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Sie konnte das nächste Wiedersehen kaum erwarten. Zweimal schrieb sie ihm in dieser Zeit, kurze, zärtliche Briefe, und erhielt keine Antwort. Eine unbestimmte Angst durchbebte sie, die aber geradezu in Seligkeit dahinschmolz, als er ihr am Samstagabend am gewöhnlichen Treffort an der Stadtparkecke heiter, strahlend und jung entgegenkam. Warum er ihr nicht 100 geantwortet habe. – Geantwortet? Wieso? Er hatte keinen Brief bekommen. Wohin hatte sie ihm denn geschrieben? Ins Atelier? Aber hatte sie denn vergessen, daß er übersiedelt war? – Übersiedelt –? – Aber ganz bestimmt hatte er ihr's neulich gesagt. Der Freund war abgereist, nach München, man mußte das Atelier aufgeben; und so hatte er vorläufig ein kleines Zimmer bezogen, als Übergang gewissermaßen und dafür jedenfalls gut genug.
Sie hatten nicht weit zu gehen; bis zu einem sehr alten Haus in einer engen, schwach beleuchteten Gasse der inneren Stadt. Eine schmale Treppe hinauf stiegen sie in das vierte Stockwerk, Kasimir öffnete die Wohnungstür, das Vorzimmer war dunkel, aus der Küche, durchs Schlüsselloch, schimmerte ein Licht, und es roch nach Petroleum. Sie traten ins Zimmer. In der Fensteröffnung stand finster der Rauchfang des gegenüberliegenden Hauses. Das Dach war so nahe, daß man es fast mit Händen greifen konnte. Aber wenn Therese ihren Blick seitlich sandte, erblickte sie über Dächer und Rauchfänge hinweg einen weiten Ausschnitt der abendlichen Stadt. Kasimir erklärte Theresen die Vorzüge seiner neuen Wohnung – Ausblick, Ungestörtheit, Wohlfeilheit. Vielleicht würde er sich entschließen, sie auf ein Jahr zu mieten. »Kann man denn hier malen?« fragte Therese. – »Kleinere Bilder schon«, bemerkte er beiläufig. Kasimir hatte die Kerze noch nicht angezündet, und in dem matten Nachtschein, der von dem klaren, blauen Himmel in den engen Raum fiel, sah der hohe, alte Schrank, das schmale Bett, dessen Kopfende in die Fensterecke gerückt war, und insbesondere der große Kachelofen anheimelnd genug aus. 101 Kasimir betonte, daß sie sich in einem der ältesten Häuser von Wien befänden, in einem einstigen kleinen Palais; – und ein Teil der Möbel sei alter gräflicher Besitz. Therese wollte einen Blick in den Schrank tun. Kasimir ließ es nicht zu; er habe noch nicht Ordnung gemacht. Er sei doch erst heute früh hier eingezogen. Wie – heute erst –? und hatte ihre Briefe ins Atelier nicht bekommen!? Sonderbar, dachte sie, aber sie sprach es nicht aus. – Übrigens habe er ihr ein Geständnis zu machen. Nämlich, er war genötigt gewesen, seinem Freund, demselben, mit dem er bisher das Atelier bewohnt hatte, aus einer Verlegenheit zu helfen, und hatte nicht einmal genug zurückbehalten, um für ein Abendessen zu sorgen. Sie reichte ihm ihre Geldbörse, er eilte davon. Sie blieb allein in dem dunklen Zimmer zurück und seufzte. Ach Gott, warum log er nur so viel, als wär's eine Schande, ein armer Teufel zu sein, und war doch manchmal wieder geradezu stolz darauf! Und alle seine Lügen hingen doch nur mit seiner Armut zusammen. Sie wollte ihn bitten, daß er ihr von nun an alles rückhaltlos anvertraue, was ihn bedrücke. Es stand ja nun so, daß sie wahrhaftig kein Geheimnis voreinander haben durften. Auch sie nicht vor ihm. Noch heute sollte er wissen, daß sie ein Kind erwarte.
Kasimir blieb lange aus. Der Gedanke durchfuhr sie, daß er vielleicht gar nicht zurückkommen würde. Wieder kam ihr der Einfall, den Schrank zu öffnen, aber er hatte, ohne daß sie es gemerkt, den Schlüssel abgezogen. Ein kleiner Koffer stand unter der Bettstelle. Sie zog ihn hervor, er war unversperrt, ein paar armselige geflickte Wäschestücke lagen darin und eine ausgefranste 102 Krawatte. Sie schloß wieder zu und schob den Koffer an seinen Platz zurück. Sie war erschüttert. Kasimirs Armut schnitt ihr ins Herz, tiefer, als eigenes Elend es je getan. Sie fühlte eine Zusammengehörigkeit mit ihm wie nie zuvor; nicht anders, als wenn sie beide vom Schicksal füreinander bestimmt wären. Wie vieles könnte man einander tragen helfen!
Als er nun eintrat, ein kleines Päckchen und eine Flasche Wein in der Hand, fiel sie ihm stürmisch um den Hals, und er ließ ihre Zärtlichkeiten mit Herablassung über sich ergehen. Ob es nur der Wein war, der ihr die Seele leicht machte und die Zunge löste, oder dieses Einandernahesein, wie sie es noch niemals empfunden, – plötzlich, sie wußte nicht wie, in seine Arme geschmiegt, gestand sie ihm, was sie nun seit Tagen schon in der Brust verschlossen trug. Er wollte es nicht recht ernst nehmen. Er war überzeugt, daß sie sich irrte. Man müßte doch noch einige Zeit abwarten, dann würde man ja weiter sehen. Und er sagte mancherlei Dinge, die sie geschmerzt hätten, wenn sie sie völlig hätte verstehen, ja, nur recht hätte anhören wollen.
Als sie miteinander die Treppe hinuntergingen, war zwischen ihnen alles so, als wenn sie ihm überhaupt nichts gesagt hätte. Mitternacht war lange vorbei, als sie vor Theresens Haustor Abschied nahmen. Er hatte es heute wieder besonders eilig; es war ja auch alles verabredet, seine Adresse kannte sie, er die ihre, und vielleicht in wenigen Wochen schon würde man wieder beisammen sein – im Grünen unter dem Sternenhimmel. 103