Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Die Erlösung war da. In todestiefer und doch beglückender Ermattung lag Therese. Eine Kerze auf dem Tisch brannte durch die Nacht. Wann nur hatte sie jene angezündet? Sie wußte es nicht mehr. Und da war das Kind. Mit halboffenen, blinzelnden Augen, mit einem verrunzelten, häßlichen Greisengesicht lag es da und rührte sich nicht. Es war wohl tot. Gewiß war es tot. Und wenn es nicht tot war, – in der nächsten Sekunde würde es sterben. Und das war gut. Denn auch sie, die Mutter, die es geboren, mußte sterben. Sie hatte nicht die Kraft, den Kopf zu wenden, die Lider fielen ihr immer wieder zu, und sie atmete flach und rasch.

Mit einem Male war ihr, als regte sich etwas in den Zügen des Kindes; auch die Ärmchen und Beinchen bewegten sich, der Mund aber verzog sich wie zum Weinen, und ein leises klägliches Wimmern klang an ihr Ohr. Therese erschauerte. Nun, da das Kind Zeichen seines Lebens gab, wurde ihr sein Dasein unheimlich, ja bedrohlich. Mein Kind, dachte sie. Und dieses Kind war ein selbständiges, ganz für sich allein bestehendes Wesen, hatte Atem, Blick und ein Stimmchen, ein ganz kleines, wimmerndes Stimmchen, das aber doch aus einer neuen lebendigen Seele kam. Und es war ihr Kind. Aber sie liebte es nicht. Warum liebte sie es nicht, da es doch ihr Kind war? Ach, das kam wohl daher, daß sie müde war, viel zu müde, um irgend 142 etwas auf der Welt lieben zu können. Und es war ihr, als wenn sie aus dieser Müdigkeit ohnegleichen nie wieder völlig erwachen könnte. »Was willst du in der Welt?« sprach sie in der Tiefe ihres Herzens zu dem leise wimmernden, verrunzelten Geschöpf, während sie zugleich den rechten Arm darnach ausstreckte und es an sich zu ziehen versuchte. Was sollst du ohne Vater und Mutter auf der Welt, und was soll ich mit dir? Es ist gut, daß du gleich sterben wirst. Ich werde allen sagen, daß du überhaupt nie gelebt hast. Wer wird sich darum kümmern? Warst du denn nicht schon tot? War ich denn nicht bei drei Frauen oder vieren, nur damit du nie auf die Welt kämest? Was soll ich denn jetzt mit dir? Soll ich mit dir in der Welt herumziehen? Ich habe mich ja nur um andere Kinder zu sorgen; – ich müßte dich ja doch weggeben; ich hätte dich ja gar nicht. Und ich habe dich ja schon drei- oder viermal umgebracht, bevor du da warst. Was soll ich denn mit einem toten Kind ein ganzes Leben lang? Tote Kinder gehören ins Grab. Ich will's ja nicht zum Fenster hinauswerfen oder ins Wasser oder in den Kanal . . . Gott behüte. Ich will dich nur fest anschauen, damit du weißt, daß du tot bist. Wenn du weißt, daß du tot bist, dann wirst du gleich einschlafen und eingehen ins ewige Leben. Es dauert ja nicht lang, so komm' ich nach. Oh, das viele, viele Blut!! Frau Nebling, Frau Nebling!!! Ach, warum ruf ich sie denn? Sie werden mich schon finden. Komm, Kinderl, komm, kleiner Kasimir . . . Nicht wahr, du willst kein so böser Mensch werden wie dein Vater. Komm, da liegst du gut. Ich deck' dich gut zu, daß dir nichts weh tun wird. Da unter dem Kissen schläft sich's gut, stirbt sich's gut. Noch ein 143 Kissen, daß dir wärmer wird . . . Adieu, mein Kind. Eins von uns zweien wacht nimmer auf – oder wir beide nimmermehr. Ich mein's dir ja gut, mein süßes Kinderl. Ich bin nicht die rechte Mutter für dich. Ich verdien' dich ja gar nicht. Du darfst nicht leben. Ich bin ja für andere Kinder da. Ich hab' keine Zeit für dich. Gute Nacht, gute Nacht . . .

Sie wachte auf wie aus einem furchtbaren Traum. Sie wollte schreien, aber sie vermochte es nicht. Was war denn nur geschehen? Wo war das Kind? Hatte man es ihr weggenommen? War es tot? War es begraben? Was hatte sie denn mit dem Kind getan? Da sah sie die Kissen hoch aufgeschichtet neben sich. Sie schleuderte sie fort. Und da lag das Kind. Mit weit offenen Augen lag es da, verzog die Lippen, die Nasenflügel, bewegte die Finger und nieste. Therese atmete tief, fühlte sich lächeln und hatte Tränen im Aug'. Sie zog den Knaben nah an sich heran, nahm ihn in die Arme, preßte ihn an ihre Brust. Er drängte sich an sie und trank. Therese seufzte tief auf, sie schaute um sich, es war ein Erwachen wie nie zuvor. Morgenschein schwebte durch den Raum, Geräusche des Tages drangen herauf, die Welt war wach. Mein Kind, fühlte Therese, mein Kind! Es lebt, lebt, lebt! Aber wer wird es an die Brust nehmen, wenn ich tot bin? Denn sie selbst wollte ja, mußte ja sterben. Doch in ihrer Todessehnsucht war eine Wonne ohnegleichen. Das Kind trank ihr das Leben aus der Seele fort, es schlürfte ihr Leben in sich ein, Zug für Zug, und ihre eigenen Lippen wurden dürr und trocken. Sie streckte den Arm nach der Teetasse aus, die noch von gestern abend her auf dem Nachtkästchen stand, aber sie fürchtete, das Kind zu stören, und so zögerte 144 sie eine Weile. Das Kind aber, als könnte es verstehen, ließ von ihrer Brust ab, so vermochte Therese die Teeschale zu ergreifen, hatte sogar die Kraft, sich ein wenig aufzurichten und die Tasse an die Lippen zu führen. Mit dem andern Arm aber hielt sie das Kind, hielt es fest; und eine ferne Stunde stieg gespenstisch in ihrer Erinnerung auf, eine Stunde in einem kleinen trübseligen Gasthofzimmer, darin sie eines fremden Manns Geliebte gewesen war und dieses Kind empfangen hatte. Jene Stunde – und diese; – jene Nacht – und dieser Morgen; – jener Rausch – und diese Klarheit ohnegleichen . . . standen die wirklich in irgendeinem Zusammenhang? Fester drückte sie den Knaben an sich und wußte, daß er ihr allein gehörte.


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