standen in vollem Flor, und Pfirsich- und Mandelzweige schimmerten von Blüten. Unter einer Gruppe von Apfelsinenbäumen, die voll von reifen Früchten waren, blaute das Gras von den Veilchen des Frühlings.
Ja – dachte er – jetzt stand er hier, wohin seine Gedanken die letzten Wochen geschweift waren, wenn sie sich nicht auf Favsingholm aufgehalten hatten. Und was nun? ...
Eine Kirchenglocke in der Nähe begann zu läuten. Er sah erstaunt nach seiner Uhr. Noch nicht mehr als drei? Überall waren die Tage gleich unheimlich lang!
Erst in zwei Stunden konnte er anstandshalber einen neuen Versuch machen, Jytte und ihre Mutter zu treffen. Und was dann? Was würde geschehen, ehe die Sonne unterging? ... Vielleicht war er schon morgen wieder weit weg von hier.
Dort auf der Promenade, wo die Musik zu spielen begonnen hatte, glitt ein Strom von den vielen Flüchtlingen vor dem Winter dahin, die sich aus den Nebeln und der Kälte nördlich von den Alpen hier hinunter gerettet hatten. Glückliche Rekonvaleszenten humpelten an dem Arm eines Verwandten oder eines Dieners vorüber. In Rollstühlen saßen in Pelz gekleidete Greise mit Augen, denen vor der Dunkelheit graute; sie waren hier hinuntergereist, um noch ein Jahr Frist von der Gnade der Sonne und der Luft zu erbetteln. Verliebte Neuvermählte schwärmten in ihrem gesetzmäßigen Treiben mitten zwischen professionellen Tagedieben umher, die, übersättigt von den Wintervergnügungen der Großstadt, sich jetzt eine kleine Weile sommerlichen Freuden hingaben.
Großes Aufsehen erregten einige indianerrote Gestalten, Männer und Frauen, in einer Art Apostelbekleidung mit unbedecktem, wettergebleichtem Haar und nackten Füßen in Sandalen. Sie gehörten einer Gemeinde von modernen Steinaltermenschen an, die da oben in den Bergen in Erdhütten wohnten und, wie man erzählte, von Wurzeln lebten, während sie ihre Tage mit frommen Naturbetrachtungen ausfüllten. Trotzdem fehlten sie nur selten hier zu der großen Promenadestunde, wo sie sich mit sichtlicher Befriedigung in dem Erstaunen ihrer früheren Zeitgenossen spiegelten.
Die kleine Gesellschaft von den Gästen des Parkhotels, die die Ruderfahrt unternommen hatte, war jetzt in den Bootshafen zurückgekehrt.
Jytte Abildgaard war eine der letzten, die an Land sprangen. Sie stand in ihrem weißen Kleid, in den pflaumenfarbenen Schal gehüllt, auf der Reeling, während so viele hilfreiche Hände nach ihr ausgestreckt wurden, daß sie um ein Haar ins Wasser gefallen wäre. Sie hatte wie gewöhnlich alle die Fremden durch die Natürlichkeit ihres Wesens und ihre nordische Frische zuerst in Erstaunen versetzt und dann bezaubert.
»Es kann doch unmöglich wahr sein, daß Sie sich aus Rücksicht auf die Gesundheit Ihrer Tochter hier im Süden aufhalten,« sagte die Frau eines amerikanischen Obersten zu ihrer Mutter, als sich nun die ganze Gesellschaft die Treppe hinauf nach der Promenade begab. »Sie sieht ja aus wie die personifizierte Gesundheit.«
Frau Abildgaard wußte kaum, was sie antworten sollte. In einem Augenblick wie diesem fand sie selbst ihre Angst töricht. Im übrigen hatte sie mit der Reise ebensosehr bezweckt, mit Torben Dihmer an einem Ort zusammentreffen zu können, wo man einigermaßen vor der Neugier der lieben Kopenhagener gesichert war.
Jytte ging eine Strecke vor der übrigen Gesellschaft her, begleitet von dem jungen Herrn Mohn; der war überglücklich, sie endlich von Herrn Oberverwaltungsgerichtsrat von Auen erobert zu haben, der sich sonst stets den Platz an ihrer Seite anmaßte. Der junge Mensch, der noch nicht zwanzig Jahre alt war, sah unheimlich aus in dem resedafarbenen Anzug nach neuester Mode und den Unterkleidern von violetter Seide. Es war nicht viel mehr von ihm übrig als das Skelett.
»Jetzt müssen Sie also meine Idee anhören, Fräulein Abildgaard. Es sollte ja eigentlich eine Überraschung für Sie sein, aber ich sehe mich doch gezwungen, sie Ihnen zu offenbaren, ehe ich reise. Heute abend um elf Uhr fahre ich also mit der ›Viktoria‹ hier vorüber. Und nun möchte ich gern von dem Kapitän die Erlaubnis erlangen, einige Raketen aufsteigen zu lassen, und dann wollte ich Sie bitten, mir die Freude zu machen, oben an Ihrem Fenster zu stehen und das mit anzusehen.«
»Um elf Uhr! Aber um diese Zeit liege ich hoffentlich schon in süßem Schlummer, Herr Mohn! Und das sollten Sie wohl auch lieber tun.«
»Wenn ich Sie nun darum, als um die allerletzte Gunstbezeugung bitte? Es soll ein Feuerwerk werden, das Ihrer würdig ist. Ich weiß, man kann diese Dinger beim Steuermann kaufen, wenn der Kapitän es erlaubt. Und das tut er immer bei stillem und klarem Wetter.«
»Herr Mohn! Was glauben Sie wohl eigentlich, was Ihr Herr Vater dazu sagen würde, daß Sie so viel schönes Geld ohne den geringsten Nutzen in die Luft hinaufwerfen?«
»Ohne den geringsten Nutzen? Wenn ich Ihnen eine Freude damit machen kann?«
»Ja, aber das können Sie nicht.«
»Nicht? ... Das ist schade. Was soll ich dann tun? ... Wollen Sie mir auch nicht erlauben, Ihnen zu schreiben, wenn ich nun nach Ägypten komme? Ich möchte Ihnen so gerne von alledem erzählen, was ich erlebe.«
»Sagen Sie mir doch, Herr Mohn, wie alt sind Sie eigentlich?«
»Die Frage stellt man einem Menschen in meinem Alter nicht – das wissen Sie recht gut. Wollen Sie mir nun erlauben, Ihnen zu schreiben?«
»Meinetwegen! Aber ich sage Ihnen im voraus, daß Sie keine Antwort erwarten dürfen. Ich kenne nichts Schlimmeres, als Briefe zu schreiben.«
»Die beiden Kamelien, die Sie da im Gürtel tragen, Fräulein Abildgaard, wollen Sie mir die als Erinnerung an Sie schenken? Wollen Sie das tun?«
Jytte konnte es nicht übers Herz bringen, nein zu sagen. Sie hatte Mitleid mit dem armen Burschen, der kaum mehr als drei Monate zu leben hatte.
Sie waren an die halbrunde Erweiterung des Spazierweges gelangt, wo die Musik auf einer Erhöhung aufgestellt stand. In dem Gedränge dort erblickte sie Generalkonsul Kolding, dessen beiden großen Vorderzähne aus weiter Ferne schimmerten. In der Hoffnung, ihm entgehen zu können, bog sie nach der Seite ab, – sie hatte eine Art Wasserscheu vor diesem großen Kraftmenschen mit dem unermüdlichen Känguruhlächeln – aber der Generalkonsul hatte sie schon entdeckt und steuerte gerade auf sie zu.
» Bon giorno! Bon giorno, Signorina! Sie haben wohl den vom Tode Auferstandenen gesehen?«
»Wen?«
»Gutsbesitzer Dihmer, natürlich! Wußten Sie denn nicht, daß er gekommen ist? Vor kaum einer halben Stunde ist er von hier fortgegangen. Ich hätte ihn übrigens beinahe nicht wiedererkannt. Er hat sich einen Vollbart zugelegt und sieht leibhaftig aus wie ein landesverwiesener Russe, der direkt aus Sibirien entsprungen ist.«
Jytte war einen Augenblick ganz weg gewesen vor Überraschung, aber der familiäre Ton des Generalkonsuls brachte sie schnell wieder zur Besinnung. Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich von ihm ab und ging denselben Weg, den sie gekommen war, zurück, um zu ihrer Mutter zu gelangen. Als der junge Herr Mohn sich ihr anschließen wollte, verbat sie sich sehr bestimmt seine Begleitung.
Frau Abildgaard und die Frau des amerikanischen Obersten waren an der Treppe, die zu dem Bootshafen führte, stehen geblieben, um einigen halbnackten Kindern zuzusehen, die auf den sonnenheißen Steinen umhersprangen. Als Jytte sie erreichte, schob sie stillschweigend die Hand unter den Arm der Mutter, und nun gingen sie alle drei eine Weile weiter, ehe sie sich entschließen konnte, die Neuigkeit zu erzählen.
»Dann wollen wir lieber nach Hause gehen,« sagte die Mutter. »Es wäre doch fatal, wenn er uns aufsuchte, ohne jemand zu finden.«
Sie entschuldigten sich bei der Oberstin und entfernten sich durch eine der engen, halb unterirdischen Gassen, die von der Promenade nach der Stadt hinaufführten. Jytte ging noch immer Arm in Arm mit ihrer Mutter. Sie schritten schnell dahin, und keine von beiden sprach.
Jytte war kleiner als ihre Mutter, glich ihr im übrigen aber Zug für Zug. Wie die beiden da Arm in Arm gingen, während der Hut und der Schleier Frau Bertas silberweißes Haar verhüllte, hätte man sie gut für Schwestern halten können.
Sie wohnten nicht in dem großen Hotel selbst, sondern nahmen dort nur ihre Mahlzeiten ein. Sie hatten ihr Privatlogis in einer Villa, die einige Minuten von dort entfernt, ein wenig höher hinauf an dem Bergabhang lag. Sie bewohnten hier einen Salon im Erdgeschoß mit Eingang durch eine Loggia, und außerdem zwei kleine Schlafzimmer darüber.
Von einer Frau, die die Gartenwege harkte, erfuhren sie, daß ein fremder Herr dagewesen sei und nach ihnen gefragt habe. »Das ist Dihmer gewesen!« sagte Frau Abildgaard. »Wie fatal das doch ist!«
In der Loggia, die fast wie ein Zimmer möbliert war, fanden sie denn auch seine Karte mit einer hinzugefügten Hoteladresse.
»Ich glaube, ich schicke ihm gleich ein paar Worte hinüber. Ich werde ihn bitten, hierher zu kommen und mit uns zusammen zu essen. Was meinst du dazu?«
Jytte nickte nur und ging weiter ins Zimmer hinein. Hier löste sie den Hut und legte ihn auf eine Etagere. Und plötzlich preßte sie die Hand vor die Augen, ganz überwältigt von dem Gedanken an das, was nun so unabwendbar nahe war.
»Jetzt ist der Brief fort,« sagte die Mutter, als sie hereinkam. »Ich glaube, ich will hinaufgehen und mich gleich ankleiden. Dann ist wenigstens eine von uns unten, falls er vor der Speisezeit kommen sollte.«
Jytte hatte sich ans Klavier gesetzt und blätterte in einigen Noten. Sie saß noch da, als die Mutter eine halbe Stunde später zurückkam, zierlich gekleidet, in einem tiefvioletten seidenen Gewand mit einer langen Schleppe, die ihrer Gestalt viel Würde verlieh. In dem weißen Haar saß ein großer ziselierter silberner Kamm. Sie setzte sich in eine sonnige Ecke in der Loggia, wo ein Sofa aus Korbgeflecht mit Kissen stand. Man hatte von hier eine prächtige Aussicht über die Stadt, die sich hier oben von der Höhe aus wie ein einziger großer Park ausnahm, an der äußersten Grenze von einer blauweißen Mauer – dem Meer – umfriedigt.
Sie saß eine Weile in Gedanken versunken da, eine zusammengefaltete Zeitung im Schoß, verwundert und ein wenig beunruhigt darüber, daß Jytte in einem Augenblick wie diesem dasitzen konnte, ganz erfüllt von ein paar dummen Noten.
»Ach hör einmal,« sagte sie schließlich, »setze dich ein wenig hierher, mein Kind.«
Jytte trat in die Tür.
»Hast du gerufen?«
»Ja, komm ein wenig hier heraus! Ich möchte gern etwas mit dir bereden.«
»Hat das nicht Zeit, Mutter? Ich muß wohl hinaufgehen und mich umkleiden.«
»Ach, fünf Minuten kannst du schon damit warten. Setze dich hier neben mich und laß uns vernünftig zusammen reden.«
Jytte nahm etwas unwillig Platz und schob ein Kissen hinter ihren Rücken.
»Was willst du denn?«
»Du brauchst doch nicht gleich so wütend auszusehen. Ich wollte dich nur fragen, ob du verstanden hast, weswegen Torben Dihmer gerade hierher gekommen ist; er hätte ja so viele andere Orte für seine Nachkur wählen können.«
»Du meinst, es geschieht um unsertwillen?«
»Was meinst du selbst?«
»Ja, das habe ich natürlich auch gedacht. Du und er, ihr habt ja immer so gut miteinander plaudern können. Ihr habt so viele gemeinsame Interessen: Politik, Sozialökonomie und wie es alles heißen mag.«
»Jetzt sollst du keinen Unsinn reden, Jytte. Wenn ich dich frage, so geschieht es, weil ich wieder einmal nicht klug daraus werden kann, wie es in einem gewissen Punkte in Wirklichkeit mit dir bestellt ist. – Sage mir, mein Kind, weißt du es wohl eigentlich selbst?«
Frau Berta legte ihre Hand auf die der Tochter; es war dies ein zartes Werben um ihr Vertrauen, aber Jytte war gleichsam überempfindlich jeder Berührung gegenüber und zog ihre Hand zurück. Jetzt finde ich, wir haben genug über Dihmer geredet, Mutter. Du weißt gewiß gar nicht, daß du die letzten vierzehn Tage fast von nichts weiter gesprochen hast.«
»Ja, jetzt will ich richtig Bescheid wissen. Und laß mich einmal ganz offen mit dir reden! Siehst du, mein Kind, du hast dein Herz ja immer vor andern, auch vor mir, unter Schloß und Riegel gehalten; aber ich glaube, doch ein wenig Bescheid darüber zu wissen, wo deine Gedanken diese letztem Jahre gewesen sind. Ich habe auch den Ausdruck in deinem Gesicht nicht vergessen können an jenem Abend im vergangenen Herbst, als Vetter Asmus aus Favsingholm zurückkam mit der großen Neuigkeit über Torben Dihmer. So strahlt ein Mensch nur, wenn ihm seine abenteuerlichste Hoffnung durch ein Wunder erfüllt wird. Aber jetzt in der letzten Zeit ... ja, ich mag mich irren, und hoffentlich tue ich es, aber ich habe ein Gefühl gehabt, als wenn ein anderer Mann deine Gedanken reichlich viel beschäftigt hat, falls du nämlich die Absicht hast, Torben Dihmer dein Jawort zu geben.«
Jytte wandte das Antlitz erstaunt der Mutter zu.
»Wer sollte das nur sein?«
»Weißt du wirklich nicht, an wen ich denke?«
»Ist es jemand, mit dem wir hier verkehren?«
»Ja.«
»Vielleicht der Generalkonsul?«
»Ach, Unsinn! Du weißt ja doch recht gut, wen ich meine. Herrn von Auen!«
»Ja, dann ist er es wohl. Aber wie kommst du eigentlich darauf?«
»Ach, das ist doch nicht so sonderbar. Ihr seid ja soviel miteinander spazieren gegangen. Die Leute fangen schon an, darüber zu reden, wie ich bemerkt habe.«
»Nun ja, ich finde ihn unterhaltend. Aber du magst nun einmal die Deutschen nicht, Mutter! Du gleichst auch in dieser Beziehung Vater. Ich bin gern mit ihm zusammen – das gestehe ich offen. Ich finde, er ist der einzige von allen, die wir hier unten getroffen haben, von dessen Unterhaltung man eine Ausbeute hat.«
»Du meinst nicht ein Wort von alledem, was du da sagst, Jytte.«
»Warum fragst du mich dann? Und warum soll ich absolut ins Verhör?«
»Wie gereizt du doch bist, Jytte!«
»Du hättest mich ja in Ruhe lassen können!«
Sie wollte aufstehen, aber die Mutter hielt sie zurück.
»Was hast du doch nur, Kind? So kenne ich ja dich gar nicht!«
»Laß mich jetzt, bitte, gehen, Mutter! Ich muß hinauf. Laß mich, bitte, gehen!«
»Jytte, was hast du eigentlich? Vertraue dich doch deiner Mutter an.«
Sie nahm ihren Kopf in beide Hände und sah ihr in die Augen. Da tat sich ein hoffnungsloser Abgrund vor Jytte auf. Unter den zitternden Wimpern quoll eine Träne hervor, und sie sank der Mutter an die Brust.
Frau Berta wußte bald nicht mehr, was sie davon denken sollte. Es war ihr etwas ganz Neues, Jytte sich so hingeben zu sehen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sie zuletzt hatte weinen sehen.
»Liebes Kind, was hast du nur einmal?«
»Nichts! Nichts! ... Ich wollte nur ...«
»Was wolltest du, Jytte?«
»Ach – wäre ich nur damals als kleines Kind gestorben!«
Die Antwort beruhigte Frau Berta. Sie mußte sogar lächeln. Diese düstere Anrufung des Todes erweckte Erinnerungen in ihr aus ihrem eigenen jungen Liebeslenz, als das Leben zu schwindelnd reich erschien und das Glück zu groß, als daß das Herz es hätte tragen können, ohne zu brechen.
Sie streichelte Jytte über das Haar und fragte: »Sage mir doch, mein Kind, vertraue mir unter dem feierlichen Gelöbnis des Schweigens an ... liebst du Torben Dihmer?«
Es erfolgte keine Antwort.
»Liebst du ihn, Jytte?«
»Ja,« kam es wie ein Seufzer von tief, tief da drinnen.
»Aber dann ist ja alles so, wie es sein soll! Was hast du da für Grund zu weinen?« sagte die Mutter, während die hellen Tränen ihr selbst an den Wangen herabperlten. Stürmisch umarmte und küßte sie die Tochter, die widerstrebend und schließlich mit offenbarem Unwillen ihre Liebkosungen hinnahm.
»Laß mich jetzt hinaufgehen, Mutter! Es könnte jemand kommen.«
»Ja, geh – mein Kind! Geh! Torben Dihmer soll dich nicht gern das erste Mal mit roten Augen sehen.«
Frau Berta bereute jetzt, daß sie überhaupt mit Jytte von diesem Herrn von Auen gesprochen hatte; aber Jytte war selbst nicht ohne Schuld daran, daß ein Verdacht in ihr aufgestiegen war. Mehrmals in der letzten Zeit, wenn sie da drinnen saßen und Dämmerstunde bei ein wenig Feuer im Kamin hielten und sie ihre Gedanken bei einem andern glaubte, konnte Jytte auf einmal anfangen, auf eine Weise von dem Deutschen zu reden, als wolle sie durchaus Entschuldigungen für alles das bei ihm finden, was die Leute abstieß. Aber das war, gottlob! also nur blinder Lärm gewesen. Wenn sie sich nun verheiratete und einen wirklichen Zweck für ihr Leben erhielt, würde ihre alte Gesundheit schon zurückkehren. Das Glück der Liebe war ja doch die beste Medizin. Das wußte sie aus eigner Erfahrung. – –