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Eines späten Abends im Mai klingelte es wieder einmal an ihrer Tür. Sie schrak zusammen. Gerade heute, 383 zur Bezahlung einer morgen fälligen Rechnung, hatte sie einen größeren Geldbetrag aus der Sparkasse abgehoben und zu Hause in Aufbewahrung. Und gerade darum zweifelte sie nicht, daß es Franz war, der draußen vor der Türe stand. Sie schwor sich zu, daß er keinen Kreuzer von ihr bekommen sollte. Im übrigen hatte sie das Geld so sorgfältig verborgen, daß sie überzeugt war, er könnte es nicht finden. Das Fenster stand offen, schlimmstenfalls würde sie rufen. Auf den Zehenspitzen schlich sie hinaus, zögerte, wagte nicht einmal, durchs Guckloch zu blicken – da schlug es heftig an die Tür, sie fürchtete, die Nachbarn könnten es hören, und öffnete.
Franz, dem ersten Anschein nach besser gekleidet als sonst, sah kränker und bleicher aus denn je. »Guten Abend, Mutter«, sagte er, wollte weiter, Therese aber verstellte ihm den Eingang. »Na, was ist denn?« fragte er mit bösen Augen.
»Was willst du?« fragte sie hart. Er schloß die Türe hinter sich. – »Kein Geld«, erwiderte er, höhnisch auflachend. »Aber wenn du mich heut nacht da möchtest schlafen lassen, Mutter.« – Sie schüttelte den Kopf. – »Für eine Nacht, Mutter. Morgen bist du mich für immer los.« – »Das kenn' ich schon«, sagte sie. – »Ah, ist vielleicht schon wer da? Liegt vielleicht schon einer auf dem Diwan?«
Er schob sie fort, öffnete die Tür des Wohnzimmers, blickte sich nach allen Seiten um. »In meiner Wohnung wirst du nimmer schlafen«, sagte Therese.
»Die eine Nacht, Mutter.« – »Du hast doch irgendeine Schlafstelle, was willst du bei mir?« – »Für heute nacht bin ich ausquartiert, das kommt halt 384 vor, und für ein Hotel hab' ich kein Geld.« – »Soviel, als du für ein Hotel brauchst, kann ich dir geben.« – Seine Augen blitzten auf. »Na, her damit, her damit!«
Sie griff in ihre Geldbörse, reichte ihm ein paar Gulden. »Das soll alles sein?« – »Damit kannst du drei Tage im Hotel wohnen.« – »Also, meinetwegen, ich geh'.« Doch er blieb stehen. Sie sah ihn fragend an. Er fuhr fort mit höhnischem Lachen: »Ja, ich geh', wenn du mir mein Erbteil auszahlst.« – »Was für ein Erbteil? Bist du verrückt?« – »O nein. Was mir zukommt von der Großmutter, will ich haben.« – »Was kommt dir zu?« –
Er trat ganz nah an sie heran. »Also, pass' einmal auf, Mutter. Du hast's ja g'hört, du siehst mich heut zum letztenmal. Ich hab' einen Posten, nicht da in der Stadt, draußen wo. Und ich komm' überhaupt nie wieder. Wie soll ich denn zu meinem Erbteil kommen, wenn du's mir jetzt nicht gibst?« – »Was redest du denn? Was für einen Anspruch hast du auf ein Erbteil, noch dazu, wo ich selbst nichts geerbt hab'.« – »Ja, glaubst du, Mutter, ich bin aufs Hirn gefallen? Glaubst du, ich weiß nicht, daß du ein Geld hast von Herrn Wohlschein und von deiner Frau Mutter? Und ich soll mir die paar Gulden zusammenbetteln, die ich dringend brauch'. So benimmt sich eine Mutter zu ihrem Sohn?« – »Ich hab' nichts.« – »So, das werden wir gleich sehen, ob du nichts hast.«
Er ging auf den Schrank zu.
»Was unterstehst du dich?« rief sie und faßte ihn bei dem einen Arm, mit dem er sich an der Schranktür zu schaffen machte.
385 »Den Schlüssel her!« Sie ließ von ihm ab, machte einen Schritt zum Fenster hin, beugte sich hinab, als wollte sie hinunterrufen. Er zu ihr hin, stieß sie vom Fenster fort, schloß es ab. Sie eilte auf die Wohnungstüre zu. Er war sofort neben ihr, drehte den Schlüssel um und steckte ihn ein. Dann faßte er ihre beiden Hände. »Gib's gutwillig her, Mutter.« – »Ich hab' nichts«, flüsterte sie durch die krampfhaft geschlossenen Zähne. – »Ich weiß, daß du was hast. Ich weiß, daß du's da hast. Gib was her, Mutter.« – Sie war erbittert, sie hatte keine Angst, sie haßte ihn. »Und wenn ich tausend Gulden hätte, nicht einen Kreuzer so einem Menschen.« – Er ließ einen Augenblick von ihr ab, schien etwas ernüchtert. »Mutter, ich will dir was sagen. Gib mir die Hälfte von dem, was du hast, ich brauch's zum Abfahren. Ich hab' kein' Posten, abfahren muß ich. Wenn s' mich diesmal erwischen, krieg' ich ein Jahr oder zwei.« – »Um so besser«, zischte sie. – »So? Glaubst? Na gut.« Und er stürzte wieder auf den Schrank zu, schlug mit der Faust darauf. Es half nichts; er überlegte einen Augenblick, zuckte die Achseln, nahm dann aus der Tasche ein Stemmeisen und sprengte die Türe auf. Wieder stürzte Therese auf ihn zu, versuchte, seine Arme zu fassen, er stieß sie fort, wühlte unter den Wäschestücken, entfaltete sie, schleuderte eins nach dem andern auf den Fußboden. Wieder versuchte Therese seine Arme zu fassen. Er stieß sie von sich, so daß sie bis zum Fenster flog, und fuhr fort, in der Wäsche zu wühlen, die einzelnen Stücke hinauszuschleudern ; indessen hatte Therese einen inneren Fensterflügel geöffnet, schon wollte sie den äußeren auftun, da war er wieder bei ihr und riß sie zurück. »Räuber!« 386 schrie sie, »Diebe!« Er, mit geröteten Augen, heiser, vor sie hin gepflanzt: »Willst es hergeben oder nicht?« – »Räuber!« schrie sie noch einmal. Nun packte er sie, hielt ihr mit der einen Hand den Mund zu und schleppte, schob, stieß sie in das kleine Schlafkabinett bis vor ihr Bett. »Hast es vielleicht da wo? In der Matratzen? In den Polstern?« Er mußte sie nun wieder loslassen, um im Bett zu wühlen. Und sofort schrie sie wieder: »Diebe! Räuber!« Da hatte er sie schon mit einer Hand an beiden Armen gepackt, mit der andern verschloß er ihr den Mund. Sie stieß mit den Füßen nach ihm. Er ließ nun ihre Hände los, faßte sie am Hals. »Räuber! Mörder!« schrie sie. Er begann, sie zu würgen; sie sank neben dem Bette nieder, er ließ ihren Hals locker, nahm ein Taschentuch, knüllte es zusammen, steckte es ihr in den Mund, nahm ein Handtuch, das am Waschtisch hing, band ihr die Hände zusammen. Sie röchelte, hatte große, starre Augen, die im Dunkel zu ihm aufleuchteten. Nur vom Nebenzimmer her fiel ein Lichtstrahl herein. Er, wie ein Rasender, suchte überall im Bett, riß die Polsterüberzüge auf, sah in der Waschschüssel, im Krug, in der Kommode, unter dem Bettvorleger nach; plötzlich aber hielt er inne, denn von draußen tönte die Klingel, und durch die zwei geschlossenen Türen hörte er Stimmen. Kein Zweifel, man hatte die Mutter rufen gehört, und vielleicht auch den Lärm, den er mit den Fäusten und mit dem Stemmeisen verursacht hatte. Rasch löste Franz das Handtuch von seiner Mutter Händen, rasch zog er den Knebel aus ihrem Mund, sie lag auf dem Boden, röchelte, atmete. »Es is ja nix g'schehn, Mutter«, rief er plötzlich. Ihre Augen waren offen. Sie blickte, sie schaute. 387 Nein, tot war sie nicht. Es konnte nicht viel geschehen sein.
Wieder die Klingel, dreimal, fünfmal, immer rascher hintereinander. Was sollte man tun? Zum Fenster hinaus? Drei Stock tief? Wieder ein Blick auf die Mutter. Nein, es war nichts geschehen. Sie blickte mit offenen Augen, bewegte die Arme, ja, ihre Lippen zuckten. Die Klingel schrillte ununterbrochen weiter. Es blieb nichts übrig, als zu öffnen. Man konnte dann immer noch an den Leuten vorbei, hinunter über die Treppe und auf die Straße. Wenn sie nur nicht da auf dem Boden läge wie tot. Er beugte sich herab zu ihr, versuchte sie aufzurichten. Aber es war, als wenn sie sich wehrte. Sie schüttelte sogar den Kopf. Also, tot war sie nicht. Nein. Ohnmächtig. Oder stellte sie sich nur so, um ihn zu verderben?
Die Klingel schrillte weiter. Klopfen zuerst, dann Faustschläge an die Tür. »Aufmachen! aufmachen!« brüllte es draußen. Franz stürzte in den Vorraum, die Wohnungstür zitterte unter den klopfenden Fäusten draußen. Es blieb nun einmal nichts übrig, er mußte öffnen. War es möglich! Nur zwei Frauen standen da und sahen ihn entgeistert an. Er stieß sie beiseite, lief die Treppen hinab. Da hörte er hinter sich: »Aufhalten! Aufhalten!« Auch eine Männerstimme tönte mit. Sie kam von oben. Und noch ehe er durch das Haustor auf die Straße trat, hatte ihn schon irgendwer von rückwärts bei den Schultern ergriffen. Er konnte sich nicht losmachen. Er schimpfte und schrie. Dann wurde er stumm. Aus war's. Aber die Mutter war ja nicht tot. Ohnmächtig höchstens. Was wollten denn die Leute von ihm? Es war der Mutter doch bestimmt 388 nichts geschehen. Rings um ihn standen Leute. Auch ein Polizist war zur Stelle.
Die beiden Frauen waren indes in die Wohnung hineingestürzt und sahen das Fräulein Therese Fabiani ausgestreckt zu Füßen des Bettes liegen. Gleich hinter ihnen kamen andere, noch eine Frau, noch ein Mann, man legte Therese auf das zerwühlte Bett. Sie blickte um sich, zu reden vermochte sie nicht. Sie erkannte wohl auch kaum die Leute, die allmählich in das Zimmer traten, die Nachbarn, den Polizeikommissär, den Polizeiarzt, verstand wohl auch die Fragen nicht, die man an sie richtete. Man stand daher vorläufig von einer Konfrontation ab, der Tatbestand war ja leicht festgestellt, der Arzt konnte auch konstatieren, daß anscheinend keine lebensgefährliche Verletzung vorlag. Die Wohnung wurde amtlich verschlossen und Therese noch in der gleichen Nacht ins Spital geschafft.
Dort wurde festgestellt, daß ein Kehlkopfknorpel gebrochen war, was die Vorhersage ungünstiger gestaltete, auch für den Sohn. Aussagen der Hausbewohner ergaben, daß die Lehrerin Therese Fabiani die Schwester des Abgeordneten Faber sei, und so wurde dieser noch im Laufe der Nacht von dem Verbrechen verständigt, das an seiner Schwester begangen worden war. In frühester Morgenstunde erschien er in Begleitung seiner Frau am Bette der Leidenden, die in einer Extrakammer lag. Es hatte sich erhöhte Temperatur eingestellt, was die Ärzte nicht so sehr auf die Verletzung als auf den Nervenschock zurückführen zu müssen glaubten. Ihr Bewußtsein war offenbar gestört, sie erkannte die Besucher nicht, die sich bald entfernten. 389