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X

Jytte saß, völlig angekleidet, vor dem Spiegel oben in ihrem Zimmer. Sie gehörte zu den Brünetten, denen alles steht und die deswegen leicht gleichgültig in bezug auf ihr Äußeres werden. Ohne viel zu überlegen, hatte sie ein bronzefarbenes Seidenkleid mit Unterärmeln aus weißen Spitzen aus ihrem Kleiderschrank genommen. An der Brust hatte sie eine Nadel mit einem Saphir befestigt. Sonst trug sie weder Ringe noch andern Schmuck.

Sie saß zurückgelehnt da, die Hände im Schoß, und starrte auf ihr eigenes Bild im Spiegel. Saß da gedankenvoll versunken, mit einem finsteren, grübelnden Ausdruck, den nur sie selbst kannte.

Sie konnte sich nicht erholen von ihrem Erstaunen und der Scham über die Szene, die sie da unten bei der Mutter zum besten gegeben. Es war die alte Angst, die sie wieder befallen hatte – die Furcht, daß die Liebe, die sie für Dihmer empfand, nur Phantasterei und Selbstbetrug sei, wie so traurig viel anderes in dieser Welt der schönen Einbildungen! Das »Ja«, das die Mutter ihr entlockt, hatte sie mit einem Gefühl gesprochen, ungefähr so, als wenn man sich im Traume von einem schwindelnd hohen Turm herabstürzt.

Wenn Torben Dihmer nur ganz in sie hineinsehen könnte und sie nicht ein klein wenig anders glaubte, als sie in Wirklichkeit war! Aber das Unglück wollte ja, daß sich die Leute immer so verkehrte Vorstellungen von ihr machten, immer von der »klugen« Jytte Abildgaard, von der »überlegenen« Jytte Abildgaard sprachen. Und dabei war sie doch so hilflos ängstlich, wie ein kleines Mädchen in einem verzauberten Wald, sobald es sich um eine Entscheidung handelte.

Beständig hatte man ihr erzählt, daß sie ihrer Mutter gleiche, und nicht allein äußerlich. Das hatte auch Dihmer einmal gesagt. So wenig wußte er Bescheid! Denn es bestand ein ebenso großer Unterschied zwischen ihnen wie zwischen einem reifen Weizenfeld mit Kornblumen und Mohnblumen und einem von diesen dichten dunklen Dorngestrüppen, in die hineinzusehen unheimlich war. Sobald sie selbst versuchte, in die Urwaldtiefe ihres Wesens einzudringen, erfaßte sie eine Art panischen Schreckens. Es war weder Weg noch Steg da drinnen, aber es wimmelte von Gespenstern und wandernden Schatten. Und wilde, rote Raubtieraugen starrten aus der Finsternis heraus. Und das alles sollte Torben Dihmer kennen. Ihr ganzes Leben sollte offen vor ihm liegen, soweit sie es selbst verstand. Und dann sollte er ihr sagen, ob er sie trotzdem liebhaben konnte ...

Still! Unten auf dem Kies ertönten Fußtritte. Sie brauchte sich nicht vorzubeugen, um zu sehen, wer es war. Sie wußte es sofort. Ehe sie noch die Schritte erkannt hatte, fühlte sie, daß er es war.

Es ward so feierlich still in ihr. Sie rührte sich nicht. – Nun hörte sie seine Stimme. Die Mutter war hinabgegangen, um ihn zu empfangen. Sie mußten gerade unter ihrem Fenster stehen. Vorsichtig erhob sie sich und guckte hinter der Gardine hinaus. Ja, da stand er! Ein großer bärtiger Herr mit einem hellgrauen Sommermantel, der lose über dem Gesellschaftsanzug hing. Ein fremder Mann. Ach ja, wie hatte er sich verändert! Gutsbesitzer Dihmer also. Voilà tout!

Unwillkürlich blieb ihre Aufmerksamkeit an den Zügen in seinem Gesicht hängen, die sie nie hatten begeistern können: die kleinen Augen, die so unerlaubt dicht beieinander saßen, die ein wenig vierschrötige Nase und – ach! – diese meilenlangen Wangen! Wie war es nur zugegangen, daß sie sich in diese groteske Maske verliebt hatte. Und dann hatte er sich zum Überfluß noch all diesen Bartwuchs zugelegt!

Sie hatte nur den einen Wunsch, von dem Ganzen weglaufen zu können!

Nun gingen sie hinein, und sie hörte seine und der Mutter durcheinander tönende Stimmen unter ihr. Es klang auf einmal so traulich. So waren ihre Stimmen ihr oft in der Dronningens Tvärgade erklungen, wenn sie in ihrem eigenen Zimmer saß und schmollte, weil sie so eifrig in ihrer Unterhaltung über Politik und all das andere geworden waren, für das sie selbst nicht das geringste Interesse hatte. So war sie ja nun einmal! Ganz ekelhaft wütend hatte sie werden können. Allen Ernstes eifersüchtig auf die eigene Mutter. Hatte man je so etwas gehört? Aber so war sie! Und so sollte Torben Dihmer sie kennen lernen!

Sie stand wieder vor dem Spiegel. Auf dem Toilettetisch lagen drei dunkelrote Rosen, die sie im Garten gepflückt hatte, während die Mutter hier oben war und sich umkleidete. Es hatte ihr so etwas vorgeschwebt, daß sie ihm die eine bei der Ankunft überreichen und die beiden andern am Busen tragen wollte. Sie begriff das jetzt nicht mehr! Mit ein paar munteren Worten hätte sie es vielleicht tun können; das romantisch Feierliche war nun einmal nicht ihre Sache!

Einen Augenblick stand sie mit den Blumen in der Hand da und bekam wieder ihren trübseligen, grübelnden Ausdruck.

Ja – dachte sie. Es war vielleicht ihr eigentliches und ausschlaggebendes Unglück, daß sie nie Worte für das fand, was sie im tiefsten Innern bewegte. Deswegen war sie so einsam im Leben geblieben, trotz all ihrer vielen Bekanntschaften. Sie war in der Beziehung wie die verwunschene Prinzessin im Märchen beschaffen. Jedesmal, wenn sie den Mund auftat, sprang eine Kröte heraus.

*

... Frau Berta und Torben Dihmer waren indessen in den Garten hinausgegangen. Frau Berta wollte ihm die schöne Aussicht zeigen, ehe die Sonne hinter den genuesischen Hügeln versank. Aber Torbens Gedanken waren in der Villa geblieben. Jeder Laut von da drinnen ließ ihn die Ohren spitzen, und je länger es währte, ehe sich Jytte blicken ließ, um so nervöser und abwesender ward er.

Um den Gürtel der Unverletzbarkeit in Bereitschaft zu haben, hatte er auf dem Wege hierher viel an die beiden schönen Damen gedacht, die er in Wiesbaden kennen gelernt hatte: eine junge schwedische verwitwete Baronin von Platen, eine hirschähnliche Erscheinung auf hohen Beinen, und eine deutsche Künstlerin, Fräulein Steinbach, die jetzt in München war. Namentlich die letztere hatte ihm viel Freundlichkeit erwiesen und ihn sogar eingeladen, sich an einer privaten Gesellschaftsreise um die Erde, die einige von ihren Freunden geplant hatten, zu beteiligen. Sie war eine brünette Schönheit mit Augen wie ein Paar Zwillingskirschen, lebhaft und gutmütig.

Er sagte zu sich selbst: »Was willst du eigentlich hier? Die Erde wimmelt von schönen Frauen, und mehr als eine hat die Arme nach dir ausgestreckt. Warum denn gerade dieses kleine geheimnisvolle Mädchen, das dich schon ein paarmal gedemütigt hat?«

Da hörte er sie auf die Loggia hinauskommen. Einen Augenblick stand sie lächelnd auf der untersten Stufe der Treppe im Schein der sinkenden Sonne und hielt eine Hand beschattend vor die Augen. Das bronzebraune seidene Kleid gleißte in dem tiefen Abendbrand wie fließendes Gold.

Mit einem muntern Gruß ging sie ihm entgegen, sagte guten Tag und Willkommen und: »Wie nett ist es, Sie wieder zu sehen!« und gab schnell seine Hand frei.

Torben hatte sich stumm vor ihr verneigt. Er war noch nicht recht imstande, sich zu sammeln.

»Mutter hat Ihnen wohl schon schnell unsere Herrlichkeiten gezeigt?« sagte sie. »Wohnen wir nicht schön?«

»Ja, prächtig! Es ist eine wirklich ungewöhnliche Aussicht!«

»Und ich habe die Wohnung entdeckt ... nicht wahr, Mutter?«

Als sie die verwunderte und mißbilligende Miene der Mutter sah, merkte sie nun selbst den Mißton, der in ihren Worten lag.

Wieder eine Kröte! dachte sie und wurde still.

Sie gingen ins Zimmer zurück, wo die Unterhaltung schnell zu einer gewöhnlichen Konversation erstarrte. Frau Berta fragte Torben nach Wiesbaden und seiner Kur aus, und er erzählte darüber, was ihm gerade einfiel, ohne seine eigenen Gedanken preiszugeben. Jytte saß für sich in einem Schaukelstuhl und wandte fast beständig das Gesicht ab, um nicht seinem Blick zu begegnen, der – das merkte sie sehr wohl – während der ganzen Zeit auf der Jagd nach dem ihren war. Sie hatte eine sonderbar schwebende Empfindung von sich selbst. Die Gedanken galoppierten durch ihren Kopf ungefähr so, wie wenn sie auf einem Ball ein wenig zu reichlich von dem Champagner genippt hatte. Das Herz schlug wild.

Es dämmerte in der Stube. Sie sprachen von Generalkonsul Kolding und seiner Frau, von Promenadenkonzerten und ein wenig von heimatlichen Verhältnissen.

Torben empfand die Luft im Zimmer bedrückend. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, Jytte und ihre Mutter so unverändert zu treffen. Es war ihm, als ob er in einem Traum drei, vier Jahre zurückgeführt sei. Gespensterhaft durchlebte er wieder die entschwundenen Tage in der Dronningens Tvärgade und merkte mit steigender Hitze im Blut, wie die alte, unglückliche Verliebtheit ihn wieder in ihr Nessushemd einzuspinnen begann.

Jetzt ertönte der Gong unten vom Hotel her.

»Ja, dann müssen wir gehen,« sagte Frau Berta, die Mühe gehabt hatte, die Unterhaltung im Gange zu halten. »Du holst mir wohl meinen Umhang, Jytte.«

Während der folgenden Stunde saßen sie zusammen mit ein paar hundert festlich gekleideten Menschen von allen Nationalitäten in dem Speisesaal des Hotels in einem Lichtmeer aus vier mächtigen Kronleuchtern. Man speiste an kleinen blumengeschmückten Tischen, und zwar hatte jede Familie ihren Tisch und ihren Diener. Der tausendäugige Chef der Anstalt leitete selbst das Servieren. Zu gedämpfter Musik eines verborgenen Orchesters wurde eine Reihe von Speisekunstwerken aufgetragen, die sowohl dem Auge als dem Gaumen schmeichelten: eine bernsteingelbe Suppe mit kleinen rubinroten und smaragdgrünen Klößen, eine Pastete in Form einer voll aufgetakelten mittelalterlichen Galeasse, ein Turm aus Fischrücken in Mayonnaise aufgemauert, mit Zieraten von gekochtem Krebs und Zitronenscheiben – alles in allem ein Dutzend Gerichte, bei denen die Damen sich meistens mit dem Vorgeschmack begnügten, den der Anblick gewährte.

Frau Berta und Jytte saßen mit ihrem Gast in einer der Ecken des Saales. Als der Chef auf seiner Runde dort vorüberkam und sah, daß gegen die Gewohnheit Champagner auf ihrem Tisch stand, verneigte er sich anerkennend. Der würdige Herr, der selbst mehrfacher Millionär war, setzte höflich voraus, daß seine sämtlichen Gäste es ebenfalls seien, wünschte aber, daß sie es auch durch die Tat bewiesen.

Trotz des Champagners und der Feststimmung im Saal war Torben noch immer gleich schwer zu unterhalten, und das Bewußtsein davon quälte ihn selbst. Frau Berta war schließlich nahe daran, die Geduld zu verlieren. Asmus Hagen hatte sie freilich darauf vorbereitet, daß der Freund ein wenig sonderbar geworden sei. Aber was für ein Buhmanngesicht war denn das? Sie erkannte ihn gar nicht wieder.

Auf Jytte übte Torbens stummes Wesen dahingegen eine ganz entgegengesetzte Wirkung aus. Er machte sie selbst still. Obwohl er auch für sie ein anderer geworden war als ehedem, fühlte sie ihn nicht mehr als einen Fremden, und diese gesellschaftliche Unbeholfenheit bei dem früher so weltgewandten Manne erweckte alle ihre alte Zärtlichkeit von neuem. Sie fand außerdem, daß er schöner geworden war. Dieser üppige, wellige Bart kleidete ihn wirklich. Er glich einem griechischen Gott.

Während die Mutter und er wieder von Wiesbaden zu sprechen begannen, saß sie da und sah in den Saal hinaus, ohne der Unterhaltung zu folgen. Trotzdem war sie nicht unaufmerksam. Aber es war nur die Stimme selbst, der sie lauschte, diese glockentiefe Männerstimme, die schon, als sie erst halberwachsen war – in ihrem zweiten gemeinsamen Sommer auf Storeholt – ihre Scheu wachgerufen hatte. Sie entsann sich dessen noch sehr wohl! ... Übrigens hatte auch die Stimme sich nicht wenig verändert. Es war etwas Sprödes in den Klang gekommen. Man konnte es ihr anhören, fand sie, wie er in diesen Jahren schweigend gelitten hatte.

Nach Tische versammelten sich die Gäste draußen in der großen Halle, die den mittleren Teil des ganzen Gebäudes einnahm und von einer mächtigen Glaskuppel überdacht war. Hier wurden die Toiletten gezeigt. Die elegantesten und am tiefsten ausgeschnittenen Damen brachten sich mildtätig in den breiten Korbstühlen an, wo die Herren umhergingen, das Monokel ins Auge geklemmt, und die ausgestellten Büsten als Kenner beurteilten.

Da waren Leute aus vielen Ländern, und jede Nationalität hatte ihre Manieren, aber das gewaltsame elektrische Licht setzte ihnen allen dieselbe Totenmaske auf. Da waren korpulente Börsenmänner aus Berlin und Wien, nervenmüde amerikanische Fabrikdirektoren, die in den tiefen Stühlen duselten, erloschen und leblos, gleich abgekoppelten Maschinen. Und da waren ein paar von diesen die Länder durcheilenden jungen Lebemännern, die am Tage die Wege mit ihren fauchenden Automobilen unsicher machten und des Abends Nervosität in den Hotels verbreiteten, in Gesellschaft ihrer Frauen oder Geliebten in kühner Halbnacktheit, von Diamanten illuminiert. Aber da waren auch wohlhabende Männer von der alten Schule und einfache Wurstfabrikanten mit ihren Frauen, die still an den Wänden saßen und die Freuden der Tafel ausschwitzten. Da war außerdem ein armenischer Priester, ein hindustanischer Plantagenbesitzer aus Ceylon und zwei von den Söhnen des Himmels, die mit ihren prachtvollen Seidengewändern Aufsehen erregten.

An der einen Längsseite des Saales war eine Erhöhung, auf der jeden Abend eine Reihe von Artisten zur Unterhaltung der Gäste beim Kaffee und der Zigarre auftraten. Das Programm wies an diesem Tage einen Negerkomiker, neapolitanische Tänzer, einen Tirolerchor und ein Tintamaresque-Theater auf. Als Einleitung machte das Orchester des Hotels die Honneurs mit einem flotten Musikstück.

Torben hatte seine Damen zu einem der langen Sofas an der Wand geführt.

Unter so vielen Luxusfrauen der großen Welt nahm sich die dänische Ministerwitwe mit ihrer Tochter bescheiden aus. Aber überall, wo sie sich blicken ließen, erweckten ihre schönen Erscheinungen doch stets Aufmerksamkeit und hinterließen ein Kielwasser von interessiertem Flüstern und Fragen. Jetzt erregt Torbens Auftauchen erhöhte Neugier, und um zu erfahren, wer er sei, kam der Oberverwaltungsgerichtsrat von Auen zu ihnen hin und ließ sich vorstellen.

Torben war indessen von seinem Freund, dem Generalkonsul, entführt, der ihn absolut seiner Frau vorstellen wollte. Sie saß auf einem der Sofas an der entgegengesetzten Wand und entpuppte sich als eine ein wenig kurzhalsige Dame in einer Art griechischem Gewand und mit einem Kneifer.

»Ich heiße Sie willkommen hier im Sonnenland,« sagte sie auf eine Weise, als sei sie hier die Wirtin. »Ja, Sie sehen so aus, als wenn Sie es nötig hätten, die liebe Sonne zum Freund zu bekommen. Aber das haben wir ja alle nötig.«

Im selben Augenblicke entstand eine Bewegung ringsumher im Saal. Alle sahen nach der großen vergoldeten Treppe hinüber, die in einer der Ecken des Saales zu dem ersten Stockwerk des Hotels hinaufführte. Eine kleine ältliche Dame mit emailliertem Gesicht und jugendlichen Locken bewegte sich langsam am Arm einer Krankenpflegerin die Stufen hinab. Eine Kammerjungfer trug ihre Schleppe von apfelgrünem Samt, und hinterdrein folgte ein Diener mit einem winzig kleinen Hund, der mit erhobenem Kopf in einem ausgepolsterten Korb saß und gebildet um sich sah.

Diese geputzte Leiche, die einem der regierenden Fürstenhäuser angehörte, aß aus Etiketterücksichten in ihren eigenen Zimmern, stellte sich aber regelmäßig zu der Varietéunterhaltung ein. Mit etwas Mühe wurde die hohe Dame in einem Lehnstuhl mitten vor die Bühne gesetzt, der Korb mit dem Hund wurde auf ihren Schoß gestellt, und sie erteilte dann eine kurze Cour, ehe die Vorstellung begann.

Jetzt ertönte eine Glocke. Der erste Artist stand, sich tief verbeugend, auf einer Erhöhung. Es war ein häßlicher kleiner Zwergmulatte in Frack, weißer, seidener Weste, Lackschuhen und weißen Handschuhen. Ein Affe in Dress.

Torben ergriff sogleich die Gelegenheit, sich von der Generalkonsulin zurückzuziehen, die einen Vortrag über die Wiedergeburt des Menschengeschlechts durch das Wellersche System begonnen hatte. Aber auf dem Rückweg zu seinen Damen wurde er von Direktor Zaun angehalten, der eine Unterredung mit ihm über die politischen Verhältnisse daheim wünschte.

Der Zeitpunkt war unglücklich gewählt. Torben hatte gerade entdeckt, daß Herr von Auen während seiner Abwesenheit den Platz auf einem Stuhl neben Jytte eingenommen hatte und sie eifrig unterhielt. Das war ihm um so peinlicher, als er glaubte, den lächerlich aussehenden Mann als einen von Jyttes Kavalieren vom Vormittag wiedererkennen zu können.

»Übrigens habe ich Ihnen einen frischen Gruß von einem gemeinsamen Bekannten zu bringen,« sagte Direktor Zaun, »nämlich von Professor Asmus Hagen. Er ist mein Arzt. Der Professor teilte mir mit, daß ich Sie wahrscheinlich hier treffen würde. In den Tagen des Aprilvereins hatte ich häufig das Vergnügen, mit Ihnen und dem Professor zusammen zu sein.«

In der beständigen Hoffnung, wiedererkannt zu werden, hatte der Direktor seinen goldenen Kneifer abgenommen und zeigte Torben sein nacktes Gesicht. Und wirklich tauchte einen Augenblick ein flüchtiges Erinnerungsbild in dem Hintergrund von Torbens Bewußtsein auf. Er sah vor sich den niedrigen, rauchgefüllten Saal des Aprilvereins mit einer heulenden und miauenden Versammlung vor einer Rednertribüne, auf der dieser kleine schwarzbärtige Mann stand und leidenschaftlich gestikulierte.

Direktor Zaun fuhr fort zu reden, obwohl von den Leuten in ihrer Nähe ein paarmal der Versuch gemacht war, sie zum Schweigen zu bringen. Jetzt wandte sich ein dicker, kahlköpfiger Herr mit einem Schweinsrüssel erbittert um und verlangte Stille.

Sie hatten beide nicht bemerkt, daß es allmählich ganz still im Saal geworden war. Der schwarzgraue Artist, dessen Spezialität es war, Tierlaute nachzuahmen, spielte in diesem Augenblick einen Mann auf dem Fliegenfang. Leibhaftig ahmte er das Summen einer sorglos umherfliegenden Schmeißfliege nach, und als er das vorgebliche kleine Geschöpf gefangen hatte, hörte man erst ein wütendes Summen in seiner geschlossenen Hand, dann einen zischenden Kampf um Befreiung, indem er es an dem einen Flügel hervorholte. Schließlich zertrat er das Phantom unter der Spitze seines beschleiften Lackschuhs, und als man das schwache, feuchte Svi-vit hörte, womit der Brummer den Geist aufgab, jubelte der Saal, und der Herr mit dem Schweinsrüssel klatschte wie ein Rasender.

Statt zu seiner Gesellschaft zurückzukehren, war Torben in die Lesezimmer gegangen, die in diesem Augenblick ganz leer waren. Er warf sich in einen der großen Lederstühle und überließ sich völlig seiner mißmutigen Stimmung.

Er saß dort mit demselben Gefühl, das er so oft in Wiesbaden gehabt hatte, als ob ihn ein Alpdruck plage und er nicht erwachen könne. Das Ganze erschien ihm so unwirklich, als sei alles dies mit seiner Genesung eine Einbildung gewesen und er selbst schon längst gestorben und in die Unterwelt geführt – hinabgestürzt in das Reich der Verdammten, um hier von der Erinnerung an seinen unterschätzten Frieden und sein Glück in der Krankenstube von Favsingholm gequält zu werden. Und nun hatte er obendrein die ganze Lächerlichkeit einer unglücklichen Verliebtheit mit sich umherzuschleppen. Diese verkrüppelte Jugendliebe hatte sich da oben in der Einsamkeit in seinen Organismus eingefressen wie das Gift aus einer alten Wunde. Während Jytte da drinnen mit ihrem deutschen Freund saß und sich offenbar sehr heimisch in diesem Schattenreich fühlte, saß er hier und seufzte wie der verschmähte Ferdinand in einer Operette. Das war das Ergebnis von des klugen Asmus Zauberkünsten! Sein Leichenhemd hatte er mit einer Narrenkappe vertauscht. Was war dabei gewonnen? ...

Drinnen im Saal war der Neger von einigen brünetten Tänzern abgelöst, die zu der Begleitung von Kastagnetten und Tamburinen schrien und mit den Füßen um sich stießen. Die Männer traten mit offenstehenden Hemden und Schwimmhosen auf, die Damen mit einem kurzen seidenen Rock über fetten Beinen in fleischfarbenem Trikot. Das hieß auf dem Programm ein neapolitanischer Volkstanz.

Jytte fing an, über Torbens Verschwinden ängstlich zu werden. Sie hatte ihn im Auge behalten, als er der Generalkonsulin vorgestellt wurde, wie auch später, als er dastand und mit Direktor Zaun sprach. Sie hatte Herrn von Auens viele Liebenswürdigkeiten überhaupt nicht angehört und sich nicht einmal die Mühe gegeben, ihre Geistesabwesenheit zu verbergen.

Sein Fortgehen beunruhigte sie besonders, weil sie eine Empfindung hatte, daß es eine Demonstration war. Namentlich dieser Varietéhumbug war ihm sicher zuwider. Die Gesellschaft mißfiel ihm offenbar. Sie saß gerade da und überlegte, ob sie es ihrer Mutter nicht mitteilen sollte, daß Torben Dihmer gegangen sei. Es war ja auch möglich, daß er krank geworden ...

Im selben Augenblick sah sie ihn in der Tür zu den Lesezimmern erscheinen, und obwohl seine Miene gleich ernsthaft war, durchströmte sie eine Freude, so daß der Glanz der Augen ihr geheimes Glück verriet. Sie wußte es selbst nicht, aber Herr von Auen wurde sich nun endlich klar über die Sachlage, und sogleich war seine Liebenswürdigkeit verschwunden.

Als er Torben sich nähern sah, erhob er sich, verneigte sich vor den Damen und wandte darauf dem Nebenbuhler seinen pomadisierten und gescheitelten Nacken mit höfischer Unverschämtheit zu.

Die Damen auf der Tribüne in den kurzen Röcken und ihr gemeines Gekreisch genierten Jytte plötzlich, weil Torben zugegen war. Sie flüsterte der Mutter zu, ob sie nicht gehen wollten.

»Dies ist wirklich ekelhaft,« sagte sie. »Ich glaube auch nicht, daß es Torben Dihmer amüsiert.«

Frau Berta nickte.

Nach einer Weile erhoben sie sich alle drei und gingen.

Draußen war heller, weißer Mondschein. Es sah so aus, als läge eine dünne Schneeschicht über dem Erdboden. Trotz der Palmen und der dichten Laubbäume war die Aussicht über die Stadt ganz winterlich in diesem Licht.

Nur Frau Berta bemerkte es und sprach darüber. Sie ging voran auf dem schmalen Weg, der in Windungen unter breiten Schirmpinien zu der Villa hinaufführte. Die beiden anderen gingen schweigend hinterdrein.

Torben hatte beschlossen, zu reisen. Er glaubte, jetzt so viel zu wissen, wie er brauchte, und er empfand es fast als Erleichterung, daß er Klarheit erhalten hatte. Und da kein Grund vorlag, der Form halber die Qual für einen der Teile zu verlängern, wollte er schon am nächsten Tage abreisen und jeglicher Auseinandersetzung aus dem Wege gehen.

An der Gittertür, die zu dem Garten der Villa führte, sagte er gute Nacht.

»Wollen Sie schon gehen? ... Nun ja, Sie haben die Berechtigung, müde von der Reise zu sein,« sagte Frau Berta. »Sagen Sie mir doch, Sie haben sicher das Hotelleben satt, nicht wahr? Wollen Sie uns nicht die Freude machen, Ihren Morgentee hier zusammen mit uns zu nehmen? Wir lassen ihn uns hier ganz für uns servieren, und dann ist es hier wirklich sehr gemütlich. – Nein, jetzt dürfen Sie nicht nein sagen! Also auf Wiedersehen um neun Uhr.«

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinein. Als nun aber auch Jytte gute Nacht sagte und die Hand aus dem Abendmantel streckte – ganz wie an jenem Abend vor der Haustür in der Dronningens Tvärgade –,da hielt er sie einen Augenblick zurück.

»Ich möchte Sie bitten, Ihrer Frau Mutter zu sagen, daß sie mich morgen nicht erwarten soll.«

»Sie kommen nicht?«

»Nein ... ich reise ab.«

»Sie reisen ab? Aber Sie sind ja doch eben erst gekommen!«

»Ja, es war ein Mißverständnis meinerseits, diesen Ort zur Erholung zu wählen. Das sehe ich jetzt sehr wohl ein. Es ist zu früh. Ich bin noch nicht genügend akklimatisiert.«

»Aber was haben Sie nur einmal?«

Es kam wie ein Ausbruch, unversehens, fast ängstlich.

Torben lauschte. Hatte er recht gehört?

Er behielt ihre Hand und sah sie prüfend an.

»Bin ich Ihnen wirklich gar nicht lästig? Ich meine ... Sie haben doch gewiß schon so viele Freunde hier. Darf ich wie in alten Zeiten bei Ihnen aus und ein gehen?« ...

»Ja – natürlich!« sagte sie, suchte aber doch jetzt ihre Hand zurückzuziehen. »Dann kommen Sie also morgen.«

Er hatte sie im Mondschein tief erröten sehen. Aber um seiner selbst willen wagte er trotzdem nicht, noch mehr zu fragen. Seine Gedanken waren mit ihm durchgegangen. Aus Furcht, die Selbstbeherrschung zu verlieren, begnügte er sich damit, sich über ihre Hand zu beugen und sie ehrerbietig zu küssen.

»Danke,« sagte er.

Mit entblößtem Haupt hielt er die Gitterpforte für sie offen, während sie hineinging.

Und ohne es selbst zu wissen, blieb er mit dem Hut in der Hand stehen, solange der Laut ihrer Schritte auf dem kiesbelegten Gartengang zu hören war ...

Drinnen im Zimmer hatte Frau Berta die Lampe angezündet und saß schon mit einer Zeitung da. Sie sah nicht auf, als Jytte hereinkam, sondern tat, als sei sie ganz von der Lektüre in Anspruch genommen.

Jytte war ihr dankbar für diese Verstellung. Sie hatte sehr wohl bemerkt, daß die Mutter ein wenig enttäuscht von Dihmer war; deswegen war sie bange, daß sie anfangen könne, von ihm zu reden.

»Ich glaube, ich gehe gleich zu Bett,« sagte sie und schloß das Klavier.

»Ja, tu du das, es ist auch wirklich durchaus nicht zu früh.«

Oben in ihrem mondhellen Stübchen blieb Jytte eine Weile am geöffneten Fenster stehen. Sie hörte noch das hohle Dröhnen von Torbens Schritten unten auf dem fliesenbelegten Weg, zwischen den hohen, widerhallenden Gartenmauern. Und sie dachte: Da unten ging der Mensch, der jetzt über ihr Leben verfügte. Ein fremder Mann – denn es war ja in Wirklichkeit ein ganz anderer, den sie liebgewonnen, als der Torben Dihmer, an den sie alle diese Jahre mit so viel Sehnsucht gedacht hatte. Den hatte sie schon beinahe vergessen. Diesen merkwürdige schweigsamen Fremden liebte sie jetzt und wollte ihr Schicksal mit ihm verknüpfen, nachdem sie nur einen einzigen Abend mit ihm zusammen gewesen. So war sie!... Sie mußte an etwas denken, was ihr Vater an dem Tage, an dem sie sechzehn Jahr alt wurde, zu ihr gesagt hatte. Er hatte ihr die Wange gestreichelt und gesagt, daß sie ja jetzt ein erwachsenes Mädchen geworden sei, mit dem man vernünftig über ernste Dinge reden könne. Er hatte ihr die alte griechische Fabel erzählt, wie Mann und Frau ursprünglich als ein vereintes Ganzes erschaffen, aber dann geteilt und jedes für sich in die Welt hinausgesendet wurden, so daß sie einander nur mit Hilfe des Instinktes, der Liebe genannt werde, wiederfinden konnten. »Im übrigen aber sollst du dir den Kopf nicht zu viel mit diesen Dingen zerbrechen,« hatte er gesagt, »halte nur deine Augen offen, so daß du ihn, deinen paradiesischen Zwillingsbruder, erkennst, wenn er einmal kommt!« Die Geschichte hatte einen starken Eindruck auf sie gemacht. Es war so verlockend, daran zu denken, daß irgendwo in der Welt eine »Hälfte« umherging und nach ihr suchte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Allen einsamen Männern sah sie fragend in die Augen: Bist du es? ... Später, als sie älter geworden, war der Gedanke an einen so anspruchsvollen Doppelgänger ihr Schrecken geworden. Deswegen hatte sie Torben Dihmer belogen und sich selbst betrogen, an dem Tage vor fünf Jahren, auf der Langenlinie, als er um sie warb. Und doch! Sie war ja damals wirklich nicht ganz sicher, daß er auch der Richtige war.

Erst jetzt wußte sie es. Sie fühlte es in diesem Augenblick mit fast schmerzlicher Gewaltsamkeit, daß sie ihm endlich begegnet war – dem sehnsüchtig Vermißten. Früher hatte sie nicht lassen können, Dihmer zu lieben, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Jetzt wünschte sie, ihm anzugehören, sehnte sich danach, die Seine zu werden, ganz und inniglich mit ihrer Seele und mit ihrem Körper. Es war nicht zu verstehen, und doch war es so. Den Schritt, der ihr noch vor zwei Stunden wie ein Todessprung vorgestanden hatte, der mit verbundenen Augen gemacht werden müsse, erwartete sie jetzt mit Ungeduld. Nicht eher als in elf Stunden würde sie ihn wiedersehen. Und was dann? ... Das Ganze war ja völlig anders gekommen, als sie es sich gedacht hatte. Was hatte sie im Grunde gesagt? Nichts, deuchte ihr. Aber sie hatte ihn doch dazu gebracht, daß er blieb, und das war das Wichtigste.


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