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Es vergingen noch einige Jahre. Eins der Kinder starb, aber es kamen immer neue hinzu, und in der Schmiede sang der Amboß vom Morgen bis zum Abend, um Nahrung für die vielen hungrigen Mäuler zu schaffen.
Eines Nachmittags hielt ein fremder Handelsmann draußen vor der Schmiede, sprang vom Wagen und rief hinein, ob er ein Hufeisen unter sein Pferd bekommen könne. Es war ein behender kleiner Mann mit einem großen Mundwerk. Während Sören und sein Lehrling ein Eisen unter den einen Hinterfuß legten, stand er gegen den Wagenkorb gelehnt, die Hände in den Taschen, und ließ das Mundwerk laufen.
Schließlich erzählte er von einem Mann in Aarhus, der als gewöhnlicher Dorfschmied angefangen, drüben in Amerika aber gelernt hatte, landwirtschaftliche Maschinen anzufertigen. Jetzt war er auf bestem Wege, einer der größten Steuerzahler der Stadt zu werden.
Sören kannte die Geschichte sehr wohl, wußte sogar den Namen des Fabrikanten. Trotzdem murmelte er, daß es, weiß Gott, ausgestunkene Lügen seien.
»Lügen? ... Da kannst du jeden Mann fragen, der in Aarhus bekannt ist. Dann wirst du schon hören, was sie von Jens Johannsen sagen. Ich will meinen Kopf darauf lassen, daß er mehr als 'ne Million hat!«
Sören wandte sich im selben Augenblick um und ging ihm drohend zu Leibe. Die lange Raspel in der erhobenen Hand, brüllte er ihm ins Gesicht:
»Und ich sag dir, wenn du das Maul nich hältst, schlag ich dir den Schädel ein, du Quatschkopf!«
Starr vor Schrecken rettete sich der Handelsmann auf seinen Wagen, ergriff die Zügel und flog davon, als habe er den leibhaftigen Satan das Weiße aus den Augen kehren sehen. Aber als er eine Strecke Weges gekommen war und sich in Sicherheit fühlte, wandte er sich auf dem Kutscherbock um und rief: »Was bildst du dir eigentlich ein, du Bettelkerl!«
Nach Feierabend, als Sören in die Stube kam und Anne-Mette den spritzelnd heißen Speckpfannkuchen auf den Tisch stellte, trank er mehrere Schnäpse, rührte aber das Essen kaum an. Hinterher blieb er sitzen, den Kopf auf dem Arm, als schlafe er oder als sei er betrunken.
»Machen dir die Zähne wieder zu schaffen?« fragte Anne-Mette vorsichtig.
Er nickte.
Nach einer Weile stand er auf und schlenderte hinaus.
Es war Mondenschein. Er ging nach dem Krug hinab; als er aber von außen sah, daß viele Leute da drinnen saßen, ging er vorüber und bog aufs Geratewohl in einen Feldweg ein, der über die Heide führte.
Der Mondschatten folgte ihm – bald an der einen, bald an der andern Seite, je nachdem der Weg sich drehte. Er hatte ein Gefühl, als habe sich ein geheimnisvolles Wesen ihm angeschlossen, ein Sendbote der Finsternis, der ihm in vertraulichem Tone böse Verführerworte ins Ohr flüsterte – ein alter Bekannter aus der Zeit, als die Lügen von selbst auf seiner Zunge geboren wurden und Größenwahnträume ihn wie ein Alpdruck ritten.
»Na, wo geiht di dat denn, Sören Madsen? Dat is woll nich bäter mit di worren, sit wie uns nicht sähen häwt. Äwer ik häv di dat jo of nog sägt, Sören. Do deenst kenen goden Mann, häw ik sägt. Müh un Arbeit is din Lohn worren, du armen Kierl! Un denn dat Verspräken upp 'n Himmelrig nahsten, dat sünd am Enn blots Lögen, dat hätt nie existiert, 'n slichten Profit! Un du, de de beeden Hänn vull von de scheunsten Gaben up de Ir häbben künnst! Herrjemine! Und dat Enn von'n Lied is, dat de Lühr di ›Bettelkierl‹ nahropen! ... Anne-Mette is ok bald to old för 'n Mann as du. Ik säg, mak di fri, Sören! Noch is dat Tid! Anne-Mette kann jo in Deenst gahn. Dat hätt se früher ok dahn. Un for de Gören kann de lew Gott upkamen. He is de Nächste dorto. Von em häst du se jo doch. Un wenn du hier man irst weg büst und wat anners in' Kop häst, denn denkst du nich mihr doran. Glöw du mi blots. Ik kenn de Welt un de Minschen. Un ik bün din Fründ, din wohre Hartensfründ! Ik säg: Wies nu, dat du 'n ganzen Kierl büst, Sören! En ganzen Kierl! Dat watt di nich leed warrn. – Schalln wi uns de Hand dorup gäwen?«
Als Sören gegen Mitternacht nach der Schmiede zurückkam, war der Bund geschlossen. Er wollte von Hause weglaufen und es der Armenkasse überlassen, für Anne-Mette und die Kinder zu sorgen. Er war wieder der Meisterschmied von Thy geworden und hatte nichts mehr mit den Gören des Krackenversohlers zu schaffen.
Zwei Tage darauf waren alle Vorbereitungen getroffen. Er hatte sich Reisegeld verschafft, indem er die Kuh verkauft hatte. Er müsse Stangeneisen und neues Werkzeug kaufen, erklärte er. Gegen Abend sagte er zu Anne-Mette, er wolle am nächsten Morgen in aller Frühe in die Stadt und die Sachen einhandeln.
Als Sören sie von der Schmiede aus in der Tür stehen und seinen Sonntagsanzug ohne einen Gedanken an Hinterlist abbürsten sah, konnte er kein Auge von ihr wenden. Er fand, daß sie wieder jung und schön geworden war, trotz des spärlichen Haars, und er beschloß, den größten Teil des Geldes, das er sich zur Reise beschafft hatte, ihr zu hinterlassen. Er wollte selbst nicht mehr als dreißig ... nein, nur fünfundzwanzig Reichstaler behalten. Ja, mit zwanzig Reichstalern würde er sich auch begnügen können. Den Rest wollte er ihr in ihre Kommodenschublade oder sonst irgendwohin legen, wo sie es gleich finden mußte.
Ehe Anne-Mette an jenem Abend zu Bett ging, stellte sie den Wecker eine Stunde vor, so daß sie rechtzeitig das Butterbrot gestrichen und den Morgenkaffee fertig haben konnte.
In der Nacht erwachte sie dadurch, daß sie Sören seufzen hörte.
»Schläfst du nich?« fragte sie.
»Denn träumst du woll?«
»Ja.«
Sie fühlte im Halbschlaf nach der Windel unter der Kleinen, die zwischen ihnen lag, und sank dann wieder in ihre Gluckhennenträume zurück. Sören blieb liegen, den Arm unterm Kopf, und starrte in die mondhelle Stube hinaus. An der Wand über ihm tickte die Uhr, und rings um ihn her ertönte der sorglose Chor von den Atemzügen der Kinder. Er unterschied Krestens regelmäßiges Atemholen mit dem kleinen Flötenton durch die Nase, Jörgens fast erwachsenes Schnarchen, Katrines kleine Klatschlaute mit den Lippen und Tyges ruhiges Ausatmen.
Schließlich begann er, mit dem Teufel zu feilschen. Er wollte ein paar Tage Frist haben. Dann würde er ganz offen mit Anne-Mette darüber sprechen, was er vorhabe, und es darauf ankommen lassen, was sie zu seinen Plänen sagte. Aber da hörte er den geheimnisvollen Freund wieder tröstend zu ihm reden. Er müsse bedenken, sagte der Freund, daß er nicht nur um seiner selbst willen fortreise, sondern auch um das Glück für seine Familie heimzuholen. Auf Frauenzimmergewäsch solle man niemals hören. Wenn er einmal als reicher Amerikaner, alle Taschen voll Geld, heimkehrte, würden sowohl Anne-Mette als auch die Kinder verstehen, wie gut und richtig er gegen sie gehandelt habe. Er solle nur guten Mutes sein.
Um vier Uhr rasselte die Weckuhr. Anne-Mette fuhr aus dem Bett heraus, und als sie in die Küche gegangen war, stand auch Sören auf. Er blieb eine Weile auf dem Rande des Bettes sitzen, den Kopf in den Händen. Es läutete da drinnen wie mit den Glocken des Jüngsten Gerichts. Ihm war zumute wie jemandem, der im Begriff ist, einen Mord zu begehen.
»Du kannst woll nich got vör hüt abend werrer dor sin,« sagte Anne-Mette, als sie im Tagesgrauen in der Küche beim Kaffee saßen.
Sören goß einen Schnaps in seine Tasse.
»Ne, dat kann ik nich,« erwiderte er nach einigem Zögern und goß noch ein wenig aus der Flasche dazu.
An der Wand stand sein alter Wanderstecken. An einem Nagel darüber hing sein Ranzen aus Fuchsfell. Das war seine ganze Ausrüstung. Anne-Mette seufzte ein wenig über ihre Kuh, die ihr fehlte. Aber Eisen und Werkzeug waren ja wichtiger, das begriff sie sehr wohl. Sören erwiderte nichts, und nun erwachte die Kleine drinnen in der Stube. Anne-Mette mußte hin und das Kind stillen.
Als sie zurückkam, war Sören gegangen. Auf dem Tisch zwischen den leeren Kaffeetassen standen drei Silberrollen mit acht Speziestalern in einer jeden.
»Herrjemine! Nu hätt he sin Geld vergeten!« dachte sie.
Sören war schon ein gutes Stück aus dem Dorf herausgekommen. Es war ein frischer Sommermorgen mit Regenbogenschimmer über den taufeuchten Feldern. Er hatte die aufgehende Sonne im Rücken, und sein Schatten streckte sich riesenhaft vor ihm auf dem geradelaufenden Wege. Es war dieselbe Landstraße, auf der er an jenem Regenabend vor zehn Jahren gekommen war, und er hatte sie seither kaum wiedergesehen.
Er schritt kräftig aus. Jetzt, wo das Lebewohl gesagt war und die große Welt wieder in verheißungsvollem Morgenglanz vor ihm lag, wollte es ihm scheinen, als wenn alle diese Jahre der Sklaverei hinter ihm in die Erde versänken wie ein böser Traum. Das Gefühl der Freiheit durchströmte ihn wieder wie ein mächtiger Rausch. Auch die Schnäpse in dem leeren Magen begannen zu wirken. In taktfestem, dröhnendem Soldatenmarsch schritt er dahin, ohne zurückzusehen.
Er schwenkte seinen Knittel, und da noch keine Menschen auf den Feldern waren, hub er an zu singen. Es war ein Vers aus einem lustigen Lied, dessen er sich aus der Soldatenzeit entsann:
Vater schweigt,
Mutter schreit;
Hast geküsset
Meine Maid!
Singsalia! Singsalium!
Bum!
Drei Stunden später saß er auf dem Grabenrande eine Meile von der Stadt und hatte seinen Schnappsack hervorgeholt. Er war eigentlich gar nicht hungrig, und beim Anblick von Anne-Mettes sorgfältig gestrichenem Butterbrot verlor er nun völlig den Appetit.
Des Weges daher kam eine lange, magere Frauensperson, einen Lumpensack auf dem Rücken und einen Stab in der Hand. Er kannte sie sehr gut. Es war eine halbverrückte Alte, die in der Gegend umherging und bettelte. Als sie seine Butterbrote erblickte, blieb sie vor ihm stehen, schüttelte sich in ihren Lumpen und bat um einen Bissen in Gottes Namen.
Sören hatte noch nie einem Armen ein Stück Brot verweigert; aber Anne-Mettes letzte Brotschnitten waren ihm eine zu teure Gabe. Er ließ die Frau mit einem Zweischillingstück gehen. Lange verfolgte er sie mit den Augen, während er daran dachte, daß sie vielleicht noch vor Abend nach Enslev kommen und bei Anne-Mette anklopfen und in die Küche kommen würde, um ihren Schluck Kaffee zu erhalten. Er sah ganz leibhaftig vor sich, wie Anne-Mette mit der kleinen Hanne auf dem Arm herauskam und schon ein wenig unruhig darüber war, daß er noch nicht zurückgekommen. Tyge schmiegte sich an ihr Kleid und war bange vor dem fremden alten Weib mit dem häßlichen Hundegesicht. Und draußen auf der Türfliese stand Kresten mit Jörgen an der Hand; sie sahen den Weg hinab, nach ihm aus ... Er bereute jetzt, daß er nicht auch die letzten zehn Reichstaler von seinem Reisegeld zu Hause gelassen hatte. Er hatte sich schon früher als wandernder Gesell durchgefochten und konnte es wohl noch einmal tun. Sobald er zur Stadt kam, wollte er an Anne-Mette schreiben und ihr seine Absichten erklären. Und er wollte sie bitten, guten Mutes zu sein und nur auf ihn zu warten. Alles, was er über den Lebensunterhalt hinaus verdiente, wolle er ihr schicken. Weder sie noch die Kinder sollten Not leiden.
In der Stadt begab er sich in Madame Jörgensens Kellerwirtschaft am Hafen, um ein Glas Bier zu trinken und sich nach einer Schiffsgelegenheit zu erkundigen.
»'n grotes Glas un 'n Lütten ... Ik bün dörstig!« sagte er unnötig laut, sobald er zur Tür hereingekommen war, und warf sich mit großem Spektakel auf eine Bank, die an einem Tisch unter den Fenstern stand.
Da waren keine andern Gäste im Lokal als ein dicker Mann mit einem Nacken wie ein gemästeter Eber. Er trug eine Uniformmütze, und seine schweren, kissenförmigen Hände ruhten auf einem Rohrstock, der zwischen seinen Beinen stand. Er war der ehemalige Schutzmann des Städtchens, der jetzt Gefängniswärter war. Madame Jörgensen saß hinter der Schenke und häkelte. Sie war eine ältere Frau, klein und dick wie ein durchgeschnittenes Branntweinfaß. Sie gebrauchte Zeit, um vom Stuhl in die Höhe zu kommen und Sören das bestellte Glas Bier und den ergänzenden Schnaps zu bringen.
Als sie wieder glücklich hinter ihren Flaschen saß, fuhr der Gefängniswärter fort in seinem Bericht über ein paar Jungen, denen er am Morgen auf dem Rathaus die Rute gegeben hatte. Mit Selbstbefriedigung gab der dicke Mann eine ausführliche Schilderung des Geschäftes.
»Fünfundzwanzig Rielle auf den bloßen Podex. Sie können sich darauf verlassen, daß die Frikandellen zu Hackbeefsteak geworden sind.«
Madame Jörgensen wand sich in ihrem gestrickten Seelenwärmer. Sie versuchte eine Verteidigung der Jungen. Die Kinder da unten in der Hinterstraße kriegten ja auch gar keine Erziehung. Wenn der Mann auf See war und die Frau auf Waschen ausgehen mußte, was sollte da wohl aus den armen Gören werden!
»Ganz meine Worte!« sagte der Gefangenwärter. »Diese Art Burschen wandern geradeswegs ins Zuchthaus. Das sagt ich auch zu dem Bürgermeister.«
Sören war still geworden dort am Fenstertisch. Er hatte ein Gefühl, als wären es seine eigenen Jungen, von denen sie redeten, und es zog in seinem Innern zu einem mächtigem Unwetter auf. Er starrte diesen schweinefetten Mann wütend an und hatte Lust, ihm den Schädel mit seinem Knüttel einzuschlagen. Aber jetzt ging die Tür auf, und eine Schar Hafenarbeiter kam auf ihren großen Holzschuhen hereingetrampelt.
Sören bezahlte, was er verzehrt hatte, und ging auf die Straße hinaus. In friedloser Stimmung trieb er sich in der Stadt herum. Er fand, daß ihn alle Leute mit anklagenden Blicken ansahen, als wüßten sie, was er vorhatte. Das machte ihn feindlich gesinnt. Was hatte das Pack sich in seine Angelegenheiten zu mischen? Wollten sie ihm etwas, so sollten sie nur herankommen! Ein kleines Mädchen, das vor ihm stehen blieb, um zu fragen, wieviel Uhr es sei, schob er mit einem Fluch beiseite.
Oben auf dem Marktplatz ging er wieder in eine Wirtschaft und setzte sich hin, um zu trinken. Beim vierten Grog wurde er lärmend und begann, die andern Gäste freizuhalten. Er bestellte eine Flasche Portwein und warf einen Taler auf den Tisch. Die Leute blinzelten einander zu und belustigten sich über ihn. Als zwei Soldaten hereinkamen, sprang er auf und stand stramm. Er lud auch sie zu einem Grog ein und streifte seinen Ärmel auf, um ihnen die Narbe von dem Granatsplitter aus der Schlacht bei Missunde zu zeigen. Dann hub er an, von seiner Frau und seinen Kindern zu sprechen, und erzählte, er sei in die Stadt gekommen, um für dreihundert Reichstaler Stangeneisen und Werkzeug zu kaufen.
Ein paar Stunden später, als er wieder auf die Straße hinauskam, war er knallbesoffen.