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Eines Tages im Januar gab es eine wunderbare Überraschung. Thilda war plötzlich da, ehe der Vater nur gewußt hatte, daß das junge Paar schon in Europa gelandet war. Therese erfuhr die Neuigkeit durch Wohlschein, der sich am Telephon – das sie auch seiner Güte zu verdanken hatte – entschuldigte, daß er heute Abend wegen Thildas plötzlichen Eintreffens nicht, wie besprochen war, sie abholen könne; – er tat es so hastig, verlegen, schuldbewußt beinahe, daß Therese überhaupt nicht dazu kam, weitere Fragen zu stellen. Als sie das Hörrohr hinlegte, empfand sie kaum Freude, ja eher eine gewisse Bangigkeit und Bedrückung. Sie fühlte sich benachteiligt, ja verraten; doppelt verraten – von Thilda, die ihr niemals geschrieben, ihr auch bei Gelegenheit der spärlichen Nachrichten an den Vater keinen Gruß mehr gesandt hatte; – und von Wohlschein, für den sie – oh, sie fühlte es – in dem Augenblick, da Thilda wieder da war, zu einer gleichgültigen, wenn nicht gar störenden Person herabgesunken war. Den ganzen nächsten Tag – wie richtig hatte sie doch geahnt – ließ er nichts von sich hören, um am dritten gegen Mittag plötzlich in Person zu erscheinen, sehr zur Unzeit freilich, denn sie hatte ihn nicht erwartet; und nach der kaum erst überstandenen 326 Krankheit keineswegs noch ganz erholt, in ihrem grauen Flanellhauskleid, mit flüchtig in Ordnung gebrachtem Haar, sah sie ganz anders aus, als sie sich vor ihm zu zeigen liebte. Aber er schien nichts davon zu merken, war zerstreut und aufgeräumt; und das erste, was er berichtete, war, daß Thilda sich aufs angelegentlichste nach ihr erkundigt habe und sich besonders freuen würde, wenn sie morgen, Sonntag, bei ihnen zu Mittag essen wollte. Therese aber freute sich nicht. Mit einemmal kam ihr das Schiefe ihrer Stellung peinlich zu Bewußtsein; daß sie Mutter eines unehelichen Kindes war, daß sie oft genug an Unwürdige sich weggeworfen hatte, das bedeutete plötzlich nichts gegenüber der Tatsache, daß sie die ausgehaltene Geliebte von Thildas Vater war. Sie sprach es nicht aus; Wohlschein aber merkte, was in ihr vorging, und versuchte sie durch Zärtlichkeit zu beschwichtigen. Anfangs blieb sie kühl, starr beinahe. Allmählich aber wurde sie sich doch des Glücks bewußt, daß Thilda wieder da war, daß sie sie morgen wieder sehen sollte; und als sie Wohlschein zum Abschied einen Gruß an das geliebte Wesen mitgab, war sie schon so weit, im Gefühl einer gewissen Überlegenheit scherzhaft zu bemerken: »Du mußt ihr ja nicht sagen, daß du mich besucht hast, du kannst mich ja zufällig getroffen haben.« Er aber, in Pelz, Stock und Hut in der Hand, erwiderte ernst und würdig: »Ich habe ihr selbstverständlich gesagt, daß wir uns öfters sehen, daß wir – sehr gute Freunde geworden sind.«
Thilda kam Theresen so unbefangen entgegen, als hätte sie ihr tags zuvor Lebewohl gesagt, und dieser Eindruck verstärkte sich noch weiter durch den 327 Umstand, daß sie fast unverändert, mädchenhaft, zart, wie früher, nur etwas blässer aussah. Sie für ihren Teil fand, daß Therese sich sehr zu ihrem Vorteil verändert, ja sich geradezu verjüngt habe, fragte beiläufig nach einigen Kolleginnen aus dem vorjährigen Kurs, ohne sich bei Theresens Antworten aufzuhalten, und bestellte Grüße ihres Gatten. »Er ist nicht mitgekommen?« fragte Therese unschuldig, als wäre sie verpflichtet, sich nicht genau unterrichtet zu zeigen. – »Ach nein,« erwiderte Thilda, »das wäre doch nicht das Rechte gewesen.« Und leise errötend: »Man will doch wieder vollkommen junges Mädchen sein, wenn man auf ein paar Tage« – und wie unter Anführungszeichen – »im Vaterhause weilt.« – »Wie, nur auf ein paar Tage?« – »Freilich, es ist doch nur ein Ausflug, Herr Verkade«, so nannte sie ihren Gatten, und Therese war nicht unangenehm berührt davon, »wollte mich eigentlich gar nicht fortlassen. Nun, ich stellte ihn vor ein Fait accompli, löste mein Billett im Reisebureau, packte, und eines Tages sagte ich: Heute abend, acht Uhr dreißig geht mein Zug.« – »Und haben Sie sich sehr nach Hause gesehnt?«
Thilda schüttelte den Kopf: »Wenn ich mich sehr gesehnt hätte – dann wäre ich vielleicht nicht gekommen.« Und auf Theresens etwas verwunderten Blick, mit einem Lächeln, das diesen verwunderten Blick gleichsam wieder erkannte: »Dann hätte ich nämlich versucht dagegen anzukämpfen. Wo käme man hin, wenn man einmal anfinge, jeder Sehnsucht nachzugeben. Nein, gesehnt habe ich mich nicht besonders. Aber nun freue ich mich sehr, daß ich da bin. Übrigens, daß ich nicht vergesse . . .«
328 Sie reichte Theresen ein verschnürtes Päckchen, das auf dem Diwan bereit lag. Während Therese es öffnete und eine große Schachtel holländischer Schokolade und ein halbes Dutzend gestickter Taschentücher von feinster Seide zutage förderte, trat Herr Wohlschein ins Zimmer, zugleich mit seiner Schwester; und während die Tante Thilda umarmte, konnte die Begrüßung zwischen Therese und Herrn Wohlschein in aller Unbefangenheit durch einen verständnisvoll herzlichen Blick geschehen.
Es war kein weiterer Gast zugezogen, das Mittagessen verlief ganz wie in früheren Zeiten in gedämpfter Gemütlichkeit; und hätte Thilda nicht allerlei von ihrer Reise und von ihrer neuen Heimat zu erzählen gehabt, so hätte man glauben können – und Herr Wohlschein unterließ nicht, es zu bemerken – daß sie überhaupt nicht weggewesen sei. Doch mehr als von den Landschaften und Städten, die sie gesehen, mehr als von dem Haus mit den Riesenglasfenstern und den vielen Blumen, in dem sie nun wohnte, sprach sie von den Stunden, da sie, mit Himmel und Meer allein, auf dem Schiffsdeck gelegen war. Und wenn sie auch in ihrer Art vor allem die köstliche Langeweile dieser Stunden rühmte, Therese fühlte, daß diese Stunden der Einsamkeit, des Traums, der Ferne für Thilda das eigentliche und tiefste Erlebnis ihrer Reise gewesen waren, bedeutungsvoller als der Besuch auf einem südamerikanischen Landsitz, von dem sie berichtet, als der abendliche Blick von den Höhen um Rio de Janeiro auf die in hunderttausend Lichtern flammende Bucht, bedeutungsvoller sogar als der Tanz mit dem jungen französischen Astronomen, der auf dem gleichen Schiff zur 329 Beobachtung einer Sonnenfinsternis nach Südamerika gereist war. Bald nach Tisch empfahl sich Therese in der leisen Hoffnung, daß Thilda sie zum Dableiben nötigen würde. Doch Thilda tat nichts dergleichen; sie vermied auch, etwas Bestimmtes für die nächsten Tage zu verabreden, und begnügte sich mit der herzlichen, aber keineswegs verpflichtenden Bemerkung: »Hoffentlich sehe ich Sie noch vor meiner Abreise, Fräulein.« – »Hoffentlich«, wiederholte Therese etwas kleinlaut und fügte hinzu: »Bitte empfehlen Sie mich – Herrn Verkade.« Und das Paket mit Schokolade und Taschentüchern in der Hand, nahm sie Abschied und ging langsam die Treppe hinab – eine einstige Lehrerin, der die verheiratete Schülerin, weil sich das nun einmal so gehörte, etwas mitgebracht hatte.
Es war ein recht trauriger Abend daheim, zwei traurige Tage folgten, in denen weder von Herrn Wohlschein noch von Thilda eine Nachricht kam, und ungute Gedanken stiegen in ihr auf.