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XII

Um die weiße Kirche des Dorfes lag der stille Garten des Friedhofes, und rings um den herum lagen die acht großen Bauernhöfe des Dorfes, modern aufgeputzt mir Glasveranden und geschmacklosen Villenerkern. Außerdem ein Dutzend kleiner Häuser mit hübschen Blumenanlagen. Außerhalb des Dorfes lag – wie ein Abfallhaufen hingeworfen – eine Gruppe Hütten, die sich zu beiden Seiten der breiten Landstraße zusammenpreßten.

Hier wohnten die Tagelöhner des Gutes und die Arbeiter einer großen Ziegelei, im Sommer außerdem noch zugezogene Torfstecher mit ihren Familien und polnische Rübenarbeiter.

Auf dem Heimwege von seinem Besuch in Storeholt war Pastor Gaardbo in eins dieser Armeleutenester eingetreten: ein kleines Haus, das sich fast verkroch hinter einem Wald von hohen Brennnesseln. Das einzige Fenster, das nach dem Wege hinaus lag, wurde von einem Holunderbusch verdeckt, der hoch über das Dach hinauswuchs. Hier wohnte ein einsamer alter Mann, den die Bevölkerung »Hühner-Lars« nannte.

Der Name war ihm nicht als Anerkennung zuerteilt; es war ein Diebsstempel. Aber obwohl er sonst ein boshafter Kerl war, trug er ihn mit der Geduld, die lange Gewohnheit verleiht. Nur wenige entsannen sich noch, wie er eigentlich hieß. Der junge Pfarrer hatte manch liebes Mal ergebnislos versucht, ihn zu sprechen. Obwohl der Alte gichtbrüchig geworden war und sich nicht mehr außerhalb des Hauses bewegte, fand man seine Tür fast immer verschlossen, und niemand antwortete, wenn man pochte. Zuweilen hatte der Greis draußen auf der Fliese vor der Tür gesessen und Binsenmatten oder Weidenkörbe geflochten; aber es war nie möglich gewesen, ein Wort aus ihm herauszubringen. Weder auf sein »Guten Tag« noch auf sein »Leben Sie wohl« hatte der Pfarrer Antwort erhalten.

Nun aber hatte Pastor Gaardbo erfahren, daß Hühner-Lars erkrankt sei und in den letzten Züge liege. Er fand die Tür auch offen – er mußte den Kopf beugen, um hineinzukommen und stand in seiner Stube. Er kam mit der Glut der Abendsonne in den Augen, und infolge des überwachsenen Fensters war es da drinnen so dunkel, daß er anfänglich nichts sehen konnte.

Endlich entdeckte er den Einsiedler auf einem Strohlager, auf dem Rücken liegend. Die Arme ruhten schwer und unbeweglich auf einem Haufen Lumpen. Die Wangen über dem Bart waren rot von Fieber, die Augen starrten mit großen Pupillen.

Hühner-Lars hatte sein Leben lang zu den berüchtigten Nachtexistenzen der Gegend gehört. Er wie auch seine verstorbene Frau waren verschiedentlich bestraft worden. Einer Vorliebe für Federvieh hatte er seinen Spitznamen zu verdanken. Sein Hang zum Stehlen war weit über die Gegend hinaus, in der er bekannt war, sprichwörtlich geworden. Wenn die Leute etwas vermißten und sich bestohlen glaubten, hieß es: Da hat Hühner-Lars seine Finger wohl im Spiel gehabt.

Der junge Pfarrer stellte sich an das Bett und redete dem alten Sünder freundlich zu. Er sagte, er sei gekommen, um ihm seine Hilfe anzubieten, falls ihm etwas fehle oder er etwa das Bedürfnis habe, mit einem Menschen zu sprechen, dem er sich ohne Furcht anvertrauen könne.

Es erfolgte keine Antwort. Der Alte hatte sich ein wenig im Bett in die Höhe geschoben. Sein Unterkiefer ging auf und nieder wie in Krämpfen, und die Augen suchten herum in der Finsternis des Zimmers, wo aller mögliche alte Plunder aufgehäuft lag. Es war, als wenn er sich in seiner Hilflosigkeit nach etwas umsähe, was ihn verteidigen könne.

Der Pfarrer blieb ruhig stehen.

»Sie liegen hier nicht gut, Lars Oven. Falls Sie es mir erlauben wollen, werde ich dafür sorgen, daß Sie in Zukunft besser gepflegt werden. Ich will von heute an jeden Tag herkommen und Ihnen zur Hand gehen. Da wird schon immer das eine oder das andere sein, womit ich Ihnen behilflich sein kann. Falls Sie sich in der Nacht ängstigen oder nicht schlafen können, will ich auch gern hier sitzen und Ihnen ein wenig vorlesen. Da ist ein Buch, das die Bibel heißt, in dem sind viele schöne Geschichten. Das werde ich mitbringen.«

Wegen des Gestanks in der Stube hatte er die Tür nach draußen offen stehen lassen. Und nun hörte er hastige Holzschuhtritte. Eine große, rotköpfige Frauensperson mit aufgeschürztem Rock tauchte in der Türöffnung auf. Es war eine Nachbarin, die von der Gemeinde bezahlt wurde, um den Alten in seiner Krankheit zu betreuen. Sie hatte unten am Bache Wäsche gespült und den Pfarrer hier hineingehen sehen. Sie stand dort in der Tür und lächelte mit dem heuchlerischen Lächeln eines schlechten Gewissens, während sie die Finger in ihrer Schürze aus Sackleinewand abtrocknete.

Als Pastor Gaardbo ihr Vorwürfe wegen ihrer Nachlässigkeit machte, schlug sie einen zeternden Ton an, um sich zu rechtfertigen. Lars war wirklich so unmanierlich widerspenstig. Er wollte kein Wasser in seinem Gesicht haben und machte sein Bett schmutzig wie ein Wickelkind.

Der Pfarrer hieß sie schweigen und schalt sie aus wegen ihres Mangels an Menschenliebe.

»Morgen komme ich wieder,« sagte er. »Dann will ich eine reingemachte Stube sehen, so daß man merken kann, daß hier ein Mensch, nach Gottes Bild geschaffen, seine Wohnung hat. Sie müssen noch heute abend ins Pfarrhaus kommen und sich ein paar Bettücher und einige Hemden von Fräulein Martinsen geben lassen. Wenn ich dann morgen wiederkomme, wollen wir Lars gemeinsam in die Höhe heben, so daß die Bettücher gewechselt werden können und er frisches Stroh ins Bett bekommen kann.«

Er kehrte zu dem Kranken zurück und verabschiedete sich.

Hühner-Lars war noch immer gleich stumm. Mißtrauisch schweiften seine Augen zwischen dem Pfarrer und der Frau hin und her, um sich klar darüber zu werden, was die beiden für Ränke gegen ihn geschmiedet hatten.

Das Gerücht von dem Besuch des Pfarrers hatte seinen Rundgang durch alle Hütten gemacht. Die Leute standen in den Türen, wo sie jetzt Zeuge davon wurden, wie der geistliche Herr, als er von dem alten Hühnerdieb herauskam, den Rock abwarf, ein Schnitzmesser aus der Tasche holte und anhub, Zweige von dem großen Holunderbusch zu schneiden, der so wild über das Fenster hinaufwuchs. Die Abendsonne schien auf die Mauer, aber nicht ein Schimmer gelangte bis zu dem Kranken hinein. Er mußte alle Kraft anstrengen, um das zähe Flechtwerk zu durchbrechen, aber von seines Vaters Hause her war er daran gewöhnt, bei allen möglichen Arbeiten zuzugreifen.

Drinnen in seinem Bett lag der Alte ganz starr vor Staunen. Nur die fiebergroßen Pupillen bewegten sich. Während da draußen ein Zweig nach dem andern fiel und das Licht in der Stube zunahm, schweiften seine Augen unruhig zu der Frau hinüber, die, angefeuert durch das Beispiel des Pfarrers, sich sofort daran gemacht hatte, aufzuräumen. Als schließlich die Sonne selbst in die Stube hineinfiel, flüsterte er mit seiner heiseren Stimme:

»Das is 'n sonderbaren Mann – der!«

»Ja, das ist ein Mann Gottes!« versicherte die Frau laut und begann plötzlich in ihrem fünenschen Dialekt zu jodeln:

»Christ ist erstanden vom Tod
Im Weihnachtsmorgenrot.«

Die Sonne versank hinter dem Striger Walde, und die Kirchenglocke begann zu läuten, als Pastor Gaardbo das Haus des Hühner-Lars verließ und zu der Einsamkeit in seine leere Pfarre zurückkehrte. Die zerlumpten Kinder auf der Straße kamen aus eigenem Antrieb gelaufen und gaben ihm die Hand. Die Frauen in den Türen nickten freundlich, als er vorüberging. Überall wurde der schöne, junge Pfarrer von der Bevölkerung des Armenviertels mit Zutraulichkeit begrüßt.

Seit mehreren Generationen hatte man in dieser Gegend im allgemeinen kein anderes Verhältnis zur Kirche gehabt, als ihn das Gesetz und der gute Ton vorschrieben. Die alte Pfarre hatte im Laufe des letzten halben Jahrhunderts Verkünder der verschiedenen kirchlichen »Richtungen« behaust, die die christliche Liebe untereinander ungefähr wie Hund und Katze ausübten. Erst durch Pastor Gaardbos Samariterwerk war das Gemeindehaus wieder ein Mittelpunkt für das Leben in der Umgegend geworden. Sein politischer Standpunkt erregte allerdings allerlei Ärgernis bei den meisten der größeren Hartkornbesitzer, und man tuschelte auch darüber, daß seine Verkündigung nicht streng kanonisch sei, dafür aber war die Kirche der Freund der Armen geworden, und selbst die Gegner mußten die evangelische Reinheit seines Privatlebens anerkennen.

Die Uhr war fast neun, als er nach Hause kam. Fräulein Martinsen, seine Haushälterin, teilte ihm in gekränktem Ton mit, daß der Abendbrottisch seit über einer Stunde gedeckt sei. Er brachte eine sanftmütige Entschuldigung vor. Das Fräulein, ein robustes Bauernmädchen in mittleren Jahren, mit rotgesprenkelten Wangen, litt ihrer Ansicht nach an Blutmangel und bekam bei dem geringsten Anlaß nervöse Anfälle, weswegen sie vor Gemütsbewegungen bewahrt werden mußte.

Sie war auf Empfehlung von Pastor Gaardbos verstorbener Braut ins Haus gekommen und hielt es daher für ihr Recht, ihn an deren Stelle zu tyrannisieren.

»Fräulein Martinsen,« sagte er, als sie ihm den Tee brachte, »hier kommt heute abend eine Frau, die gern ein paar reine Bettücher und ein paar Nachthemden abholen soll. Es ist für den alten Lars Oven – den Hühner-Lars. Er liegt im Sterben.«

Das Fräulein erklärte kurz, das lasse sich nicht machen. Alles Leinen, das der Gemeindepflege gehöre, sei zum Waschen und Ausbessern weggeschickt. Das wisse der Herr Pfarrer ja sehr wohl.

»Dann müssen wir natürlich von unserm eigenen nehmen,« entgegnete er ein wenig ungeduldig.

»Es ist alles in der Wäsche!«

Er besann sich eine Weile und sagte dann: »Das ist schlimm genug. Wir müssen der Frau also ein paar von den neuen Bettüchern geben, die in der Kommode liegen – in den beiden unteren Schubladen – Sie wissen ja!«

Der Zorn stieg der Haushälterin in die dicken Wangen, die von dem rotesten Blut strotzten.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Herr Pfarrer?«

»Freilich.«

»Soll so einer wie Hühner-Lars in Fräulein Rosalies Brautlinnen liegen?«

»Kann das wohl im Grunde eine schönere Anwendung finden? Der arme Lars hat lange genug im Schmutz gelebt.«

Fräulein Martinsen, die an der Tür gestanden hatte, die Hand auf dem Schloß, näherte sich dem Tisch abermals mit der deutlichen Absicht, einen ihrer nervösen Anfälle zu bekommen. Im selben Augenblick aber hörte man einen Wagen mit einer Reihe von Stößen in die Hupe auf den Hof fahren. Es war Doktor Gaardbos Signal, und der Ton machte sie verstummen. Sie drückte sich schnell durch die Tür hinaus. Der Mensch war in ihren Augen der leibhaftige hinkende Teufel.

»Ich saß vorhin da und dachte an dich,« sagte der Pfarrer, als der Bruder hereinhumpelte. »Wärest du nicht gekommen, hättest du morgen meinen Besuch gehabt.«

»Ist irgend etwas los?«

»Ja ... aber erst berichte du! Wer ist hier krank geworden?«

»Niemand. Es ist eine Entbindung.«

»Wohl Hans Andersens Frau?«

»Ja, du weißt, da ist diese Narkose, um die sie jetzt alle betteln. Selbst die kräftigste Bäuerin will ihre Kinder nicht mehr auf natürliche Weise gebären. Und dann sollten sie meiner Ansicht nach lieber gar keine Kinder bekommen. Aber nun habe ich doch versprochen, in der Nähe zu bleiben, bis die Sache überstanden ist.«

Der Doktor beugte sich über den gedeckten Tisch und musterte die Gerichte.

»Na, das muß ich sagen! Du mästest dich wahrhaftig! Drei schieläugige Heringe – und Käse! Die Martinsen verhätschelt dich gründlich. Wie lange beabsichtigst du, in diesem Wohlleben zu beharren? ... Allen Ernstes, Bruder, dies geht auf die Dauer nicht. Die Person läßt dich ja verhungern! Du mußt dich aufraffen und sie stramm nehmen! Sonst muß ich es in deinem Interesse tun. Du siehst nachgerade ganz apostolisch aus!«

»Unsinn!«

»Man sagt nicht ›Unsinn‹ zu seinem Arzt, Väterchen! Ich verordne dir hiermit zwei weichgekochte Eier zu deinem Abendessen. Und einen Krug guten selbstgebrauten Biers statt dieses Teegeplämpers!«

»Blödsinn!« – Der Pfarrer trank seine Tasse leer und stand auf. »Gehen wir hinein!«

Aber der Doktor vertrat ihm den Weg und pflanzte ihm die Hände auf die Schultern. Der Pfarrer tat dasselbe, und so blieben sie eine Weile einander gegenüber stehen mit ineinander geflochtenen Armen, wie ein paar Jungen, die ringen wollen.

»Sagtest du Blödsinn?«

»Ja.«

»Willst du Prügel haben?«

»Was bildest du dir ein?«

»Du Bengel!«

»Selbst Bengel!«

»Komm du nur ran!«

Sie schüttelten einander so handfest, wie sie es vor Lachen nur konnten. Der Doktor, der trotz seines Klumpfußes stark war wie ein junger Ochse, drängte den Bruder an die Wand. Aber plötzlich ließen sie einander los mit einem erschreckten: »St!« – Sie hörten das Dröhnen von Fräulein Martinsens Schritten draußen auf dem Küchengang.

»Hinein zu mir!« sagte der Pfarrer.

Die große, dreifenstrige Gartenstube, die als Studierzimmer eingerichtet war, machte wie alle Räume des Pfarrhauses einen halbleeren und ärmlichen Eindruck. Eine kleine Petroleumlampe war auf ein hochbeiniges Pult aus Tannenholz gestellt und leuchtete bleich auf das grüne Tuch der schrägen Klappe herab. Der übrige Teil des Zimmers lag im Halbdunkel. An der Wand über dem Pult hing ein großes Christusbild, mit frischem Buchenlaub umrahmt. Es war das alte Betpult des Vaters, das der Sohn in Ehren hielt. Unter diesem dornengekrönten Christuskopf hatte Schullehrer Jörgen zweimal täglich mit seinen Kindern Andacht gehalten. Hier stand er in seinen letzten Jahren so manche angstvolle Nacht, den bärtigen Kopf in die Hände begraben, und konnte keinen Frieden finden.

Die Tür zum Garten hinaus stand offen. Der Abend war warm und still. Eine Nachtigall saß irgendwo da draußen und gab sich ihrer Musik leidenschaftlich hin.

Die beiden Brüder standen einen Augenblick stumm in der Tür und lauschten ihren Trillern. Dann setzte sich der Doktor rittlings auf einen Stuhl und klemmte die Hände um die Rücklehne.

»Erzähle mir nun, Johannes – was sagst du zu Oheim Tyge?«

»Du weißt es also schon?«

»Ich kam gleich, nachdem du gegangen warst, nach Storeholt. Ich habe dort augenblicklich eine Patientin. Der Jägermeister erzählte mir die Neuigkeit. Hinterher ward sie mir durch den Meiereiverwalter bestätigt. Soweit ich verstand, hatte er sie von Seiner Allmächtigkeit Balduin Hansen selbst.«

»Ja – die telegraphische Anfrage kam an ihn als den Vorsitzenden des Vorstandes. Aber sag mir doch, Paul – wie denkst du als Arzt über den Zustand des Oheims? Vor einigen Monaten hieß es mit der größten Bestimmtheit, er sei todkrank. Und nun reist er von einer Versammlung zur andern und hält Kampfreden und schafft Aufregung im Lande, wie vor dreißig Jahren.«

»Die letzten krampfhaften Zuckungen des Fabeltiers. Ich habe freilich gehört, daß ihn der ›Fünfte Juni‹ zu Holger Danske dem Zweiten ernannt haben soll. Aber es ist so leicht, sich in seiner eigenen Zeitung zujubeln zu lassen. All das Geschwätz über seine ewige Jugend ist nichts als Politik. Er ist ein gezeichneter Mann. Ich weiß das ganz bestimmt. Er hat jetzt seine Gespensterstunde, und die kann ja nicht sehr erbaulich sein.«

»Aber was in aller Welt beabsichtigt er damit?« fragte der Pfarrer; er stand am Pult und stützte den Kopf in die Hand.

»Die Macht selbst kann ihn ja doch unmöglich mehr locken. Und seine Eitelkeit muß doch endlich auch hinreichend gesättigt sein.«

»Willst du meine psychologische Erklärung für Oheim Tyges letzte Kraftentfaltung haben, so ist es die, daß er weiß, er trägt den Tod im Leibe. Und als der Ästhetiker, der er in seinem innersten Innern ist, arrangiert er jetzt sein eigenes selbstverherrlichendes Leichenbegängnis. Wie eine der Häuptlingsgestalten der Vergangenheit will er in voller Rüstung begraben werden, umgeben von seinen Getreuen und gestützt auf sein berühmtes Schwert Dyrendal. Mit dem Tableau in bengalischer Beleuchtung soll Tyge Enslevs Heldensage abschließen. – Du weißt, ich habe es immer als Unglück betrachtet, daß der Oheim nicht seinem ersten Entschluß treu blieb und sich an die Dichterei hielt. In dem Fach hätten seine abenteuerlichen Vorstellungen vom Leben und seinen Bedingungen sich entfalten können, ohne weiteren Schaden anzurichten. Zum Unglück für uns alle verfiel er darauf, sein künstlerisches Fingerjucken an lebendem Fleisch und Blut zu befriedigen. Es ist ganz sicher sein stolzer Traum gewesen, die ganze Nation nach seinem Bilde umzuformen ... und teilweise ist ihm das ja auch schließlich wirklich gelungen. Wir sind auf dem besten Wege, eine lächerliche Karikatur unserer Rasse zu werden. Gelingt es uns nicht, die junge Generation nüchtern zu machen, ehe zehn Jahre verstrichen sind, so sind wir fertig. Das ist meine feste Überzeugung.«

Der Pfarrer erwiderte nichts hierauf. Er stand in seine eigenen Gedanken versunken und hörte nicht viel von dem, was der Bruder sagte. Die beiden hatten sich einander gegenüber so oft über den großen Oheim ausgesprochen, daß der eine schließlich in den Worten des andern nur seine eigenen Gedanken hörte; und keiner von ihnen wußte, daß des Vaters Geist aus ihnen beiden sprach.

Nach einer Pause sagte der Pfarrer:

»Ich habe mich natürlich nach dem Grunde gefragt, weswegen Oheim Tyge gerade hier zu reden wünscht. Ich glaube, ich ahne ihn. Balduin Hansen ist kürzlich in Kopenhagen gewesen. Ich denke mir, das Telegramm heute ist das Ergebnis dieser Reise.«

»Was meinst du damit?«

»Müller Jensen liegt ja krank im Reichshospital, und man zweifelt allgemein an seinem Aufkommen. Sollte sich das bewahrheiten, so ist die Absicht mit des Oheims Besuch sicher die, daß Balduin Hansen jetzt als neuer Folkethingskandidat für den Kreis aufgestellt werden soll.«

Der Doktor schlug mit der Hand auf die Stuhllehne.

»Dann mußt du dir ein Herz fassen, Johannes, und dich allen Ernstes aus dieser Gesellschaft zurückziehen! Der Müller war schlimm genug in all seiner Einfalt – aber Balduin darfst du zu keinem Sitz im Reichstag verhelfen!«

»Ja, wenn du mir nur sagen kannst, wie sich das verhindern läßt.«

»Wenn du keinen andern vernünftigen Menschen bewegen kannst, sich zu opfern, so mußt du dich selbst gegen ihn aufstellen lassen. Es bleibt dir nichts andres übrig! Ich sprach neulich mit dem Dachdecker Jörgen aus den Aalhäusern. Es kann ja kein Geheimnis für dich sein, daß er und einige andere in dieser Zeit umhergehen und im Kreise für dich werben. Er behauptet, er hätte dir schon über dreihundert Stimmen gesichert.«

Der Pfarrer ging unruhig einige Schritte durch das Zimmer, dann kehrte er zu dem Pult zurück.

»Und wenn dann das Ergebnis so ausfällt, daß weder Balduin Hansen noch ich, sondern Kammerherr Rosen gewählt wird, so wird man mich für den Verlust des Kreises verantwortlich machen.«

»Du machst dir Sorgen um mancherlei Dinge, Bruder Johannes,« sagte der Doktor. »Falls Bedächtigkeit eine Kardinaltugend ist, endest du als Bischof von Seeland.«

»Was hast du eigentlich gegen Balduin Hansen?« fragte der Pfarrer, statt zu antworten.

»Dasselbe wie du, nehme ich an. Er ist ein Schwätzer. Hast du das Referat von der Rede gelesen, die er neulich in Jerve gehalten hat? Das Reich der Glückseligkeit sei jetzt auf der Treppe. Es fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten, mit denen die gesetzgebende Macht bis Fastnacht schon fertig werden würde. Ich zweifle nicht daran, daß der Mann in gutem Glauben ist, aber das macht ihn in meinen Augen nicht weniger bösartig. Diese gutmütig-dummen Phantasten sind gerade am allergefährlichsten.«

Der Pfarrer strich sich mit der Hand über das bartlose Gesicht und sagte: »In gewissen Punkten ist er doch dein Gesinnungsgenosse, Paul.«

Das kam so leicht hingeworfen heraus, aber der Ton war niedergeschlagen, und er setzte die Unterhaltung nicht fort.

Der Doktor verstand, worauf er anspielte. Balduin Hansen hatte seinerzeit einen Zusammenstoß mit dem Amtsvorgänger des Bruders, Propst Vollerup, gehabt, der ihn der freigeistigen Agitation in der Schule beschuldigte.

Der Doktor erhob sich. Mit verfinsterter Miene trat er in die offene Gartentür, und hier blieb er stehen, den Rücken der Stube zugewandt, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile des Schweigens trat der Pfarrer an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Verzeih mir, Paul!«

»Es ist jetzt das zweite Mal, daß du unsere Verabredung brichst, Johannes!«

»Ich werde schweigen!«

Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft. Fräulein Martinsen steckte den Oberkörper herein, um den Bescheid zu bringen, daß Hans Andersens Frau soeben einen strammen Jungen bekommen habe und daß alles so sei, wie es sein sollte.

»Das ist gut! Sagen Sie bitte, daß ich hinüberkommen und mir den Bengel ansehen will,« sagte der Doktor.

Als die Tür wieder geschlossen war, wandte er sich mit einer versöhnlich ausgestreckten Hand an seinen Bruder.

»Laß es denn das allerletzte Mal sein, Johannes, daß wir beide uns um Dinge streiten, über die wir uns doch nie einigen können. Es ist schon ohnedies Unfriede genug in unserer Familie. Weißt du noch, als wir Jungen waren? Da sprachen wir immer davon, daß wir nur zusammenhalten wollten, dann würden wir ein Königreich erobern. Das Versprechen müssen wir einlösen mit der nötigen Einschränkung. Und möchten dann Tag und Nacht bis zu den Wahlen dir die Worte in den Ohren klingen: ›Balduin muß vernichtet werden!‹ ... Gute Nacht, Johannes!«

Der Pfarrer begleitete seinen Bruder hinaus.

»Grüße Meta und die Kinder!« sagte er von der Treppe herab, als sich der Wagen in Bewegung setzte.

In sein Zimmer zurückgekehrt, trat er an das Pult und blieb hier lange im Gebet stehen. Wie sein Vater, der alte Schullehrer Jörgen, stand er unter dem dornengekrönten Christuskopf, das Gesicht in den Händen, und betete für die Erlösung seines Bruders.

Draußen in dem sommernachthellen Garten schlug die Nachtigall ihre wehmütigen Triller.


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