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Am nächsten Vormittag, als Jytte ihren Vetter im Garten traf, bat sie ihn, ihr einmal im Laufe des Nachmittags einen Wagen zu überlassen. Sie wolle ihrer Freundin, der Doktorsfrau in Jerve, gern einen Gegenbesuch machen.
»Das tut mir leid, ich habe dem Kutscher gerade einen andern Auftrag gegeben. Hat es nicht Zeit bis morgen?«
»Ja, lieber John – morgen oder ein anderes Mal,« sagte sie und war gleich geneigt, die Fahrt ganz aufzugeben.
Am folgenden Tage fuhr sie trotzdem hin.
Als der Wagen vor der Wohnung des Arztes hielt, sah sie, daß sie das Unglück hatte, gerade in eine große Wäsche hineinzugeraten. Rings um das ganze Haus herum hing Wäsche zum Trocknen. Auch im Garten waren Schnüre gezogen. Der frische Laugenqualm drang ganz bis auf den Weg hinaus.
Sie fand alle Türen im Hause offen, ging aus einem Zimmer in das andere, ohne einem Menschen zu begegnen. Erst an der Gartentür angelangt, entdeckte sie die Freundin, die zwischen klatschenden Lakenreihen auf dem Rasenplatz stand. Neben ihr im Gras saß ein kleines Kind und streifte bedächtig eine Butterblume ab. Von einer andern Stelle des Gartens drang das Geräusch spielender Kinder herüber.
Frau Meta wandte ihr den Rücken zu, und als Jytte sah, daß sie wieder guter Hoffnung war, begann ihr Herz zu pochen. »Guten Tag, Meta!« sagte sie; aber infolge des Klatschens der Wäsche mußte sie ihren Gruß mehrmals wiederholen, ehe die Freundin sie hörte.
Nun folgte ein großer Empfang. Die Kleine wurde auf den Arm genommen, um vorgestellt zu werden. Auch die andern Kinder sollten sofort zur Musterung antreten.
»Hedwig – Jörgen – und Olga!« rief die Mutter, und drei halbnackte und sonnengebräunte Rangen kamen auf allen vieren unter den aufgehängten Bettüchern und Bettdecken hervorgestürzt. Als sie die fremde Dame entdeckten, richteten sie sich erschrocken auf und gingen darauf artig hin und gaben die Hand.
»Das ist ja ein ganzes Regiment!« sagte Jytte.
»Ja, findest du nicht auch, daß ich Grund habe, stolz zu sein?«
»Freilich, – und das bist du ja auch.«
»Aber wie seht ihr nur einmal aus, Kinder!« sagte Meta.
»Sie liegen ja den ganzen Tag an der Erde und wälzen sich herum wie die Spatzen ... Komm, Jytte, jetzt gehen wir hinein! Ich muß nur den Mädchen Bescheid sagen.«
»Es tut mir so leid, daß ich störe.«
»Unsinn! Wir sind übrigens beinahe fertig. Aber wir haben auch heute morgen um fünf Uhr angefangen. Es wird herrlich sein, die Schenkel ein wenig zu ruhen!«
Während die Freundin hinausgegangen war, saß Jytte allein und sah sich forschend um. Die Tür zu des Doktors Stube nebenan stand offen. Die Ausstattung in beiden Zimmern war in altmodischem Bauernstil gehalten. Hohe, dunkel gebeizte Paneele mit einer festen Bank längs der einen Seite, getünchte Wände, rot gestrichene Möbel. Keine Gardinen oder Portieren zum Schutz gegen das Licht, nur eine gelbe Koppe über den Fenstern. Unbequeme Stühle mit Strohsitzen.
»Wie gemütlich du es hier hast!« sagte sie, als Meta zurückkam, wußte aber nicht recht, ob sie es auch wirklich meinte. In der Stimmung der Stuben lag etwas, das sie zugleich anzog und abstieß, und sie brachte unwillkürlich dies Gefühl in Verbindung mit ihrem Eindruck von Pastor Gaardbo. – »Das ist also wohl der Geschmack deines Mannes?« fragte sie.
»Ja – und der meine. Du findest ihn gewiß reichlich spartanisch?«
»Nun ja – vielleicht.«
»Siehst du, wir finden, man soll sich das Leben nicht noch beschwerlicher machen, als es ohnehin schon ist. Und man kann wirklich die meisten von den tausenderlei Dingen, mit denen die Leute ihre Stuben anzufüllen pflegen, so herrlich entbehren.«
Jytte erwiderte nichts hierauf, und nun saßen sie eine Weile da und sprachen von ihren verschiedenen gemeinsamen Freundinnen, von deren Ehen und Scheidungen und andern Mißhelligkeiten. Meta hatte einen großen Nähkorb mit Stopfsachen vor sich hingestellt. Sie war nicht gewohnt, müßig zu sitzen, und kam daher in Verlegenheit mit ihren Händen. Aber Jytte ahnte, daß sich die Freundin außerdem mit dieser hausfraulichen Beschäftigung halb unbewußt gegen die Eindrücke aus der Welt, die sie verlassen hatte, verschanzte.
»Sehnst du dich nie nach Kopenhagen zurück?« fragte! sie.
»Nein, nie! Ich finde, man lebt viel glücklicher auf dem Lande. Das hast du auch selbst einmal gesagt; ich entsinne mich dessen noch. Es klang so drollig. Aber dann erzähltest du von deiner Kindheit auf Samsö, und da verstand ich, daß du es wirklich meintest.«
»Du sollst sehen, wenn du dich einmal verheiratest, so wird der Betreffende auch gewiß ein großer Gutsbesitzer sein. Das habe ich immer geglaubt.«
Jytte mußte lächeln.
»Sag mir doch, Meta, warum willst du mich eigentlich mit aller Gewalt unter die Haube bringen?«
»Weil es das einzige ist, was wirklich Glück bringt. Jetzt weiß ich es!«
»Ja, ich beneide dich um deine Kinder. Könnte man sie nur mit der Paketpost geschickt bekommen, ohne alle diese vielen vorausgehenden Formalitäten.«
Jetzt war die Reihe zu lächeln an Meta. Sie sah verstohlen mit einem halb schalkhaften, halb verschämten Blick über ihre Stopfnadel zu Jytte hinüber und errötete.
»Davon meinst du ja nicht ein Wort,« sagte sie.
Aber im selben Augenblick wechselte der Ausdruck ihres Gesichts. »Ach, du denkst natürlich an die Entbindungen. Ja, die sind gräßlich. Noch viel schlimmer, als man es sich vorgestellt hat,« sagte sie, und Jyttes aufmerksame Augen sahen, wie das Blut aus den Wangen der Freundin entwich aus Angst vor dem, was ihr jetzt wieder bevorstand.
»Nein, daran dachte ich eigentlich nicht. Eine Niederkunft ist ja auch heutzutage nicht mehr dasselbe wie in alten Zeiten, wo man keine Betäubung kannte. Kornelia Borgen erzählte mir, als sie ihr letztes Kind bekam, ahnte sie nicht das geringste. Entsinnst du dich noch des großen Aufstandes unter den Anhängern der Innern Mission vor ein paar Jahren, weil mein Vetter, Professor Hagen, von der modernen Wissenschaft geschrieben hatte, daß sie den alttestamentlichen Flüchen, einem nach dem andern, höflich die Treppe hinableuchte?«
Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, erwiderte Meta nach einer Pause: »Ich bin nur einmal betäubt worden. Und das eine Mal bereue ich jetzt fast.«
»Mein Mann hat mir natürlich immer beigestanden, und er kann die Betäubungen bei Entbindungen nicht leiden. Er findet, die Kinder sollen auf natürliche Weise zur Welt kommen, sonst ist es nur wie die Operation einer Geschwulst. Man erfährt selbst nichts von dem, was mit einem geschieht in diesem größten Augenblick im Leben einer Frau.«
»Was hast du denn getan?«
»Nichts. Ich habe die Zähne zusammengebissen, solange ich konnte. Aber damals, als ich Olga bekam, bedurfte ich der Hilfe. Das Kind lag ganz verkehrt.«
»Und das bedauerst du jetzt?«
»Nein, das will ich nicht sagen, denn dadurch wurde vielleicht mein und des Kindes Leben gerettet. Ich habe Olga auch natürlich ebenso lieb wie die andern. Aber ich empfinde es trotzdem oft als Entbehrung, daß ich damals, als sie zur Welt kam, so weit weg war. Ich glaube, es bedeutet viel für eine Mutter, daß sie merkt, ihr Kind wird geboren, daß sie seinen allerersten kleinen Schrei gehört hat. Mein Mann pflegt zu sagen, sonst kommen die tiefsten Herzwurzeln nicht mit.«
Es flammte Jytte vor den Augen bei diesen Worten. Sie begriff nicht, daß Meta trotz allem, was sie durchgemacht hatte und noch leiden sollte, dort so gefaßt sitzen und sich zufrieden fühlen konnte. War da denn nichts in ihr, was sich auflehnte und Haß entfachte gegen die wilden Mächte, die die Welt mit einer so spitzfindigen Grausamkeit lenkten? Dachte sie auch nicht daran, daß alle diese Kinder, die sie unter so gräßlichen Qualen zur Welt brachte, vielleicht einmal wünschen würden, nie geboren zu sein, ja sich vielleicht schließlich töten würden aus Überdruß am Leben und seinen sinnlosen Mißhandlungen?
»Dein Mann ist wohl sehr religiös, so wie sein Bruder?«
»Ja, das kommt darauf an, wie du das meinst. Christen sind wir auf alle Fälle nicht.«
»Was seid ihr denn?«
»Ja, siehst du, mein Mann hat seine eigenen Anschauungen über alles. Wenn du mir versprichst, nicht darüber zu reden, kann ich dir gern erzählen, daß er an einem großen Werk schreibt. Er hat schon mehrere Jahre daran gearbeitet.«
»Wovon handelt es denn?«
»Von allem möglichen im Grunde. – Hauptsächlich aber von Kindererziehung und dem Zusammenleben mit der Natur. Nicht Sport oder Mondscheinschwärmerei oder dergleichen ... ja, es hat keinen Zweck, daß ich anfange, es dir zu erklären. Du mußt lieber versuchen, ihn selbst dazu zu bewegen. Und er tut es liebend gern.«
»Ich bin ein wenig erstaunt über das, was du mir da sagst. Neulich hast du mir erzählt, dein Mann und dein Schwager, der Pfarrer, wären einander so viel; da glaubte ich, daß sie auch auf religiösem Gebiet –«
»Mein Schwager gehört nicht zu denen, die sich an die Dogmen hängen. Er sieht allein auf die Gesinnung. – Aber das ist wahr, du kennst ihn ja! Er war gerade gestern hier und erzählte, daß er dich und deine Mutter getroffen habe.«
Jytte antwortete nur ja.
»Weißt du, daß mein Schwager einen großen Kummer gehabt hat?«
»Ich habe davon gehört. Er hat seine Braut verloren, nicht wahr?«
»Ja, und auf die unheimlichste Weise ... kurz vor der Hochzeit. Sie bekam einen Krampf beim Baden und ertrank. Das ist jetzt zwei Jahre her.«
»Wer war sie, das junge Mädchen?«
»Sie war aus Kolding. Übrigens war sie seine und meines Mannes Base. Ein vorzügliches kleines Menschenkind, frisch und lieb. Merkwürdigerweise spricht er nie von ihr. Aber ich kann es seinen Augen ansehen, daß er immer an sie denkt.«
»Lebt dein Schwager jetzt ganz allein in seiner Pfarre?«
»Ja, der Ärmste! ... Er hat natürlich eine Haushälterin, eine fürchterliche Person übrigens ... Aber wir hoffen ja von ganzem Herzen, daß er eine andre finden wird, die er liebhaben kann. So ein Junggeselle ist wirklich nicht zu beneiden.«
Im selben Augenblick hörte man eine Männerstimme draußen auf der Diele, und als Jytte die Stimme des Pfarrers zu erkennen glaubte, wurde sie ein wenig unruhig.
»Das ist mein Mann,« sagte Meta. »Ich will ihm nur sagen, daß du hier bist.«
Jytte beschloß, aufzubrechen, sobald sie den Doktor begrüßt hatte. Sie legte keinen Wert darauf, dem unhöflichen Mann nochmals zu begegnen, und bereute überhaupt, daß sie hergekommen war.
Doktor Gaardbo empfing sie indessen mit überraschender Liebenswürdigkeit. Er entpuppte sich außerdem als ganz unterhaltend, sprach viel und ein wenig lärmend, war aber voller Humor. Als Meta sie zu überreden suchte, doch zu Abend zu bleiben, stimmte er ein und erbot sich, sie nach Hause zu fahren, falls ihr eigener Wagen nicht warten könne. Aber all ihre Freundlichkeit machte Jytte nur noch erpichter darauf, fortzukommen, weil sie fühlte, daß sie gar nicht hierher paßte.
Bald darauf geleitete die ganze Familie sie an den Wagen. Doktor Gaardbos Interesse für die Freundin seiner Frau war wachgerufen durch eine Bemerkung, die sein Bruder gelegentlich seines Besuches neulich über sie hatte fallen lassen. Die Worte verrieten ein gewisses Erfülltsein von der schönen Ministertochter. Aus dem Grunde war er begierig geworden, sich selbst eine Ansicht über sie zu bilden, und als vorläufiges Ergebnis der Prüfung stellte er jetzt fest, daß die Dame wirklich ein gut Teil menschlicher war, als er es nach ihrer Eleganz und ihrem Gesichtsausdruck anfänglich angenommen hatte.
Als Jytte nach Hause kam, traf sie niemanden in den Zimmern; aber draußen unter der Marquise auf der Veranda stieß sie auf ihren Vetter, der dort mutterseelenallein saß, trübselig in sich versunken, eine Flasche Whisky und Sodawasser vor sich. Sie wollte an ihm vorübergehen, aber er bat sie, sich einen Augenblick zu ihm zu setzen; er habe Wichtiges mit ihr zu besprechen.
»Was willst du mir sagen?« fragte sie ungeduldig.
Er sah sie kläglich an.
»Es ist etwas sehr Ernsthaftes ... etwas sehr Trauriges. Sage mir doch, hast du nicht bemerkt, daß es zwischen mir und Wilhelmine nicht so ist, wie es sein soll?«
»Freilich habe ich das bemerkt.«
»Das dachte ich ja. Daher sollst auch du allein die ganze Wahrheit erfahren. Ich muß in vollem Vertrauen mit einem Menschen reden. – Wilhelmine und ich, wir müssen uns scheiden lassen. Es bleibt nichts anderes übrig.«
»Das hast du nun so oft gesagt, und doch ist nie etwas daraus geworden.«
»Ja, aber diesmal ist es Ernst. Der jetzige Zustand ist unerträglich. Wenn ich mit der Person weiter leben soll, so friere ich tot. Ich will lieber mit einem dreckigen Milchmädchen verheiratet sein als mit diesem Eiszapfen!«
»Es wäre wohl besser um euch bestellt, wenn ihr nicht den kleinen Kaj verloren hättet!« sagte Jytte, deren Gedanken immer wieder – gegen ihren Willen – zu der Freundin zurückglitten. »Oder wenn ihr mehr Kinder gehabt hättet.«
»Ach Gott, über Kaj hab ich genug zu hören bekommen, damals als sie ihn erwartete! Hinterher war sie ja stolz auf den Jungen; aber Wilhelmine hat trotzdem nichts davon wissen wollen, mehr Kinder zu bekommen. Sie konnte ganz wütend werden, wenn ich nur eine Anspielung darauf machte.«
»Kannst du ihr das im Grunde verdenken?«
»Das kann doch dein Ernst nicht sein, Jytte! Es ist ja die erste Pflicht der Frau, für die Vermehrung zu sorgen. Die Welt soll doch wohl nicht entvölkert werden?«
Jytte wollte nicht hierauf antworten. Mit abgewandtem Gesicht saß sie da und ließ sich mehr und mehr von ihrem düstern und bittern Einsamkeitsgefühl hinreißen.
»Aber wir Männer sind zu feinfühlend,« fuhr der Vetter fort. »Daher stammt das ganze Unglück. Ich muß oft daran denken, was einer meiner Freunde einmal sagte – ein Frauenkenner. Er sagte geradeheraus zu mir, Wilhelmine hätte einen großen Pferdehändler von zwölf Lispfund heiraten und hin und wieder eine tüchtige Tracht Prügel mit der Reitpeitsche bekommen sollen. Und das gelte übrigens von den meisten Frauen – sagte er.«
»Wer war der weise Mann?«
»Der Name tut nichts zur Sache, nicht wahr? Aber es liegt ein gut Teil Wahrheit darin. Wenigstens ist das meine Erfahrung.«
Meine auch! – dachte Jytte. Warum es nicht ebensogut eingestehen? Zwölf Lispfund Fleisch im Arm und hinterher körperliche Mißhandlung in irgendeiner Form, die neun Monate lange Qual der Schwangerschaft, das Rädern der Entbindung oder in Ermanglung dessen die Reitpeitsche. Das ist die eigentliche Forderung, die die Frau an den Mann stellt! Das nie gestillte Verlangen nach Entwürdigung war das innerste Bedürfnis ihrer Natur, und es wurde ihr Schicksal.
»Weißt du übrigens, Jytte, daß ick heute an Enslev geschrieben und ihn gebeten habe, mir die Ehre zu erweisen, Storeholt als sein Heim zu betrachten, solange er sich hierin der Gegend aufhält. Ich muß natürlich auch ein Mittagessen für ihn geben. Vielleicht im Anschluß daran ein großes Abendfest mit Illumination im Garten. Man kann ja nicht genug Wesens von dem Mann machen, und ich glaube, er wird Wert darauf legen. Das Mittagessen hab ich mir übrigens ganz bürgerlich gedacht. Das ist auch notwendig mit Rücksicht auf die Teilnehmer. Das werden ja die Vorstände der demokratischen Vereine sein, die Vorsitzenden der Gemeinderäte und solche Art Leute. Ich habe mir gedacht: Kalte Fleischbrühe, Steinbutt, Kalbsrücken, junge Hühner und – der Bauern halber – Karamelpudding. Was sagst du zu der Zusammenstellung? Oder meinst du, daß ich lieber die Suppe streichen und den Fisch kalt in Mayonnaise geben soll?«
»Ich verstehe mich so wenig auf dergleichen, John,« sagte Jytte und erhob sich. »Wenn du mir nicht noch mehr ernste Dinge anzuvertrauen hast, möchte ich jetzt am liebsten hineingehen.«