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Viertes Buch.
Zöllner und Sünder

I

Der Jütland-Expreßzug jagte Kopenhagen zu mit einer halben Stunde Verspätung infolge von Nebel über den Belten. Der graue Oktobertag war in eine farblose Dämmerung hinübergeglitten, und nun war es dunkler Abend mit einem sternenlosen Himmel. Während der Zug den rötlichen Nebelfleck am Horizont, der Kopenhagen war, entgegendonnerte, fegte der Lichtschimmer aus den Abteilen über nasse Pflugäcker und tropfende Hecken hin, traf gleich einem Scheinwerfer die weißen Gebäude eines Bauernhofes, der einen Augenblick taghell in der Dunkelheit leuchtete, warf sich im nächsten Nu über ein Bahnwärterhaus und offenbarte ein Fuhrwerk, das vor dem herabgelassenen Schlagbaum hielt, flog weiter über andere aufgeweichte Felder und wassergefüllte Gräben, über treibende Hecken und ein erleuchtetes Bahngebäude, an dem der Zug mit einem langen Pfiff vorübersauste.

»Das war Glostrup!« tönte es durch die überfüllten Abteile, wo man jetzt begann, die Schläfrigkeit abzuschütteln und das Handgepäck zusammenzusuchen.

Ein starkknochiger Mann in einem Wagen dritter Klasse hatte schon lange mit dem Regenschirm in der Hand dagesessen, seine Reisetasche auf dem Schoß, eine altmodische Familienreisetasche mit gestickten Figuren an den Seiten, wie man sie jetzt nur noch selten sieht. Es war ein Mann, der auch aus anderen Gründen die Neugier seiner Mitreisenden gereizt hatte. Er war ländlich gekleidet und hatte ein großes, wettergebräuntes Gesicht, in dessen schwarzem Bartgrund die Lippen wie ein paar Wundränder glühten. Seine Weste war bis an den Hals hinauf geschlossen, und dieser war – statt eines Kragens – mit einem rotbunten Tuch umwickelt. Auf dem Kopf trug er eine breitköpfige Mütze mit einem Lederschirm. Wenn die Kleidung nicht so nach kleinen Leuten ausgesehen hätte, würde man ihn für einen Schullehrer vom Lande gehalten haben. Ein Bauer war er auch kaum trotz seiner dunklen Haut. Etwa ein Roßkamm? Ach ja! Aber da war dieser Regenschirm! Außerdem trug der Mann eine Brille. Und seine völlige Unzugänglichkeit ließ es auch nicht annehmbar erscheinen, daß er auf den Marktplätzen heimisch war. War er vielleicht doch ein Schullehrer? Oder ein Laienprediger? Ein Kolporteur? ...

Jetzt glitt der Zug zwischen den Bahnsteigen in den Hauptbahnhof hinein, und alle hatten Eile, hinauszukommen. Nur der dicke Mann blieb sitzen, bis die andern das Abteil verlassen hatten. Er hatte nichts, was ihn zur Eile antrieb. Da stand niemand und erwartete ihn. Er war ein Fremder.

Erst als der Wagen fast leer war, stand er auf.

Aufmerksam folgte er dem Strom die Treppe hinauf. Drinnen in dem Lichtmeer der Vorhalle blieb er einen Augenblick stehen, voller Staunen über den prachtvollen Raum, bis er von einem Gepäckträger, der sich – mit Koffern beladen – seinen Weg bahnte, einen Puff in den Rücken erhielt.

Schließlich stand er allein draußen, während die letzten Droschken davonrollten. Ein alter Dienstmann, der sich ihm, die Hand an der Mütze, näherte, wurde abgewiesen, und er steuerte nun in der Spur der Droschken der »Passage« zu.

An der Ecke blieb er wieder stehen und sah sich um, er wollte sich orientieren: Es waren zwölf Jahre her, seit er in der Hauptstadt gewesen, und der Bahnhof lag damals an einer andern Stelle. Der ohrenbetäubende Verkehr von Menschen und Wagen machte ihn mutlos. War dies wirklich Kopenhagen? Er hatte ja freilich gehört, daß sich die Stadt in den letzten Jahren sehr verändert habe und eine Weltstadt geworden sei. Aber dies geschäftige Gewimmel auf den Bürgersteigen, diese lange Reihe von Straßenbahnen, die wie ganze Eisenbahnzüge dahinsausten mit schwefelblauen Funken unter den Rädern, dieser Schwärm von Kraftwagen, die surrend zwischeneinander hin und herfuhren wie rotäugige Riesenkäfer, dieser Lärm von Hupen, das Geklingel von Glocken, wie auf einem Marktplatz – war das wirklich Kopenhagen? Alle Häuser waren illuminiert. Über dem Dach eines Gebäudes auf der andern Seite der Straße stand mit flammenden Buchstaben: »Whisky ist das beste Getränk.« Und siehe da! Noch höher hinauf wurde von einer unsichtbaren Hand mit Feuerschrift an den Himmel geschrieben: »Söholms Kaffee ist der billigste.«

»Dies ist ja die Hölle!« murmelte er.

Im selben Augenblick wurde er von einem jungen Menschen angeredet, der sich ihm von hinten genähert hatte, eine schäbige Erscheinung mit einem knorpelweißen Auge unter einer gespaltenen Braue. Der Bursche lüftete mit zwei Fingern den Hut nachlässig über seinem pomadisierten Kopf.

»Sucht der Herr nicht ein gutes Logis?«

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!« antwortete er und ging weiter, der Stadt zu.

Aber der andere folgte ihm und war gleich wieder an seiner Seite.

»Entschuldigen Sie! Ich kann Ihnen ein sehr feines Logis empfehlen ... bei einer Dame ... sehr sauber. Gleich hier in der Nähe.«

»Wenn Sie nicht machen, daß Sie wegkommen, schlag ich Ihnen die Knochen im Leibe entzwei!« rief er ganz außer sich und erhob den Regenschirm zum Schlage.

Die Leute blieben stehen. Schon wollte sich ein Auflauf bilden, als der Bursche auf einmal wie in die Erde verschwunden war.

»Ja, dies ist wirklich die Hölle!« wiederholte er für sich, indem er, am ganzen Leibe zitternd, seinen Weg fortsetzte. Und hier sollte er in den langen, langen Monaten der winterlichen Dunkelheit leben, von seinen Lieben getrennt! ... Ja, ja, so war es Gottes Wille.

Er erreichte den Rathausplatz und ging nach dem Vartou-Stift hinab, dessen rote Mauern er aus der Entfernung mit einem leisen Gefühl trauter und heimlicher Freude wiedererkannte. Er bog in das entlegene Stadtviertel aus alten Häusern ein, das ungestört hinter diesem ehrwürdigen Stift liegt, ein Stück aufbewahrter Vergangenheit. In diesen stillen, menschenleeren Gassen, wo nur ein paar armselige Laternen leuchteten, und wo alle Handwerksleute stumm in den Haustüren standen und ihre Pfeifen nach Feierabend rauchten, beruhigte sich sein Gemüt wieder. Hier begegnete er einem Überrest des provinziellen Kopenhagens, mit dem er vertraut war.

Er fand auch bald das Hotel, das er suchte. Es hieß »Herberge zur Heimat« und nannte sich ein christliches Gastheim. Auf der Diele, von der eine Tür mit einem Guckloch in das Kontor führte, erschien ein jüngerer Herr in schwarzem Rock, der ihn mit einem evangelischen Gruß willkommen hieß.

»Kann ich ein Zimmer bei Ihnen bekommen?«

Der Evangelist klingelte. Das Faktotum des Hotels – ein alter Hauskobold mir langem Bart und einer Brille – tauchte auf und bat ihn kurz, mitzukommen. Oben im dritten Stockwerk wurde er in ein Zimmer gewiesen, in dem es – ebenso wie auf der ganzen Treppe – wie in einem Käsekeller roch.

»Was kostet das Zimmer?« fragte er.

Die Antwort kam erst nach langem Zögern und gewissenhaftem Befingern des großen Bartes.

»Zwei Kronen,« sagte der Alte endlich, als überlasse er ihm das Zimmer mit großem Bedenken und nur aus Christenliebe zu dem Preis.

»Haben Sie kein billigeres?«

»Ein billigeres?«

Der Alte sah ihn über die Brillengläser scheel an und schien sich abermals mit seinem Innersten zu beraten.

»Wir haben ein paar Bodenzimmer zu einer Krone,« sagte er. »Aber die Heizungsröhren gehen nicht da hinauf. Und da ist auch kein Ofen.«

»Das ist einerlei. Zeigen Sie mir die.«

Er wurde nach einer Kammer mit getünchten Wänden und einem schrägen Dachfenster hinauf geführt. An der einen Seite stand eine riesige hölzerne Bettstelle. Mitten im Zimmer standen ein Tisch und zwei hölzerne Stühle und an der andern Wand ein verrostetes eisernes Gestell mit Wascheinrichtung.

»Ich nehme dies hier!« sagte er sofort, obwohl es so kalt da oben war, daß er seinen Atem sehen konnte. »Und dann haben Sie wohl die Güte, dafür zu sorgen, daß mir etwas Abendbrot hier heraufgebracht wird. Vier Stück unbelegtes Butterbrot und eine halbe Flasche Dünnbier. Sagen Sie aber, bitte, in der Küche, daß es dicke Schnitten sein sollen.«

Der Greis beäugte seine Kleidung.

»Sie können sonst auch unten in der Gaststube essen.«

»Nein, ich wünsche, daß mir das Essen hier heraufgebracht wird. Und ohne Extrabezahlung. Das steht in Ihren Ankündigungen.«

»Ja, ja! Nehmen Sie es nur nicht übel, mein Lieber. Das ist ja natürlich Ihre Sache! – Wie ist Ihr Name?«

»Pastor Vestrup, Hvirring Strandhäuser.«

Der Alte starrte ihn an.

»Sind Sie Pastor? ... Aber wollen Herr Pastor nicht doch lieber das Zimmer unten nehmen? Ich denke, daß Sie es für anderthalb Kronen bekommen können. Ich will hinuntergehen und den Verwalter fragen.«

»Nein, ich bleibe hier! Und der Preis ist also eine Krone ohne Extrabezahlungen irgendwelcher Art.«

»Ganz wie der Herr Pastor wünschen,« sagte der Alte, der lauter Demut geworden war.

»Und dann waren es vier Stücke Unbelegtes und eine halbe Flasche Dünnbier.«

»Ich will dem Mädchen sofort Bescheid sagen.«

»Vergessen Sie auch nicht – dicke Schnitten!«

Sobald Mads Vestrup allein geblieben war, wanderten seine Gedanken heimwärts zu Frau und Kindern, die er vor nicht mehr als acht, neun Stunden noch um sich gehabt. Sie hatten ihn alle an den Bahnhof begleitet, und vom Zuge aus hatte er den letzten Schimmer der Lieben gesehen, die sich bereits auf dem Heimwege befanden. Wann würde er sie wiedersehen?

»Denk jetzt nur nicht an uns!« hatte Frau Stine beim Abschied zu ihm gesagt. »Die vierzig Kronen reichen weit. Und nun hab ich ja auch meine Strickmaschine!«

Drei unsagbar glückliche Wochen hatte er daheim bei der Familie in dem kleinen Fischerhaus an der See verbracht, wo die Seinen das letzte halbe Jahr zur Miete gewohnt hatten, während er selbst auf der Wanderung gewesen war. Große Teile von Jütland und Fünen hatte er im Laufe des Sommers bei Wind und Wetter zu Fuß durchwandert. Als aber die Herbstkälte kam und die Versammlungen im Freien verhinderte, hatte er sich gezwungen gesehen, mit dem Predigen innezuhalten, weil seine ehemaligen Amtsbrüder ihm die Versammlungshäuser verschlossen hatten. Da war er denn heimgekehrt mit der Absicht, sich im Winter durch Strohmattenflechten und Besenbinden zu ernähren und im übrigen Stine behilflich zu sein, die für ein Geschäft in Vejle Strickarbeit übernommen hatte.

Aber jetzt vor acht Tagen hatte er einen sonderbaren Brief von der Redaktion des »Fünften Juni« erhalten, die ihn aufforderte, nach Kopenhagen zu kommen und ihm die Unterstützung des Blattes in seinem Kampf gegen die Kirche der Lüge verhieß. Nach Beratschlagung mit Stine hatte er das Anerbieten angenommen, in dem sie beide einen Wink von oben, ja einen Befehl erblickten. Es war ihm nicht vergönnt, zur Ruhe zu kommen, er sollte abermals seine Lenden schürzen, um nach dem Thronsitz des Antichrist selbst zu ziehen, von wo aus sich das Verderben über das Land gebreitet hatte. Daß die Aufforderung von einem Blatt wie der »Fünfte Juni« kam, dessen Geist sie sehr wohl kannten, beunruhigte sie nicht. Gott ging seine eigenen, verborgenen Wege, und Christus selber hatte die Gastfreundschaft von Zöllnern und Sündern angenommen.

In den letzten Tagen hatte Stine genug zu tun gehabt, um ihn zur Reise auszurüsten, so daß er sich in der Hauptstadt sehen lassen konnte, ohne sich schämen zu müssen. Sie hatte ihm eigenhändig eine neue Frieshose genäht, und in Vejle hatte sie bei einem Trödler einen kaum getragenen Rock zu sehr billigem Preis erstanden. Und nun heute morgen hatte sie ihm die Haare geschnitten und seinen Leib gewaschen, so wie seine selige Mutter es getan, als er zum erstenmal in die Welt hinaus sollte. Ja, wie unermüdlich war die liebe kleine Person nicht in ihrer Fürsorge für ihn gewesen! Wie war sie, die arme Schwache, nicht heldenmütig tapfer gewesen während ihres ganzen Unglücks! Nie kam die leiseste Klage über ihre Lippen. Nie dachte sie auch mehr an diese Tropfen und Bandagen, womit sie sich im Favsinger Pfarrhause so zwecklos gequält hatte, so wie er damals mit seinem Gewissen herumgehütet und sich mit der Heiligen Schrift angefüllt hatte, als sei sie eine wundertätige Medizin, ein geistiges Abführungsmittel, das die Sündhaftigkeit aus einem armen Menschen heraustreiben könne!

Es wurde an die Tür gepocht. Ein Mädchen kam herein, das Abendbrot auf einen Teebrett tragend.

Sie brachte außerdem den Bescheid, daß ein Mitarbeiter vom »Fünften Juni« im Hotel angeklingelt und nach ihm gefragt habe. Jetzt lasse der Verwalter fragen, ob der Herr Pastor mit dem Herrn sprechen wolle, wenn er kam.

Mads Vestrup wandte sich ab und sagte ja.

Er hatte gerade sein Butterbrot verzehrt, als abermals geklopft wurde; und ehe er noch »herein« gerufen hatte, stand schon ein Mensch in der Tür.

Es war ein kleiner, ältlicher Mann mit in die Höhe geschlagenem Rockkragen, den Hur tief in die Augen gezogen. Von seinem Gesicht sah man nur eine blaurote Nase und einen struppigen Schnurrbart.

»Mein Name ist Carlsen – A. B. D.,« sagte er und nahm erst jetzt den Hut ab. »Und das ist also Pastor Vestergaard, den ich zu begrüßen die Ehre habe.«

»Mein Name ist Vestrup.«

»Verzeihen Sie, mein Herr! Es ist leider eine meiner hundertundsiebzehn menschlichen Schwächen, daß ich die Namen verwechsle.«

Herr Carlsen, mit dem, gleichsam als unsichtbarer Begleiter, ein kräftiger Spiritusduft ins Zimmer gekommen war, nahm ohne Aufforderung Platz auf dem nächsten Stuhl und schlug seinen Überrock zurück.

»Sind Sie es, von dem ich vor einiger Zeit einen Brief erhielt?« fragte Mads Vestrup.

»Freilich! A. B. D. Carlsen. Auf Befehl des Chefredakteurs schrieb ich an Sie. Übrigens wissen Sie vielleicht, daß der Altvater persönlich den Wunsch geäußert hat, wir möchten Sie dem Kopenhagener Publikum vorstellen.«

»Von wem reden Sie da?«

»Haben Sie Enslev nicht diesen Sommer auf einer Versammlung getroffen? Jedenfalls ist es sein Wunsch, Sie zu lanzieren, mein Herr! Das weiß ich mit Sicherheit. Wir sind ja darauf aus, Hilfstruppen zu werben.«

Mads Vestrup, den das tölpelhafte Auftreten des Mannes im ersten Augenblick empört hatte, war jetzt ruhiger geworden. Voll Mitleid betrachtete er das geschwollene Gesicht, das an Nase und Wangen, zwischen dem Schnurrbart und den schweren Augen voll von roten Trinkerflecken war. Und er sagte zu sich selbst, daß auch dieser arme, verirrte Mensch einer von denen war, denen er Jesu Christi Botschaft von Friede und Erlösung bringen sollte.

»Sie schrieben mir, Sie wären der theologische Mitarbeiter des Blattes. Wie ist das zu verstehen?«

»Ich vertrete Dr. Svendsen. Er studiert augenblicklich in Deutschland. Mein Fach sind sonst die Tingeltangel und andere Belustigungen – A.B.D. Dann wissen Sie Bescheid, nicht wahr?«

»Aber ich irre doch nicht! Sie unterschrieben sich cand. theol.«

»Das bin ich auch, mein lieber Herr! Magister mit Auszeichnung – wenn ich bitten darf! Hätte das Unglück nicht gewollt, daß der Kinderglaube in die Brüche gegangen wäre bei dem emsigen Umgang mit dem Buch der Bücher, so säße A. B. D. jetzt weich und warm auf einer fetten Pfarre und verhätschelte seine hundertundsiebzehn kleinen menschlichen Schwächen mit Käppchen und Meerschaumpfeifen.«

»Dann haben Sie also nie daran gedacht, Pfarrer zu werden?«

»Nun müssen Sie mich nicht beleidigen! Wissen Sie, was meine verstorbene Frau sagte, damals, als wir uns auf das hin verheirateten, was man ungewisse Einnahmen nennt? Lieber Aufwartefrau in einer öffentlichen Retirade als Pfarrersfrau, sagte sie. – Man hatte ja seine Ideale, Verehrtester! Wir bildeten uns in jenen Zeiten ein, daß wir Menschen in der Lage sind, Ehrgefühl zu haben. Gott sei uns gnädig, mein Herr! Es ist ein kostspieliges Vergnügen, dergleichen Luxustiere im Stall zu haben. Das waren die letzten Worte meiner Frau, ehe sie starb. – Hm ja, – aber davon wollten wir ja eigentlich nicht sprechen,« unterbrach er sich selbst und begann in seinen Taschen nach dem Notizbuch zu suchen. »Wir wollten ja gern ein Interview haben.«

Mit Staunen hatte Mads Vestrup gesehen, daß aus den Augen des verhudelten Trunkenboldes zwei große Tränen rollten, und er mußte abermals an den Heiland denken, der sich zwischen Zechbrüdern und liederlichen Weibern bewegt, ja ihre Gesellschaft der pharisäischer Priester vorgezogen hatte. Wie er das verstand! Ja, Er hatte es gewußt, der von Gott Auserwählte, daß, solange ein Mensch nicht in Selbstgerechtigkeit verhärtet war, sondern verzweifeln konnte, noch Hoffnung auf seine Besserung vorhanden war.

Herr Carlsen fand endlich das Notizbuch unten in dem Futter seiner Joppe, aber nun machte er die Entdeckung, daß ihm auch der Füllfederhalter abhanden gekommen war, und er mußte von neuem eine umständliche Durchsuchung seiner Person vornehmen. Indessen erklärte Mads Vestrup, er wünsche die Unterredung bis auf den nächsten Tag hinausgeschoben. Er wolle dann inzwischen darüber nachdenken, was von seinem Privatleben die Öffentlichkeit interessieren könne, und vielleicht würde er es vorziehen, selbst einen Bericht über seine Stellung zur Kirche und zu dem christlichen Gemeindeleben auszuarbeiten.

»Ja – Tod und Teufel – das würde sich natürlich am allerbesten ausnehmen. Den setzen wir dann an demselben Tage, an dem Sie zum erstenmal reden, unter den Strich. Haben Sie sich übrigens schon für ein Lokal entschlossen? – Nun, da ist ja zum Beispiel der alte ›Brottrog‹. Der ist früher von der Heilsarmee zu Erbauungsversammlungen benutzt worden. Und dann ist da das ›Elysium‹. Da ist drei Abende in der Woche öffentlicher Ball, aber sonst ist es gewiß frei. Sie können gern sagen, daß der ›Fünfte Juni‹ hinter Ihnen steht – das ist eine hinreichende Empfehlung. Im ›Elysium‹ kenne ich den Wirt. Sie können ihm sagen, daß er mich zwischen fünf und sieben antelephonieren kann.«

Herr Carlsen erhob sich jetzt, setzte den Hut auf und begann zum drittenmal mit beiden Händen eine Jagd durch alle Taschen.

»Ach, hören Sie mal ... Sie haben wohl nicht zufällig eine bessere Zigarre bei sich? Ich sehe, ich habe meine Zigarrentasche vergessen.«

»Nein, ich habe aufgehört zu rauchen.«

»Das ist wirklich schade! – Na, dann also auf Wiedersehen morgen, Verehrtester.«


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