Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Sie hatte, hauptsächlich aus Angst vor Franz, keine Mitteilung zurückgelassen, wohin sie gefahren war. So fand sie erst jetzt bei der Heimkehr, um beinahe acht Tage verspätet, einen Partezettel mit der Nachricht vom Tode ihrer Mutter vor; neben Bruder und Schwägerin 358 stand auch ihr Name unterzeichnet. Sie war mehr erschrocken als ergriffen. Am nächsten Morgen, zu einer Stunde, da Karl voraussichtlich nicht zu Hause sein würde, begab sie sich dahin und wurde von der Schwägerin kühl empfangen. Frau Faber machte ihr einen Vorwurf daraus, daß sie unauffindbar gewesen, der um so begründeter schien, als die Verstorbene in ihrer letzten Stunde nach der Tochter dringend verlangt habe. Nun sei man leider genötigt gewesen, alle Verfügungen ohne die Abwesende zu treffen; das Testament, in das Therese nach Belieben Einsicht nehmen könne, liege beim Notar, enthalte übrigens fast nur Bestimmungen über den literarischen Nachlaß, der in überraschender Menge vorhanden sei, mit dem aber die Gemeinde Wien als tatsächliche Erbin nichts anzufangen wisse und der vorläufig noch nicht abgeholt worden sei. Bargeld sei beinahe keines vorhanden gewesen, hingegen hatten sich einige Gläubiger, kleine Geschäftsleute aus der Nachbarschaft, gemeldet, und zur Begleichung der dringendsten Schulden sollten demnächst die geringen Habseligkeiten der Verstorbenen verkauft werden. Im unwahrscheinlichen Falle eines Überschusses würde man Therese durch den Notar verständigen lassen. Therese entging es nicht, daß die Schwägerin den Blick immer wieder nach der Türe schweifen ließ. Sie begriff, daß die Frau dem Erscheinen des Gatten mit Bangen entgegensah, und bemerkte: »Es ist wohl besser, daß ich jetzt gehe.« Die Schwägerin atmete auf. »Ich komme zu dir, sobald ich kann,« sagte sie, »aber es ist wirklich gescheiter, du triffst jetzt nicht mit Karl zusammen, du kennst ihn ja. Er war nicht einmal beim Begräbnis, in der Besorgnis, daß du vielleicht dabei sein könntest.« – 359 »Wieso stehe ich dann auf der Parte?« – »Die Parte, denke dir, die war schon vorbereitet, die hatte die Mutter schon vor ihrem Tod abgefaßt. Ich erzähl' dir das alles nächstens ausführlich.« Und sie drängte sie beinahe zur Türe hinaus.

Auf dem Heimweg betrat Therese nach langer Zeit wieder einmal eine Kirche. Es war ihr, als müßte sie es zum Andenken der Mutter tun, so wenig diese selbst religiöse Gebräuche jemals gehalten hatte. Und wieder geschah es ihr, wie in verflossenen Jahren so oft, daß in dem Halbdunkel des hohen, weihrauchduftenden Raumes eine wunderbare Ruhe über sie kam, eine andere und tiefere, als die Ruhe war, von der sie sich je in der Stille eines Waldes, auf einer Bergwiese, in irgendeiner anderen Einsamkeit beglückt gefühlt hatte. Und während sie mit unwillkürlich gefalteten Händen in einem Kirchenstuhle saß, erschienen ihr im Dämmer nicht nur die Gestalt der Mutter, wie sie sie zum letztenmal gesehen, auch andere Verstorbene, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, zeigten sich ihr, doch wieder nicht als Tote, sondern vielmehr wie Auferstandene, die zur ewigen Seligkeit eingekehrt waren; auch Wohlschein war unter ihnen, der ihr nun zum erstenmal nicht als ein plötzlich Dahingeraffter, als ein Verwesender vor Augen stand, sondern wie einer, der vom Himmel aus lächelnd und verzeihend zu ihr herunterblickte. Und fern, unrein, verdammt beinahe, erschienen ihr nun die Lebendigen. Nicht nur Menschen, die ihr Leid gebracht, wie ihr Bruder, ihr Sohn, wie jener jämmerliche Kasimir Tobisch einer war, und die man sich alle auch schon bei Lebzeiten als verdammt vorstellen konnte, – auch Menschen, die ihr niemals 360 Böses getan; selbst ein Wesen wie Thilda war ihr ferner, entrückter, als ihr die Toten waren, erschien ihr fremd, beklagenswert, ja, wahrhaft verdammt.


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