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III

Gleichzeitig mit der Eröffnung des Reichstages hatte sich Enslev wieder in Kopenhagen niedergelassen. Den schönen Landsitz am Furesee, auf den er sich vor zwei Jahren zurückgezogen, hatte er verkauft, und vom großen Publikum wurde dieser Verkauf als Bestätigung für die Vermutung aufgefaßt, daß es seine Absicht sei, bei der ersten günstigen Gelegenheit Tyrstrup zu stürzen, um selbst die Führung wieder zu übernehmen.

Herr Zaun war vom Reichstag nach dem Sankt Annae-Platz geeilt, wo Enslev jetzt wohnte. Als er vor dem Hause stand und draußen vom Fahrweg aus sah, daß es im Empfangszimmer dunkel war, wagte er sich jedoch nickt hinauf. Es war ja spät geworden. Vielleicht war der Alte schon zur Ruhe gegangen.

Enttäuscht wandte er sich ab, als im selben Augenblick ein Automobil dahergesaust kam und vor dem Torweg hielt. Eine große Dame stieg aus.

»Verzeihen Sie! ... Guten Abend, Fräulein Ewaldsen?»!«

»Ach, Sie sind es, Herr Zaun! Sie hatten mich beinahe erschreckt!«

»Verzeihen Sie ... wollen Sie mir nicht sagen, ob Sie glauben, daß Enslev mich heute abend empfangen kann?«

»Nein, das halte ich für ganz unmöglich. Man hatte mir gerade eben telephoniert, er habe zu Bett gehen müssen. Es sind die alten Steinschmerzen. Professor Hagen ist gerufen. Er ist gewiß jetzt da oben. Bendix ist ja leider verreist. – Weswegen wollen Sie übrigens mit ihm sprechen? Liegt etwas Neues vor?«

Zaun sah sich um und wartete mit der Antwort, bis das Auto gefahren war.

»Ich komme von Tyrstrup.«

»Nun! Das Fräulein packte ihn unwillkürlich beim Arm. »Was hat er gesagt?«

»Propst Broberg wird es. Er hat es nicht geradezu eingeräumt, aber es unterliegt keinem Zweifel ... Mit andern Worten – eine offene Kriegserklärung.«

Fräulein Ewaldsen zog langsam die Hand zurück und ballte sie.

»Daß die Schurken das wagen! ... Daß sie sich nicht schämen!«

»Glauben Sie, daß Aussicht vorhanden ist, daß ich Enslev morgen vormittag sprechen kann?« fragte Zaun. »Denn jetzt muß ja gehandelt werden!«

»Kommen Sie um zwölf Uhr! Wenn es möglich ist,, will ich dafür sorgen, daß Sie zu ihm hineinkommen. – Ist da sonst noch etwas?«

»Ich glaube nicht. Ja, das heißt ... Sie haben wohl gesehen, daß Mazuranic gestorben ist?«

»Wer?«

»Der Ministerpräsident von Bulgarien. Er ist in Wien gestorben, nach einer Operation. Der berühmte Professor Richter hat ihn operiert. Die Operation währte drei Stunden. Gestern schien es ja, als wenn er durchkommen würde, aber nun ist er, wie gesagt, gestorben. Es wird interessant, zu sehen, ob Njegosch oder Frederovic sein Nachfolger wird. Ich glaube, es wird Njegosch werden!«

»Kann das irgendwelche Bedeutung für uns haben?« fragte Fräulein Ewaldsen. »Was haben wir mit Bulgarien zu tun?«

»Hm – nein – eine Bedeutung –?«

»Ja, wollen Sie mich dann damit verschonen, Herr Zaun! ... Gute Nacht!«

Oben in dem großen Schlafzimmer saß Asmus Hagen in einem Lehnstuhl neben Enslevs Bett. Um dem kranken Mann Ruhe für die Nacht zu schaffen, hatte er ihm eine Morphiumeinspritzung gemacht und wartete nun die Wirkung ab. Enslev saß aufgerichtet im Bett, ein paar Kissen im Rücken. Trotz der wiederholten Ermahnung des Arztes wollte er sich nicht hinlegen, indem er mürrisch erklärte, er würde bald genug gezwungen sei, diese Stellung einzunehmen. In seinem Grauen vor der Dunkelheit hatte er außerdem verlangt, daß die Lampe an der Decke brennen solle. Das große Zimmer – eigentlich der Speisesaal der Wohnung – machte mit seinen wenigen Möbeln einen kalten und öden Eindruck, und das grelle Licht schien unheimlich über den leeren Raum hinab, wie zu einem Fest für unsichtbare Gäste.

Die Schmerzen hatten schon nachgelassen, und auch auf andere Weise spürte man die Wirkung des Morphiums. Enslev fing an mitteilsam zu werden. Er erzählte scherzend von dem guten Geschäft, das er mit seinem Landsitz gemacht hatte, und begann dann, mit Asmus Hagen von dessen Bruder, dem Jägermeister, zu reden, zu dessen Folkethingswahl er ihn beglückwünschte.

»Er ist vielleicht kein hervorragender Redner, aber er hat es doch schon verstanden, sich eine gewisse Position im Thing zu verschaffen. Er hat ja auch eine außerordentlich unternehmende Frau. Ich erwarte viel von ihm.«

Asmus Hagen schwieg hierzu. Er hatte selbst eine ganz andere Auffassung von dem Ansehen, das der Bruder als öffentliche Persönlichkeit genoß, und er hatte auch nicht den Eindruck, als wenn Enslevs Worte aufrichtig gemeint seien.

»Man hat mir erzählt, daß er in diesen Tagen ›Storeholt‹ verkauft hat. Verhält sich das so? Sein Schwiegervater soll das Gut übernommen haben. Wie heißt doch der Mann?«

»Söholm.«

»Er ist ja Millionär, daher ist mir der Zusammenhang nicht so recht klar.«

Auch hierzu schwieg Asmus Hagen, dem der Verlust des alten Familiengutes bitter zu Herzen gegangen war.

Drinnen im Speisezimmer, wo nur eine vereinzelte Lampe an dem großen Kronleuchter brannte, ging Fräulein Ewaldsen unruhig hin und her, die Arme in einen Schal gewickelt, den sie um die Schultern gelegt hatte. Die Tür zu dem großen Empfangssaal nebenan stand offen, und da drinnen war überhaupt kein anderes Licht als der Schein von den Straßenlaternen draußen. Es war kalt in den Zimmern, die beide denselben öden, unbewohnten Eindruck machten wie die Schlafstube. Die Ausstattung war kostbar genug, denn Enslevs Zeitungsindustrie hatte ihn allmählich zu einem wohlhabenden Mann gemacht, aber obwohl er sich auf andern Gebieten einzelne verfeinerte Gewohnheiten zugelegt hatte, war sein Geschmack nie über den des kleinen Mannes hinausgekommen. Und Fräulein Ewaldsen, seine vieljährige Freundin, die als Tochter eines Generals doch selbst aus guter Kopenhagener Familie war, fehlte bei ihren vielen großen Eigenschaften gerade die eine, den alten Mann mit ein wenig Traulichkeit und Frieden zu umgeben. Die ganze Einrichtung der Wohnung war von einem der großen Geschäfte der Stadt besorgt worden, und an Enslevs großen Empfangsabenden, wenn ein Strom von Menschen durch die Räume glitt, hatte man ganz das Gefühl, als befinde man sich auf einer Möbelausstellung.

Fräulein Fanny Ewaldsen war jetzt eine Dame in den Fünfzigern. Das Gesicht war verheert, und die langen Vorderzähne verschönerten es nicht. Aber ihre hohe Gestalt hatte sich jungfräulich schlank gehalten, ihr Gang war leicht und frei wie der Flug eines Vogels – es lag eine eigene, großzügige Anmut über allen ihren Bewegungen.

Mit achtundzwanzig Jahren hatte sie Enslev zuerst auf einer Rednertribüne erblickt, und das Unglaubliche geschah, daß die gefeierte Tochter des Reitergenerals, die die Spielgefährtin der königlichen Prinzessinnen gewesen war, diesem Manne des Volkes ihre Liebe schenkte, ihm ihren guten Ruf opferte, ja, ihm später ihr ganzes Leben widmete. Und Enslev hatte sich durchaus nicht immer dankbar für ihre Aufopferung erwiesen, am allerwenigsten hatte er ihr ihre große Treue vergolten. Nachdem sie eine alte Jungfer geworden, behandelte er sie fast wie einen alten Dienstboten. In Wirklichkeit aber konnte er sie gar nicht entbehren, weil sie allmählich der einzige Mensch geworden war, auf den er sich ganz verließ.

Als die Tür zur Schlafstube endlich aufging und Asmus Hagen hereinkam, glitt sie ihm von dem andern Ende des Zimmers in ihrem eigenartigen Fledermausflug entgegen und packte ihn beim Arm.

»Wie steht es? Sagen Sie mir die Wahrheit, Herr Professor!«

»Liebes Fräulein Ewaldsen, da ist nicht der allergeringste Anlaß zu Besorgnis. Es ist ja einer von den gewöhnlichen Anfällen.« »Glauben Sie, daß er es morgen überstanden haben wird ... oder doch spätestens übermorgen?«

»Ist das so wichtig?«

»Ja. Es muß alles geschehen, um seine Kräfte aufrechtzuerhalten. Vielleicht ist Enslev niemals unentbehrlicher für das Land gewesen als gerade jetzt.«

»Nun ja. Sie brauchen sich, wie gesagt, nicht zu ängstigen. Übrigens muß ich Sie daran erinnern, daß ich nur als Stellvertreter hier bin. Wenn Professor Bendix nächste Woche nach Hause kommt, wird es geraten sein, eine gründlichere Untersuchung vorzunehmen. Vorläufig handelt es ja um seine Nachtruhe. Was ihn möglicherweise aufregen könnte, muß ihm ferngehalten werden. Deswegen heute abend keine Politik mehr, Fräulein Ewaldsen!«

Er sagte das letztere lächelnd mit erhobenem Zeigefinger, wünschte ihr darauf gute Nacht und ging.

Als Fräulein Ewaldsen in das Schlafzimmer kam, hatte Enslev sich hingelegt. Sie wollte auf dem Bettrande Platz nehmen, aber er bat sie, sich auf einen Stich! zu setzen, und als sie nach seinem Befinden fragte, antwortete er mürrisch, sie habe ja mit dem Doktor gesprochen.

Es währte jedoch nicht lange, bis er anfing, sie auszufragen. War sie im Reichstage gewesen? Dort war wohl nichts von Interesse vorgefallen? War heute nicht Abendsitzung?

»Ja, es war meine Absicht, dahin zu gehen,« sagte sie. »Aber es geschieht wohl nichts. Das Finanzgesetz soll ja nur zu Ende gebracht werden.«

»Und in der Ministerernennung verlautet noch immer nichts Näheres? Ich bin übrigens gar nicht in Zweifel darüber, daß es der Propst wird. Tyrstrup will sich einmal als Held zeigen. Er wagt es Gjärup gegenüber nicht anders. Und außerdem hat er ja eine Hölle von Geistlichen in seiner Sippschaft. – Aber was hast du? Du sitzst so unruhig. Weißt du doch was?«

»Jetzt sollst du nicht fragen, mein Freund! Du mußt schlafen.«

»Unsinn! Hast du was gehört, so heraus damit! Sitz doch nicht da, als wenn du Magenschmerzen hättest!«

Sie konnte ihm nicht entwischen. Sein Ton wurde schließlich so erregt und grob, daß sie erzählen mußte, was Direktor Zaun ihr mitgeteilt hatte.

Wie vorbereitet Enslev auch gewesen war, empfand er es doch einen Augenblick, als wenn der Weltenlauf stille stünde. Es war das erstemal seit vielen Jahren, daß man sich offen gegen seinen Willen auflehnte.

Er nahm ein Schlüsselbund vom Nachttisch, reichte es Fräulein Ewaldsen und sagte: »Geh in mein Zimmer! Da liegt ein Papier unter der Schreibtischklappe. Hol mir das! Du kennst den Schlüssel.«

Als sie zurückkam, fuhr er fort: »Der Sicherheit halber habe ich das Dokument da aufgesetzt, ehe ich heute nachmittag ins Bett kroch. Du kannst es gern lesen.«

Die Freundin faltete das Papier auseinander. Da standen nur einige wenige Zeilen. Ihre Augen durchflogen sie hastig mehrmals, worauf sie Enslev, fast vor Schrecken gelähmt, anstarrte. Er hatte mit Befriedigung den Ausdruck ihres Gesichts beobachtet, während sie las.

Einige Augenblicke betrachteten sie einander schweigend.

»Du siehst, ich habe alles vorbereitet! Aber höre jetzt, was ausgerichtet werden muß! Falls ich morgen nicht imstande bin, selbst mit Zaun zu sprechen, mußt du ihn bitten, sich wieder einzufinden, sobald die Ministerernennung offiziell vorliegt. Wenn ich ihn auch dann noch nicht sehen kann, sollst du das Schreiben mit dem Datum versehen und es ihm zur weiteren Besorgung in einem geschlossenen und versiegelten Umschlag übergeben Und er muß beauftragt werden, es Tyrstrup persönlich und ohne Zögern zu überbringen.«

Fräulein Ewaldsen hatte durch wiederholtes Kopfnicken ihr Verständnis zu erkennen gegeben.

»Daß sie das gewagt haben!« rief sie aus und ballte die Hand.

»Und wenn man bedenkt, daß da in der ganzen Gesellschaft nicht einer ist, der dir nicht alles zu verdanken hat! Tyrstrup, Bohse, Gjärup, Höjbo, Tanning. Und nun lassen sie dich auf die gemeinste Weise im Stich. Einer nach dem andern!«

»Nun, was Tanning und Bohse und die andern Esel betrifft, so habe ich nicht viel mehr von ihnen erwartet. Die erkannte ich gleich an ihrem Schreien. Aber daß ich mich so lange von Tyrstrup Hab zum Narren halten lassen, das ärgert mich denn doch. Er ging da so dick und gutmütig umher und spielte den Getreuen mit schwülen Händedrücken und langen Versicherungen. Jetzt hat er sich also endlich für Krieg entschieden, und er soll ihn haben! – Aber geh jetzt! Mir wird so schwer im Kopf von dem Morphium. Rufe die Jensen! Sie soll kommen und die Lampe ausknipsen. Und willst du daran denken, morgen vormittag an Samuelsen zu telefonieren! Er soll näheren Bescheid haben, wann ich ihn empfangen kann.«

Als Enslevs Haushälterin, die kleine Mamsell Jensen, alles für die Nacht geordnet hatte und aus dem Schlafzimmer in die Eßstube zurückkehrte, fand sie zu ihrer Überraschung Fräulein Ewaldsen noch dort.

»Ja, Sie sehen mich an, Mamsell Jensen, aber ich habe beschlossen, zu bleiben. Enslevs Aussehen will mir gar nicht gefallen. Diese Nacht muß jemand wachen, und Sie haben den Tag über genug zu tun. Die Mädchen ebenfalls.«

»Fräulein Ewaldsen brauchen wirklich nicht bange zu sein. Ich höre es sofort, wenn der Herr klingelt.«

»Ich bleibe aber doch lieber hier. Ich setze mich in den großen Lehnstuhl im Saal. Da kann er mich nicht hören. Falls diese Nacht keine Verwendung für mich ist, dürfen Sie nicht sagen, daß ich hier geblieben war.«

»Aber da ist es ja kalt, Fräulein Ewaldsen! Soll Ellen-Katrine nicht ein wenig einheizen?«

»Das tut nicht nötig. Nur eine Decke und ein Kissen!«

Mamsell Jensen, eine breite, untersetzte Zwergengestalt mit dem Kopfe einer Riesin, wußte aus Erfahrung, daß sie sich ebensogut gleich fügen konnte. Sie begab sich auf ihre ruhige Weise zum Zimmer hinaus wie eine wandelnde Glocke. Unter den abstehenden Röcken bewegten sich die Beine wie ein Klöpfel.

»Sagen Sie mir doch,« begann Fräulein Ewaldsen, als sie zurückkam, »wissen Sie, ob die junge Jägermeisterin Hagen kürzlich hier gewesen ist?«

»Jägermeisterin Hagen? Hier kommen ja so viele, die mit dem Herrn sprechen wollen. Wie sieht die Dame aus?«

»Sie ist dunkelblond. Ungefähr meine Größe. Recht hübsch.«

»Hat sie einen blauen Samthut mit einer schwarzen Feder?«

»Ich glaube wohl.«

»Dann ist die Dame ein paarmal mit Blumen hier gewesen.« »Ich sehe, da drinnen im Saal steht ein frischer Strauß. Den hat sie vielleicht gebracht? – Sagen Sie mir es ganz offen,« fügte sie hinzu, als sie sah, daß die kleine Jensen mit der Antwort zögerte.

»Ja, den hat die Dame gebracht. Der Herr hat sie übrigens nicht empfangen.«

»So – na, dann gute Nacht, Mamsell Jensen! Gehen Sie nur gleich zu Bett!«

Drinnen im Saal richtete sie sich für die Nacht in einer der Fensternischen ein, wo ein großer, hochlehniger Stuhl stand. Eine wollene Decke fest um sich gestopft und ein Kissen im Nacken, starrte sie in das Halbdunkel hinaus, ohne an Schlaf zu denken. Die Tür, die vom Eßzimmer nach dem Küchengang führte, stand offen, damit sie es sofort hören konnte, wenn Enslev klingeln sollte.

Draußen ertönten die Hupen der Automobile und die Schritte der Fußgänger, und dazwischen das lange Schurren der Straßenbahnen in der Bredgade. Allmählich aber, je mehr die Stunden vorschritten, wurde es stiller und stiller. Sie hörte schließlich nur noch das Schlagwerk der Kirchenuhr drüben von der andern Seite des Platzes und hin und wieder den fernen, tiefen Ton der Nebelsignale von Schiffen draußen in der Einfahrt. Die Ereignisse des Tages und viele bunte Erinnerungen glitten gleich Traumbildern durch ihren Sinn, und plötzlich war sie ganz gerührt bei dem Gedanken an die kleine Jensen, die wohl kaum jemals einem Manne angehört und doch das Bedürfnis empfunden hatte, sie zu trösten. Das arme Wurm hatte ja förmlich Tränen in den Augen gehabt!

Aber sie bedurfte gar nicht des Mitgefühls, hatte keinen Trost nötig! Den Nervenstrang in ihrem Herzen, der sich einstmals unter der Demütigung krümmte, hatte sie längst, längst ausgebrannt! Um nicht zugrunde zu gehen, hatte sie ihren Schmerz erstickt und sich mit der Natur ihres lieben Freundes abgefunden. Wie sein Sinn und seine Gedanken gleich unersättlich beherrscht wurden von dem Glanz der Ehre, der Macht und der Eroberung, so hatten auch die Frauen ihre Anziehungskraft für den alten Mann nicht verloren. Aber sie beneidete ihre jungen Nebenbuhlerinnen nicht um die letzten aufsprühenden Funken des erloschenen Brandes. Nicht aus Eifersucht hatte sie die kleine Jensen ausgefragt. Aber im Interesse des Freundes selbst fühlte sie sich veranlaßt, die Damen im Auge zu behalten, die ihn besuchten. Es gab unter ihnen solche, die schamlos genug waren, seine Schwäche zu benutzen und ihren Einfluß auf ihn zum eigenen Vorteil zu mißbrauchen. Und diese junge Jägermeisterin gefiel ihr nicht. Sie kannte sie nur von Ansehen aus der Zuhörerloge des Reichstags, wo sie mit einem Stangenlorgnett saß und sich umsah, als mustere sie das Publikum in einem Theater. Diese Damen waren ihr gründlich verhaßt.

Es mochte ungefähr zwei Uhr sein, als sie aus einem Halbschlummer auffuhr, weil sie Enslev klingeln hörte. Sie warf die wollene Decke um wie einen Schal und eilte zu ihm. Enslev hatte selbst die Nachtlampe angeknipst, du über dem Kopfende unter einem grünen Schirm brannte. Als er sie sah, begriff er sogleich den Zusammenhang und empfing sie mit einem Zornesausbruch.

Aber sie war an seine Grobheiten gewöhnt und setzte sich ruhig auf den Bettrand.

»Es nützt nicht, daß du schiltst! Ich konnte dich hier nicht allein liegen lassen. Du siehst ja auch, daß die Jensen nicht kommt. Sie schläft wie ein Murmeltier. Jedenfalls währt es immer eine Ewigkeit, ehe sie auf die Beine kommt.«

»Ich habe dir gesagt, ich will nichts davon wissen, daß du mit meinen Dienstboten herumkommandierst. Und was für eine ekelhafte Hospitaldecke ist das, mit der du dich da drapiert hast? Du hast also obendrein aufgesessen und gefroren! Laß mich deine Hände fühlen ... Sie sind ja eiskalt!«

»Unsinn, mein Freund! Erzähle mir jetzt, was du wolltest? Du hast doch nicht wieder Schmerzen bekommen?«

»Nein.«

»Warum hast du denn geklingelt?«

»Ich bin durstig. Schenke mir etwas Wasser ein!«

Er wollte nicht eingestehen, daß er aus einem unruhigen Schlaf mit unheimlichen Träumen erwacht war und sich in seiner Einsamkeit mutlos gefühlt hatte. Er hatte es nie lange aushalten können, allein zu sein, am allerwenigsten des Nachts und im Dunkeln.

»Ich will kein Morphium mehr haben. Der Teufelskram macht mir den Kopf so wirr.«

Er legte sich müde in die Kissen zurück und schloß die Augen, während er die Hand der Freundin in der seinen behielt. So blieb er eine Weile liegen, ohne zu sprechen.

So wenig er es vertragen konnte, an den Abschluß des Lebens zu denken, und so gründlich ihm der Gedanke an Auflösung und Vernichtung verhaßt war, so fürchtete er doch den Tod nicht und konnte sich in seinen kraftlosen Augenblicken oft selbst den Gnadenstoß wünschen. Es graute ihm nur davor, langsam hinzusiechen und zum ohnmächtigen Zeugen des Siegeszuges zu werden, den der Verrat durch das Land hielt, hören zu müssen, wie das undankbare Volk, für dessen Wohlfahrt er sein eigenes Glück geopfert hatte, sein Werk schmähte, ohne daß Widerspruch erhoben wurde.

»Es ist dumm, alt zu werden,« sagte er. »Niemand sollte freiwillig sein Alter erleben. Es müßte eine Strafe sein, zu der der Staat Verbrecher verurteilte. Das Leben ist ein unbarmherziger Arbeitgeber. Wenn wir in seinem Dienst ergraut sind, werden wir mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt. Und so boshaft hat der gute Gott es für uns eingerichtet, daß uns in der Regel all das Schwerste und Bitterste für unsere alten Tage aufgespart wird. Wie raffiniert ist es nicht zum Beispiel ersonnen, daß je mehr wir altern, unsere Erinnerungen desto ferner werden. Wir vergessen, was gestern und vorgestern geschah, leben aber in all dem längst Entschwundenen, das von niemandem mehr verstanden wird, und machen uns lächerlich. So lohnt das Leben seine Getreuen!«

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Die Gnomengestalt der kleinen Jensen erschien in ehrbarem Nachtgewand, oben mit einem Schal umhüllt.

»Haben der Herr gerufen?«

»Ja, wollen Sie, bitte, nach einem Auto für das gnädige Fräulein klingeln ... Aber freilich!« sagte er, als die Freundin flehend die Hand auf seinen Arm legte. »Ich will nichts von diesen Nachtwachen wissen. Gib mir mein gewöhnliches Schlafpulver – und dann gute Nacht!«

Auf dem Heimwege, als Fräulein Ewaldsen über den Höbrplatz fuhr, wo der »Fünfte Juni« sein Geschäftshaus hatte, sah sie, daß Licht in den Redaktionsräumen war. In dem Gedanken, daß sie vielleicht den Redakteur Samuels?« treffen und ihm Enslevs Bescheid überbringen könne, ließ sie den Wagen halten. Sie würde dann ja auch hören, ob es etwas Neues gab.

Auf der Halbdunkeln Treppe begegnete sie dem Redaktionssekretär, der sie ohne Staunen begrüßte. Es war nichts Ungewöhnliches, Enslevs alte Geliebte zu dieser späten Stunde hier auftauchen zu sehen, – »das Sturmzeichen«, wie sie in der redaktionellen Diebssprache genannt wurde, weil sie sich namentlich blicken ließ, wenn Unruhe in der Luft war.

»Wissen Sie, ob Samuelsen schon gegangen ist?« fragte sie. »Ich glaube nicht. Vor kurzem wenigstens war der Redakteur noch oben in der Setzerei. Aber das Blatt ist eben in Druck gegeben, gnädiges Fräulein! Falls da etwas ist, was noch im letzten Augenblick hinein soll

»Nein, da ist nichts. Wollen Sie mir aber einen Gefallen tun und nachsehen, ob Samuelsen noch hier ist.«

Der Redakteur stand an seinem Schreibtisch; er hatte den Überrock bereits angezogen und war im Begriff, das Licht auszudrehen. Es war ein fetter, rotwangiger Mann in den Vierzigern, kahl bis zum Nackenwirbel, dafür aber mit einem großen, sorgfältig frisierten Vollbart ausgestattet. Als der Redaktionssekretär Fräulein Ewaldsen meldete, zog er vor Ärger die Nase kraus. Als aber das Fräulein selbst erschien, war er ein Lächeln und bat sie mit süßlicher Liebenswürdigkeit, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

Sie richtete ihren Auftrag aus und fragte dann, ob etwas Neues vom Reichstag gekommen sei.

»Nein, nichts Besonderes. Aber die Gerüchte von Propst Brobergs Ernennung halten sich.«

»Ja, das weiß ich! ... Enslev ist wieder unpäßlich geworden, aber ich wollte Sie bitten, Herr Samuelsen, die Sache nicht auf eine solche Art mitzuteilen, daß sie bei einigen Angst – oder bei gewissen andern Hoffnungen erregen könnte. Das letztemal, als er krank war, hieß es ja in der Stadt, er sei tot, und daran war der ›Fünfte Juni‹ nicht ohne Schuld. Es darf aus diesem Rückfall also nichts ›Sensationelles‹ gemacht werden.«

Der Redakteur widersprach nicht, versprach aber auch nichts. Lächelnd schlug er die Augen nieder und schwieg.

Als Fräulein Ewaldsen nun gehen wollte, bat er sie inständig, noch einen kleinen Augenblick zu verweilen. Er wolle gern die Gelegenheit benutzen, ihr eine streng vertrauliche Mitteilung zu machen, sagte er.

»Aber mein Wagen hält unten.«

»Es läßt sich in wenigen Worten sagen.«

Herr Samuelsen, der dem Aussehen und Wesen nach mehr einem Geschäftmann als einem Journalisten glich, hatte seinen Posten als Chef auch auf dem Kontorwege erreicht. Er schrieb selbst nie eine Zeile in dem Blatt, instruierte und dominierte aber einen Stab von Mitarbeitern, deren Wert für das Abonnementsprotokoll er genau schätzte und beaufsichtigte. Persönlich stand er der Anzeigenabteilung vor, der er sein besonderes Interesse widmete. Er war der Leiter des Blattes zu einem Zeitpunkt geworden, wo das Kopenhagener Zeitungswesen aus einer Art Hausfleiß zu einer Industrie in großem Stil wurde, bei der der technische Apparat mehr bedeutete als das Talent und daher einen praktisch ausgebildeten Mann an der Spitze erheischte. Und das Ergebnis war glänzend gewesen. Der »Fünfte Juni«, den Enslev seinerzeit mit einer kleinen Summe zusammengescharrten Geldes in Gang gebracht und zu Anfang fast allein geschrieben harte, war jetzt ein Millionen-Unternehmen, das mehrere hundert Menschen beschäftigte.

Mit bekümmerter Miene vertraute er Fräulein Ewaldsen an, daß sich bei dem monatlichen Abschluß ein recht bedeutender Rückgang der Einnahmen des Blattes, sowohl auf dem Abonnements- wie auf dem Annoncenkonto gezeigt hatte. Die Papierpreise waren gleichzeitig gestiegen, und die Abschreibungen für die neue Viktoriapresse belasteten die Ausgabenseite ebenfalls stark. Falls der Rückgang anhielt, müsse er die Lage für beunruhigend halten.

Fräulein Ewaldsen sagte ihm ihre Meinung geradeheraus, »die er ja übrigens sehr gut kenne«. Wenn man die Zeitung mit Theaterklatsch und allem möglichen Trödel, wie Damenputz und Fußballkämpfen, anfüllte, so könne man nicht erwarten, daß vernünftige Leute sie lesen wollten.

Samuelsen lächelte mit seiner unveränderlichen Liebenswürdigkeit, die jedoch einen Schimmer von Wehmut bekommen hatte. Er bedauerte, daß sie nicht ganz einig in dem seien, was das Ziel eines modernen Blattes sein müsse. Wenn man eine Zeitung allein zur Freude für die vernünftigen Menschen im Lande redigieren wolle, so würde man gleichzeitig gezwungen sein, zur Handpresse und Kreuzbandversendung zurückzukehren. Die Zeiten hatten sich geändert – leider! Die Leute interessierten sich nicht mehr für Politik, ausgenommen gerade während eines Wahlkampfes.

»Da soll das politische Interesse jetzt wahrlich wachgerüttelt werden!« entfuhr es Fräulein Ewaldsen. »Warten Sie nur!«

Samuelsen betrachtete sie einen Augenblick mit Verständnis. Dann strich er sich mit seiner schwarzbehaarten Hand bedächtig über den Bart. Und es entstand eine längere Pause.

»Was ich also gern von Ihnen erreichen wollte, Fräulein Ewaldsen, ist, daß Sie unter der Hand – bei einer passenden Gelegenheit – Enslev darauf vorbereiten, daß sich die Abrechnung für das laufende Quartal wahrscheinlich erheblich weniger günstig stellen wird, als er es jetzt seit einer Reihe von Jahren gewohnt gewesen ist. Ich möchte ungern, daß die unangenehme Mitteilung zu überraschend für ihn kommen sollte. Könnte es mir außerdem gelingen, Sie zu überreden, daß Sie einen Vorschlag unterstützen, der darauf hinausgeht, den Ton in unsern politischen Artikeln im Augenblick ein wenig zu dämpfen, so glaube ich, daß dies dem Blatt nützlich sein und Zufriedenheit in großen Teilen unseres Leserkreises hervorrufen würde. Ich kann Ihnen mitteilen, was jetzt beim Quartalswechsel bewiesen ist –, daß Enslevs Striger Rede, die wir ja in einem stenographischen Referat brachten, uns ringsumher auf dem Lande über achthundert feste Abonnenten gekostet hat. Und man darf ja nicht vergessen, daß, was uns verloren geht, den andern zugute kommt. Ich weiß mit voller Sicherheit, daß mehrere von den gemäßigten Blättern seit dem vorigen Sommer einen nie dagewesenen Aufschwung genommen haben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Gehör des Publikums jetzt im Begriff ist, sich sanfteren Stimmen zuzuwenden. ›Die Volkszeitung‹ soll zum Beispiel auf ihre kirchliche Sonntagsbeilage hin schon über zweitausend neue Abonnenten bekommen haben. Das ist doch ein Fingerzeig, nicht wahr? ... Und die Stellung des ›Fünften Juni‹ darf um keinen Preis in dem Bewußtsein des dänischen Volkes erschüttert werden. In dem Punkt sind wir uns sicher vollkommen einig, Fräulein Ewaldsen. Seinen Traditionen getreu, soll das Blatt als der grundfeste Leuchtturm mitten in der Brandung stehen ... der Lichtspender in allen Streitigkeiten und Konflikten des Tages.«

»Nun werden Sie ja in allernächster Zeit selbst Gelegenheit haben, Ihre Anschauungen zu entwickeln,« sagte Fräulein Ewaldsen, indem sie sich erhob, und es lag eine bedeutende Portion Geringschätzung in ihrem Ton, denn sie wußte, daß Herr Samuelsen beträchtlich weniger beredt war, wenn er Enslev gegenüberstand. Sie empfand außerdem innen lebhaften Unwillen gegen den Mann und beklagte, daß ihm Enslev ein so großes Vertrauen erwies. Schon allein der Anblick seiner behaarten Hände erregte Ekel in ihr, um so mehr, als man von ihm sagte, er sei der ärgste Sodomiter der Stadt.

Einige Besorgnis hatten seine Worte aber doch in ihrem Innern hinterlassen. Enslev hatte sich daran gewöhnt, viel Geld zu gebrauchen. Seine Hilfsbereitheit politischen Freunden gegenüber war ohne Grenzen, und die vier, fünf Provinzzeitungen, die er besaß, forderten oft recht beträchtliche Zuschüsse. Er selber hatte offenbar keinen rechten Begriff davon, wie er eigentlich gestellt war. Sollte er nun während des bevorstehenden Kampfes auch noch in pekuniäre Schwierigkeiten geraten, so würden seine Feinde sich freuen. Und da waren schon ohnehin Gefahren genug, die ihn aus der Finsternis bedrohten. Sie fand oft, wenn sie an die Zukunft dachte, daß es sei. als starre sie in eine Gewitternacht hinein.


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