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XI

Während des Besuchs der Doktorfamilie hatte Frau Berta einen Rundgang zu all den alten Stätten auf dem Wirtschaftshof und im Park gemacht, wo sie als Kind gespielt hatte. Sie war auf Storeholt geboren, und es tat ihr weh, zu sehen, wie schlecht der Hof gehalten war. Überall herrschte Verfall. Das Dach auf einer der Scheunen war in Ausbesserung gewesen, aber aus irgendeinem Grunde hatte man mit der Arbeit innegehalten. Über der einen Hälfte des großen Flügels ragten die nackten Sparren heraus.

Die Leute gingen auch in einem so merkwürdigen Schlendrian umher. Ein paar von ihnen sahen sie höhnisch an, ohne zu grüßen.

Die Kühe wurden in den Stall getrieben, und sie wunderte sich, daß es nicht mehr waren. Als sie den zweiten Inspektor nach dem Grunde fragte, erklärte er ein wenig verlegen, der Herr Jägermeister sei im Begriff, »mit dem Bestande aufzuräumen«.

Frau Berta mußte wieder an ihre ausgebliebenen Zinsen denken und beschloß, bei erster Gelegenheit mit ihrem Neffen über die Sache zu sprechen.

Auf dem Rückweg durch den Park begegnete sie Fräulein Söholm, die in vollem Putz mit einer seidenen Mantille und einem mächtigen »Esprit« am Hut ihren Abendspaziergang machte. Sie gingen eine Strecke miteinander, und nachdem das Fräulein eine Weile über ihre Gesundheit geredet harte, begann sie von ihrem Bruder zu sprechen, dem andern der beiden Gesprächsstoffe, über die sie überhaupt zu reden imstande war; sie erzählte von ihm, dem reichen Kaffeehändler, der in ihren Augen das letzte Wunder des lieben Gottes war. Großhändler Söholms Geschäft war im ganzen Lande bekannt. Seine Name glotzte den Leuten überall von Straßenanschlägen und Hausgiebeln entgegen, und am Abend rollte er in Flammenschrift über die Dächer der Häuser hin, zugleich mit der Versicherung, daß Söholms Kaffee der billigste und beste der Welt sei. Er war ursprünglich gewöhnlicher Lagerknecht gewesen, was er keineswegs verleugnete. Der selbstbewußte Mann erzählte bei jeder Gelegenheit, daß er sich »aus dem Dreck« emporgearbeitet habe. Jetzt war er einer der Millionäre Kopenhagens, und seine Töchter gehörten zu den flottesten Erscheinungen der Stadt. Da ihre Mutter eine einfache Grünhändlerin gewesen, waren sie von ihrem zwölften Jahre an in ausländischen Pensionaten erzogen. Der Großhändler war ein großer, breitbrüstiger Mann mit Gliedern wie ein Ringer. »Eichenholz durch und durch« – versicherte er selbst.

Frau Berta war zweimal mit ihm hier auf Storeholt zusammen gewesen, und die Besuche würde sie nie vergessen. Herr Söholm, dessen Gedanken augenblicklich jedes Ding in Geld umsetzten, hatte sie in Empörung versetzt, indem er umherging und sowohl das Vieh als auch die Feldgerätschaften, ja die Gemälde an den Wänden und den Wert des Parks als Brennholz taxierte. Er sprach überhaupt von Storeholt wie von einer gewöhnlichen Handelsware. Sie konnte es deswegen nicht bedauern, daß es jetzt zu einem Bruch zwischen John und seinem Schwiegervater gekommen war, so daß sie es nicht mehr ertragen konnten, einander zu sehen.

Als sie nun mit Fräulein Söholm sprach, konnte sie merken, daß der reiche Mann allmählich besorgt wurde wegen der dreißigtausend Mark, die er bei der Heirat seiner Tochter in das Gut gezahlt hatte. Sie empfing sogar den bestimmtesten Eindruck, daß die Schwester sich im Augenblick hier als sein Spion aufhielt. Dies machte sie noch unruhiger, und sie beschloß, sofort mit John zu reden und seine Erklärung zu fordern.

Unmittelbar nachdem die Doktorsfamilie abgefahren war, kam sie die Verandatreppe herauf. Da sie den Neffen in keinem der andern Räume fand, suchte sie ihn in seinem eigenen Zimmer auf. Hier saß er schlaff zusammengesunken in einem Lehnstuhl. Das schwarze Samtbarett hatte er auf einen Tisch geworfen.

»Störe ich?«

»Hm, ja – ich saß hier freilich und überlegte. Aber komm nur herein, Tante! Du bist immer willkommen!«

Er erhob sich und bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

»Höre einmal, John! Wollen wir nicht gleich ein wenig über unsere Geldangelegenheiten reden? Dann ist das überstanden.«

Der Jägermeister lächelte ganz unbefangen, obwohl sein Antlitz sich ein wenig entfärbte.

»Bist du besorgt um dein Geld, Tante Berta?«

»Nein, aber ich lege Wert darauf, Ordnung in meinen Angelegenheiten zu haben. Weshalb habe ich meine Zinsen nicht erhalten?«

»Mein Gott, wir sind ja noch mitten im Termin!«

»Ja, aber ich habe auch nichts von meinen Dezemberzinsen gesehen, und die pflegst du mir doch im Laufe des Frühjahrs zu schicken.«

»Ich werde in meinen Büchern nachsehen. Da ist also eine unverzeihliche Versäumnis begangen, die ich sehr bedaure.«

Frau Berta wollte sich aber mit der Erklärung nicht zufriedengeben. Sie bat ihn, ihr ganz offen zu sagen, ob er das Geld in diesem Augenblick schlecht entbehren könne.

»Du weißt, daß ich nicht ins Armenhaus komme, weil ich das Geld ein Jahr entbehren muß. Aber ich verlange ordentliche Auskunft.«

»Wenn du mich geradezu fragst, so will ich nicht leugnen, daß ich zurzeit stark in Anspruch genommen bin. Aber das Ganze wird sich von selbst regeln. Ich will dir gern gelegentlich meinen Terminabschluß zeigen, dann wirst du sehen, daß es sich für mich nur um eine Frist handelt. Ich bitte dich nur, mir zu ersparen, gerade in diesen Tagen näher auf diese Sachen einzugehen. Ich versichere dich, da ist ohnehin schon genug, was mich bedrückt und mich quält... auch Sorgen, von denen ich zu niemand sprechen kann.«

Er hatte sich erhoben und ging unruhig im Zimmer hin und her. Dann setzte er sich vertraulich zu ihr aufs Sofa.

»Tante Berta, wir sprachen vorhin von Müller Jensens Krankheit und der Möglichkeit eines Vertretungswechsels hier im Kreise. Du schienst ein wenig erstaunt, daß ich in diesem Falle eine Aufforderung erwartete, mich aufstellen zu lassen. Offen gestanden, – ich meine, du müßtest mich verstehen, daß es mir peinlich ist, bei jeder Gelegenheit Leute wie Balduin Hansen und Karl Holm mir vorgezogen zu sehen – und nun vielleicht gar Pastor Gaardbo, einen ganz fremden Mann. Ich sage das ganz geradeheraus; ich wünsche Anerkennung, und ich bedarf eines größeren Wirkungskreises für meine Fähigkeiten. Fast ein Jahrhundert lang war unsere Familie die führende hier in der Gegend. Großvater hatte einen Sitz in der Ständeversammlung. Vater war der erste fünensche Gutsbesitzer, der sich offen zu modernen liberalen Anschauungen bekannte. Meine eigenen Verdienste als theoretischer und praktischer Landmann gestattest du mir wohl mit Stillschweigen zu übergehen. Aber wenn jemand in den Amtsrat gewählt werden soll, so existiere ich nicht. Ich werde nicht einmal in Vorschlag gebracht. Vaters Sitz im Vorstand der Landwirtschaftlichen Gesellschaft haben sie Pächter Holm gegeben, und mich speist man statt dessen mit der elenden Stellung eines Vorsitzenden der Jungtierschau ab, womit – weiß Gott – nicht viel Staat zu machen ist. – Nun, ich bin daran gewöhnt, Widerwärtigkeiten zu ertragen, aber ich kann in Wahrheit sagen, daß ich meine politische Überzeugung teuer erkauft habe. Seit ich zum erstenmal für Müller Jensen stimmte, haben sich sozusagen alle meine Standesgenossen von mir abgewandt. Baron Brahe grüßt mich nicht mehr, wenn wir uns begegnen. Und von meiner eigenen Partei werde ich systematisch von allen Vertrauensposten ausgeschlossen. Es ist eine vollständige Verschwörung – anders kann ich es nicht ansehen.«

Er hatte sich wieder erhoben und stand in starker Erregung vor der Tante.

»Außerdem, Tante Berta ... da ist noch ein anderer, ein mehr persönlicher Grund, der es mir wünschenswert macht, in ganz neuen Verhältnissen zu leben ... Aber darüber kann ich, wie gesagt, nicht reden.«

Er trat an das Fenster und blieb dort stehen, den Rücken nach dem Zimmer zu. Aber einen Augenblick später kehrte er zurück und setzte sich wieder auf das Sofa zu Frau Berta, indem er in seiner Verzagtheit ihre Hand ergriff.

»Ja, Tante, du allein sollst wissen, wie es hier im Hause steht. So peinlich es mir auch ist, darüber zu reden, – ich bedarf des Vertrauens eines Menschen. Ich habe einen großen Kummer gehabt. Daher bin ich in diesen Tagen so, wie ich bin. Ich kann mich zu nichts sammeln. Da sind Stunden gewesen, wo ich nahe daran war, meinen Verstand zu verlieren.«

»Aber mein Gott, was ist denn nur?«

»Hast du es nicht bemerkt, Tante, daß zwischen mir und Wilhelmine nicht alles so ist, wie es sein sollte?«

»Nun ja, es wird euch schwer, miteinander auszukommen.«

»Es ist nicht das allein. Ich kann mich natürlich nicht auf Einzelheiten einlassen. Ich kann nur sagen, daß Wilhelmine mir gegenüber eine Gleichgültigkeit herauskehrt, in die sich kein Mann finden kann. Ändert sie sich nicht, so müssen wir uns trennen.«

»Ist es wirklich so ernsthaft?«

»Es ist sehr ernsthaft. Ich glaube freilich nicht, daß Wilhelmine etwas wirklich Unerlaubtes begangen hat, aber da ist also ein andrer Mann, für den sie sich interessiert, und es ist meine bestimmte Absicht, eine Scheidung einzuleiten, falls sich das Verhältnis nicht ändert.«

»Sage mir doch, John, weiß dein Schwiegervater hiervon?« »Mein Schwiegervater? Das ist mir ganz gleichgültig. Kannst du dir vorstellen, – dieser Lagerknecht ist in der Seele seiner Tochter beleidigt, weil ich sie auf Grund meines politischen Standpunktes nicht bei dem Lehnsadel der Gegend habe einführen können. Dasselbe hat mir Wilhelmine beständig vorgehalten, nämlich, daß ich ihr keinen passenden Verkehr geschafft habe, und ich muß ja zugeben, daß sie in diesem Punkt einigermaßen Grund hat, sich zu beklagen. Aber – nicht wahr, Tante? falls ich nun gewählt werden würde und wir uns in Kopenhagen niederlassen könnten, so würde sich mit einem Schlage alles ändern. Wir könnten dort unsern Verkehr wählen, wie es uns gefiele, und wieder anfangen, ein Haus zu machen. Und ich möchte die Frau sehen, die Wilhelminens Fähigkeit, zu repräsentieren, besitzt. Du mußt mir zugeben, Tante Berta, daß Wilhelmine, wenn sie fröhlich ist und sich zufrieden fühlt, eine bezaubernde Wirtin ist, die unwillkürlich alle für sich gewinnt. In Kopenhagen würde sie alle ihre Mucken vergessen und es könnten noch zwei glückliche Menschen aus uns werden Und nun verstehst du, Tante Berta, was es für mich bedeutet würde, falls – –«

In diesem Augenblick wurde an die Tür gepocht. Eines dei Mädchen kam mit einem Telegramm herein.

Der Jägermeister sprang auf und bat die Tante zu entschuldigen daß er die Unterhaltung abbrechen müsse. Es seien Geschäfte Er riß dem Mädchen das Telegramm aus der Hand, erbrach es jedoch nicht, ehe Frau Berta zur Tür hinaus war. Selbst dann zögerte er noch ein wenig, bis er den Mut fand, es zu öffnen.

Schließlich riß er das Papier schnell auf.

Einige Minuten später erschien er auf der Veranda, wo alle vier Damen nun wieder versammelt waren. Das Telegramm in der Hand, verkündete er, daß sein Bruder Asmus im Lauf der Nacht eintreffen werde.

»Er muß in Odense abgeholt werden. Er kommt mit dem Mitternacht-Expreß und reist schon morgen nachmittag wieder ab,« meldete er, worauf er sich ohne weitere Erklärung an die überraschten Damen in sein Zimmer zurückzog.

Dort angelangt, ging er ein paarmal auf und nieder, zündete sich eine Zigarre an – seine Hand zitterte noch nach der überstandenen Gemütsbewegung – und ließ sich in einen Lehnstuhl sinken. Er war jetzt nur ein wenig ärgerlich auf sich selbst, ein wenig beschämt über seine gänzlich unnötige Nervosität, die vielleicht obendrein – das fehlte auch noch! – sein Auftreten in diesen Tagen ein wenig lächerlich gemacht hatte. Großer Gott, er wußte es ja doch ... er hatte sich ja die ganze Zeit selbst gesagt, daß sich die Sache schon ordnen würde.

Aber die Bank war ja freilich ungewöhnlich unverschämt gewesen. Was er in seinen niedergeschlagensten Augenblicken nicht für möglich gehalten hatte, war wirklich geschehen. Storeholt, das Hagensche Familiengut, war mit Pfändung bedroht worden!

Falls Asmus ihm seine Hilfe verweigert hätte, würde er in diesem Augenblick dort auf dem Sofa gelegen haben, ein Lot Blei im Gehirn. Er war fest entschlossen gewesen, die doppelte Schande, ruiniert zu sein und als Hahnrei an den Pranger gestellt zu werden, nicht zu überleben. Wenn er nicht auf andre Weise seinen Namen in die Annalen der Familie hatte einritzen können, so sollte es jedenfalls mit Blut und Entsetzen geschehen.

Er sah nach der Uhr und griff nach dem Telephon, das neben ihm auf dem Fensterbrett stand.

»Odense. – Spreche ich mit Bankdirektor Freistadt? Ist der Herr Direktor nicht anwesend? Hier Jägermeister Hagen. – Guten Tag, Freistadt,« sagte er, und sein Ton war sehr feierlich. »Sagen Sie mir gefälligst, was war das für ein unverschämtes Schreiben, das Sie sich erlaubt haben, mir vor ein paar Tagen ins Haus zu schicken? ... Wie beliebt? ... Nicht Sie persönlich; nein, das fehlte auch noch! ... Ja, das mag gern sein; aber nun will ich Ihnen etwas sagen, Freistadt. Ich arbeite in dieser Zeit täglich meine sechs, sieben Stunden im Laboratorium, da ist es wohl zu entschuldigen, wenn man eine Einzahlung vergißt. Aber nun wird Ihnen das Geld zugeschickt werden... Morgen, ja! ... Was sagen Sie? ... Aufsichtsratssitzung am Donnerstag? Nun will ich Ihnen etwas sagen, Freistadt, ich verbitte mir weitere ungehörige Schreiben in Anlaß dieses Versäumnisses. Das können Sie meinetwegen gern an den Etatsrat weitergehen lassen. – Ist da sonst etwas Neues von Interesse? ... Was sagen Sie? Neun Matadore! Wer? In Herz... Und das im Monat Juni! Hören Sie, das muß doch in die Zeitung! Sollten Sie mit Redakteur Danielsen sprechen, so können Sie ihm gern gleich erzählen, daß ich in allernächster Zukunft die ersten Ergebnisse meiner Untersuchungen bezüglich des Kartoffelschimmelpilzes mitteilen zu können hoffe. Vorläufig will ich nur so viel verraten, daß ich ... Was sagen Sie? ... Ach, entschuldigen Sic! Sie haben Gäste! ... Ja, dann auf Wiedersehen, Freistadt!«


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