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Am Nachmittag setzte Frau Berta wieder ihren Hut auf und nahm ihren Schal um. Sie begab sich in die Stadt hinab Jytte hatte ihr gesagt, daß sie an Dihmer geschrieben habe und sie wollte ihn nicht abreisen lassen, ohne ihm Lebewohl gesagt zu haben.
Auf dem Halteplatz vor der Hoteleinfahrt setzte sie sich in eine der Droschken, und zehn Minuten später hielt sie vor seinen Pensionat, das am andern Ende der Stadt lag.
Sie traf ihn zu Hause. Vor nur einer halben Stunde war er von einem Ausflug zurückgekehrt und hatte Jyttes Brief vorgefunden. Er ging noch ganz verwirrt und erregt im Zimmer auf und nieder und wollte sie anfänglich nicht annehmen. »Dihmer,« sagte sie, als sie in seinem Zimmer Platz genommen hatte, »ich weiß, daß Jytte Ihnen geschrieben hat, sie könne nicht die Ihre werden. Ich weiß ja nicht, was sich in diesen Tagen zwischen Ihnen und ihr zugetragen hat; aber ich denke mir, sie hat Ihnen ein leichtsinniges Versprechen gegeben, das zurückzunehmen sie sich nun also gezwungen sieht. Ich nehme an, es ist ihr klar geworden, daß sie einen andern liebt. Ich begreife, daß Sie hart über sie urteilen müssen, und sie verdient es auch nicht anders. Es ist schwer genug für eine Mutter es sagen zu müssen, aber ich glaube, Sie können sich freuen Dihmer, daß Jytte nicht die Ihre wird. Als sie ein Kind war fand ich oft, daß sie so sonderbar erwachsen und entwickelt für ihr Alter war, – jetzt finde ich weit eher, daß es umgekehrt ist. Aber ich kann nicht aus ihr klug werden, und ich weiß nicht, was aus ihr werden soll. – – Aber sagen Sie mir nun, Dihmer, was wollen Sie selbst tun?«
»Ich?« sagte Torben, aus seinen Gedanken aufgescheucht. Er saß kerzengerade da, mit den Händen die Armlehne des Stuhls so fest umklammernd, daß die Knöchel weiß waren. »Ach – ich finde mich schon zurecht. Meine Einbildung hat ja nicht Zeit gehabt, sonderlich fest bei mir zu wachsen.«
»Nein – Sie haben recht. Und wenn Sie nun heimkehren zu Ihren vielen Freunden, die Sie so sehnsüchtig erwarten, so werden Sie diese Enttäuschung bald vergessen – das glaube ich sicher. Vorläufig kehren Sie also nach Ihrem lieben Favsingholm zurück?«
Torben schüttelte sehr bestimmt den Kopf.
»Nicht? Aber ich verstand doch gestern –«
»Heute ist nicht gestern, Frau Geheimrat. Einsamkeit habe ich genug gehabt. Aber die Welt ist ja groß, und ich glaube wirklich, ich habe es nötig, ganz wach zu werden.«
»Ja, ja! Sie wollen reisen – das wird sicher gut für Sie sein. Neue Erlebnisse – frische Eindrücke ... freilich, gerade das haben Sie nötig. Sie sprachen am ersten Abend von einer Reise um die Welt, die Sie in guter Gesellschaft unternehmen könnten. Aus der Reise sollten Sie Ernst machen, Dihmer. Wenn Sie dann zurückkommen, werden Sie die Zeit und die große Entwicklung ringsumher in der Welt ganz anders ansehen – davon bin ich überzeugt. Direktor Zaun wird das nächste Mal nicht vergeblich an Ihre Tür pochen. Glauben Sie das nicht selber auch?«
Torben erwiderte nichts, und als Frau Berta nun merkte, daß sie lästig war, erhob sie sich. Beim Abschied konnte sie es nicht lassen, ihm die Wange zu streicheln. Es schnitt ihr ins Herz, zu sehen, wie hart der Schlag ihn getroffen hatte.
Torben begleitete sie hinaus. Dann klingelte er nach dem Diener.
»Ich reise noch heute abend. Sorgen Sie dafür, daß an das Reisebureau wegen einer Fahrkarte nach München telegraphiert wird. Schlafwagen. Haben Sie verstanden?«
»Vollkommen, mein Herr!« antwortete der Diener, der ganz erstaunt war über sein verändertes Aussehen.
*
Jytte stand zu dieser Zeit am Fenster oben in ihrem Zimmer und wartete in Unruhe auf die Rückkehr der Mutter. Sie wußte, wohin sie gegangen war. Die Mutter hatte es ihr selbst gesagt.
Es hatte angefangen zu dunkeln. Die Abendschatten lagen schon über dem Garten, wo nur der Wipfel einer großen Kastanie noch im Sonnenschein leuchtete. Der Himmel draußen über dem Meer flammte.
Sie ging von Zeit zu Zeit einmal im Zimmer umher und machte sich etwas zu schaffen, kehrte aber immer wieder nach ihrem Ausguckposten zurück. Auf ihrer Kommode lagen Torbens Orchideen. Sie wußte nicht, was sie damit machen sollte, konnte sich nicht entschließen, sie ins Wasser zu stellen, und ließ sie deswegen liegen.
Es fror sie, sie fühlte sich unwohl. Die Einsamkeit und die zunehmende Dunkelheit machten ihr Angst. Auch der ungewöhnlich starke Schimmer am Himmel über dem Meere beunruhigte sie wie ein böses Omen.
Endlich sah sie die Mutter durch den Garten zurückkommen. Beim Anblick ihres langsamen, gleichsam schwankenden Ganges rief sie unwillkürlich:
»Arme Mutter!«
Dann zog sie sich scheu vom Fenster zurück, setzte sich schwer in einen Stuhl nieder und preßte die Stirn gegen die Lehne.
Hätte sie anders handeln können? Nicht um ihrer selbst willen ... auch nicht um Torben Dihmers willen ... aber ihrer Mutter wegen ... die sie tausendmal mehr liebte, als sie es verdiente?!
Nein – jetzt wollte sie nicht mehr denken. Sie war müde, war ihrer selbst todmüde. Sie wünschte jetzt nur zu schlafen, zu schlafen – hinabzusinken in ihren tausendjährigen Domröschenschlaf, ohne je wieder geweckt zu werden, und ohne andere Träume zu haben als die luftigen, die die Musik schuf. Ja, nun würde sie sich wieder wohl an ihrem Klavier fühlen!