Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Sie kam nun in ein ruhiges, behagliches Haus, in dem sie hoffte lange bleiben zu dürfen: zu einem Fabrikanten, der tätig und seiner Tätigkeit froh zu sein schien, einer liebenswürdigen und heiteren Frau und zwei Mädchen, die eben der Kindheit zu entwachsen begannen, 192 klugen, wohlerzogenen, leicht zu behandelnden Geschöpfen, die beide musikalisch besonders begabt waren. Therese war nun gewöhnt, sich rasch in neue Verhältnisse zu finden, und sie verstand es, die Elemente von Fremdheit und Vertrautheit, die beide gewissermaßen das Wesen ihres Berufes ausmachten, gegeneinander auszugleichen und in das richtige Verhältnis zu bringen. Vor allem hütete sie sich, ihr Herz an die jungen Wesen zu hängen, deren Erziehung ihr überantwortet war, blieb aber doch keineswegs gleichgültig; eine Art von kühler Mütterlichkeit, die sie beinahe nach Belieben ein paar Grade höher oder niederer stellen konnte, blieb die Grundstimmung dieser Beziehungen. So war sie innerlich vollkommen frei, wenn sich die Türe des Hauses hinter ihr schloß, und doch wieder daheim, wenn sie zurückkehrte. Ihren Buben besuchte sie regelmäßig, ohne daß in der Trennungszeit besondere Sehnsucht nach ihm sie gequält hätte.

Einmal zu Beginn des Winters, als sie nach Enzbach hinausfuhr, mußte sie wegen Überfüllung des Zuges in einem Coupé erster Klasse Platz nehmen. Ein eleganter, nicht mehr ganz junger Mann, neben ihr der einzige Passagier in diesem Coupé, knüpfte ein Gespräch mit ihr an. Er befand sich auf einer Reise ins Ausland, und nur, weil er zu kurzem Aufenthalt auf einem, von einer kleinen Zwischenstation aus erreichbaren Gut genötigt war, hatte er für den ersten Abschnitt seiner Fahrt diesen Personenzug benützt. Er hatte eine etwas affektierte Art, zu reden und mit dem Zeigefinger der rechten Hand seinen englisch gestutzten Schnurrbart zu streichen. Sie ließ es sich gerne gefallen, daß er sie für eine verheiratete Frau hielt, und er hatte keinen 193 Grund, an ihrer Angabe zu zweifeln, daß sie auf Besuch zu einer Freundin fahre, einer Arztensfrau, Mutter von vier Kindern, die das ganze Jahr auf dem Lande wohne. Als sie in Enzbach ausstieg, hatte der Herr von ihr das Versprechen erlangt, in vierzehn Tagen, nach seiner Rückkehr aus München, sie wiedersehen zu dürfen, und empfahl sich von ihr mit einem Handkuß.

Als sie den verschneiten Weg dem wohlbekannten Ziele zuwanderte, fühlte sie ihren Schritt leichter als sonst und ihr Selbstbewußtsein gehoben. Ihrem Kind gegenüber aber hatte sie diesmal ein merkwürdiges Gefühl von Entfremdung, und in erhöhtem Maße fiel ihr Franzls Sprechweise auf, die, wenn nicht gerade entschiedenen Dialekt, doch immer unverkennbarer den bäuerischen Tonfall merken ließ. Sie erwog, ob es nicht an der Zeit und ob es nicht ihre Pflicht wäre, den Buben von hier weg und in die Stadt zu nehmen. Aber wie ließ sich das ermöglichen? Und während sie in dem niederen, muffelnden Raum bei dem Schein einer Petroleumlampe Kaffee trank, Frau Leutner ihr allerlei vorschwatzte, Agnes in ihrem Sonntagsgewand mit einer Näharbeit am Ofen saß, Franz in einem Bilderbuch leise vor sich hin buchstabierte, sah sie immer den fremden Herrn vor sich, wie er jetzt allein im Coupé in seinem eleganten Reisepelz mit gelben Handschuhen durch den treibenden Schnee in die weite Welt hineinsauste, und erschien sich selbst ein wenig als die verheiratete Frau, die sie ihm vorgespielt hatte. Wenn er ahnte, daß sie keineswegs zu einer Freundin aufs Land gefahren war, sondern zu ihrem Kind, zu einem unehelichen Kind, das sie von einem Schwindler namens Kasimir Tobisch hatte? Gleich aber durchschauerte es 194 sie; sie rief ihren Buben herbei, herzte und küßte ihn, als hätte sie etwas an ihm gutzumachen.

Die nächsten vierzehn Tage verflossen in einer so quälenden Langsamkeit, als hätte das Wiedersehen mit jenem Fremden das Ziel ihres Lebens zu bedeuten, und je näher es heranrückte, um so mehr fürchtete sie, daß der Fremde die Verabredung nicht einhalten würde. Doch er war da; er hatte sogar schon eine Weile an der Straßenecke gewartet. Sein Anblick enttäuschte sie heute ein wenig. Im Coupé war es ihr nicht aufgefallen, daß er von etwas kleinerer Statur als sie und beinahe kahlköpfig war. Aber seine Art, die Worte zu setzen, und insbesondere der Ton seiner Stimme übte gleich wieder die Wirkung von neulich auf sie aus. Sie habe nicht mehr als eine halbe Stunde Zeit, erklärte sie gleich, sie sei zu einem Tee geladen, wo sie ihren Mann treffen wollte, um mit ihm ins Theater zu gehen. Der fremde Herr war nicht zudringlich; er wollte auch nicht indiskret sein; er gab sich zufrieden und legte Wert darauf, ein Versäumnis von neulich gutmachen zu dürfen, indem er sich vorstellte: »Ministerialrat Dr. Bing. Ich verlange nicht Ihren Namen zu wissen, gnädige Frau«, fügte er hinzu. »Sobald Sie überzeugt sind, mir Ihr Vertrauen schenken zu dürfen, werden Sie ihn mir nennen – oder auch nicht. Ganz wie es Ihnen beliebt.« Dann erzählte er von seiner Reise. Es war keineswegs eine Vergnügungsreise gewesen, sondern eine Geschäfts-, eine politische Reise gewissermaßen. Immerhin habe er in Berlin einige Male die Oper besucht, was im Grunde auch hier seine einzige Zerstreuung sei. Die gnädige Frau sei wohl auch musikalisch? – Ein wenig, doch habe sie nicht viel Gelegenheit, Opern und Konzerte 195 zu besuchen. – Freilich, meinte der Ministerialrat, Hausfrauenpflichten, Familienpflichten, man könnte sich wohl denken. – Therese schüttelte den Kopf. Sie habe keine Kinder. Eins habe sie gehabt, das sei gestorben. Sie wußte selbst nicht recht, warum sie log, warum sie verleugnete, warum sie sich versündigte. Der Ministerialrat bedauerte, an eine wunde Stelle gerührt zu haben. Sein Zartgefühl tat ihr so wohl, als wenn sie ihm die Wahrheit gesagt hätte. An einer bestimmten Ecke bat sie ihn, sie nun ihren Weg allein gehen zu lassen. Nachdem er sich höflich von ihr empfohlen, tat es ihr leid, denn nun blieb ihr nichts anderes übrig, als einen Abend zu Hause zu verbringen, den sie sich schon frei gemacht hatte und dessen selbstverschuldete Leere sie fast wie eine Pein empfand.

Beim nächsten Zusammentreffen an einem kalten Winterabend lud der Ministerialrat sie in sehr respektvoller Weise ein, bei ihm den Tee zu nehmen. Sie zierte sich nicht länger als dringend nötig war, und es hätte vielleicht nicht einmal der behaglichen Wohnung, des zartgedämpften Lichtes und des zweck- und geschmackvoll zusammengestellten Mahles bedurft, um das Abenteuer zu dem von ihr vorhergesehenen und gewünschten Abschluß zu führen. Er fragte zwar nichts und schien bereit, ihr alles zu glauben, was sie ihm erzählte; und doch, schon das nächste Mal, um nicht eines Tages als entlarvte Lügnerin dazustehen, hielt sie es für richtig, ihm doch wenigstens einen Teil der Wahrheit zu gestehen. Sie sei zwar verheiratet gewesen, aber nun seit zwei Jahren geschieden. Ihr Mann habe sie nach dem Tode des Kindes verlassen; und da sie von dieser Seite trotz gerichtlichen Anspruches darauf keinerlei 196 Unterstützung genieße, habe sie sich entschlossen, ihren Unterhalt als Erzieherin zu erwerben. Der Ministerialrat küßte ihr die Hand und war noch respektvoller als früher.

Sie trafen einander regelmäßig alle vierzehn Tage. Und Therese freute sich auf die stimmungsvolle Wohnung mit dem zartgedämpften Licht, sogar auf das jedesmal mit besonderem Raffinement zusammengestellte Abendessen, ja einfach auf die Abwechslung, die dieser Tag in ihrem Leben bedeutete, beinahe mehr als auf den Geliebten selbst. Seine Stimme klang noch immer so angenehm verschleiert, seine Redeweise noch immer so entzückend affektiert wie am ersten Tag, aber an den Dingen, die er ihr erzählte, vermochte sie kein besonderes Interesse zu finden. Am liebsten hörte sie ihm noch zu, wenn er von seiner Mutter sprach, die er eine »edle und gütige« Frau nannte, und von seinen Opernbesuchen, über die er übrigens in Phrasen zu berichten pflegte, die ihr aus Zeitungen wohl bekannt erschienen. Auch von Politik sprach er zuweilen, so sachlich und trocken, als wenn er einen Kollegen aus dem Ministerium vor sich hätte, und tat das manchmal auch in Stunden, die für solche Erörterungen wenig geeignet waren. In seiner diskreten Weise, die von Selbstgefälligkeit nicht ganz frei war, hatte er sich erbötig gemacht, ihre materielle Lage durch einen kleinen monatlichen Zuschuß zu erleichtern, was sie nach anfänglicher Weigerung annahm.

Es war im ganzen eine ruhige, es hätte geradezu eine glückliche Zeit für sie sein können; trotzdem empfand sie das Richtungs-, ja das Sinnlose ihres Lebens noch stärker als sonst. Manchmal drängte es sie, dem Manne, der doch am Ende ihr Geliebter war, ihr Herz 197 auszuschütten. Aber immer wieder hielt sie eine innere Hemmung oder auch, wie ihr manchmal schien, ein Widerstand von seiner Seite zurück; ja, sie merkte deutlich, daß er solche Anzeichen ihres Vertrauens abwehren wollte, um Unbequemlichkeiten oder eine höhere Verantwortlichkeit zu vermeiden. So blieb sie sich bewußt, daß auch diese Beziehung in absehbarer Zeit enden würde, ebenso, wie sie nicht daran zweifelte, daß sie auch in dem Hause des Fabrikanten, so freundlich sich ihr Verhältnis zu Eltern und Töchtern auch gestaltet, eine dauernde Stellung oder gar ein Heim keineswegs gefunden hatte.

So stand sie immer und überall auf schwankem Grunde, und auch in der Nähe ihres Kindes kam sie kaum je zu einem Gefühl der Sicherheit. Ja, sie konnte sich nicht verhehlen, daß Franz, wie es nun einmal die Umstände mit sich brachten, mit der Frau Leutner und sogar mit der kleinen Agnes, die in ihrer Frühreife schon fast wie ein erwachsenes Mädchen wirkte, vertrauter stand als mit ihr, der eigenen Mutter. Manchmal sehnte sie sich darnach, sich über ihre seelischen Nöte mit irgendeinem Menschen aussprechen zu können, und ein oder das andere Mal war sie nahe daran, einer der Berufs- und Schicksalsgenossinnen, mit der der Zufall sie zusammenführte und die ihr gegenüber ihre kleineren und größeren Geheimnisse preiszugeben pflegten, auch ihr eigenes Herz aufzuschließen. Aber am Ende ließ sie es doch lieber sein; sie begann als verschlossen, ja als hochmütig zu gelten, was Wohlwollende damit zu entschuldigen suchten, daß sie einer verarmten Adelsfamilie entstamme und sich darum besser dünke als andere ihres Standes.

198 Im Mai, nach Tagen, in denen Sorge und trügerische Beruhigung miteinander gewechselt hatten, konnte sie sich keiner Täuschung mehr darüber hingeben, daß sie wieder in der Hoffnung war. Ihre erste Regung war natürlich, ihren Geliebten davon in Kenntnis zu setzen. Doch als sie es beim nächsten Zusammensein aus einer ihr unbegreiflichen Scheu versäumt hatte, war sie völlig entschlossen, ihn überhaupt nichts wissen zu lassen und ihrem Zustand diesmal auf alle Gefahr hin ein schleuniges Ende zu machen. Lieber den Tod als noch ein Kind. Sie zögerte diesmal nicht lang, und nach wenigen Tagen schon, gegen Zahlung einer nicht übergroßen Summe, die sie ursprünglich für ein neues Kleid bestimmt hatte, war sie rasch und ohne jede böse Folge von ihrer Sorge befreit. In der Familie des Fabrikanten wurde es übel vermerkt, daß sie ein paar Tage das Bett hüten mußte. Man schien Verdacht zu hegen, die Stimmung gegen sie verschlechterte sich, sie empfand die Ungerechtigkeit des Tones, den man gegen sie anschlug, gab sich nicht die Mühe, es zu verbergen, und fühlte, daß ihre Stellung in dem Hause unhaltbar zu werden anfing. Davon, ohne Angabe der Gründe, erzählte sie das nächste Mal ihrem Geliebten, dem Ministerialrat. Seine offenbare Gleichgültigkeit, die er diesmal unter affektierten Phrasen des Bedauerns zu verbergen sich nur wenig Mühe nahm, erbitterte sie. Alles, was sich an unausgesprochenen Vorwürfen nicht nur gegen ihn, sondern gegen ihr Schicksal im Laufe der letzten Monate in ihr angesammelt hatte, ergoß sich über ihn, und Worte kamen über ihre Lippen, deren sie sich gleich nachher schämen mußte. Doch als er sich sofort wieder als derjenige benahm, der ihr zu verzeihen 199 hatte, brach ihre Empörung von neuem aus: sie schleuderte ihm nun ins Gesicht, daß sie von ihm in der Hoffnung gewesen war und daß sie es ihm nur deshalb verschwiegen hatte, weil er ja doch nichts von ihr wisse und von ihr wissen wolle und sie ihm nicht mehr bedeute als irgendein Frauenzimmer von der Straße. Mit gerührten, aber etwas ungeschickten Worten versuchte er sie zu beruhigen. Sie spürte nur, wie froh er war, daß die Sache für ihn so gut ausgegangen, sagte es ihm ins Gesicht, wollte davon, er hielt sie sanft zurück; er küßte ihre Hände, es kam zu einer Versöhnung, von der sie wußte, daß sie nicht von Dauer sein konnte.

Wenige Tage später nahm die Familie des Fabrikanten Landaufenthalt; man benützte die Gelegenheit, um auf Theresens weitere Dienste zu verzichten. Sie atmete auf. Der schöne Sommertag, an dem sie den nun schon hundertmal gegangenen, langsam ansteigenden Weg von Enzbach nach dem Leutner-Hof hinaufschritt, erschien ihr von vorbedeutungsvoll versöhnender Anmut. Nicht nur ihrem Buben, sondern auch Herrn und Frau Leutner und sogar Agnes, die sie immer weniger leiden mochte, hatte sie kleine Geschenke mitgebracht. In diesem Sommer wollte sie sich ernstlicher mit der Erziehung ihres Buben beschäftigen; doch sie fühlte immer wieder, daß es nicht leicht war, gegenüber den stillen und stetig wirkenden Einflüssen einer so völlig anderen, durchaus ländlichen Umgebung ihr eigenes Wesen und ihren eigenen Willen durchzusetzen. Mit Schreck merkte sie, daß Franz eine Redeweise, ja sogar gewisse Gebärden angenommen hatte, die in einer manchmal fast komischen Weise an die unwirsche Art des Herrn Leutner erinnerten. 200 Therese versuchte vor allem, ihm die schlimmsten bäuerlichen Redewendungen und Gebärden abzugewöhnen und sich über seine Fortschritte in den verschiedenen Lehrgegenständen klar zu werden. Über Lesen, Schreiben und die Anfangsgründe des Rechnens war er natürlich noch nicht hinausgekommen. Er faßte ziemlich leicht auf, doch machte ihm das Lernen kein Vergnügen. Gern hätte sie ihn an ihrer eigenen Naturfreude teilnehmen lassen, lenkte seinen Sinn auf die Anmut von Landschaften, auf den Duft der Wiesen und Wälder, den Flug der Schmetterlinge hin. Aber sie mußte bald erkennen, daß er noch nicht reif oder gar nicht geschaffen war, all das zu empfinden. Freilich war das, was Therese täglich selbst mit neuem Entzücken erfüllte, ihm als Bedingung und Atmosphäre seines Daseins vom ersten Lebenstage so gewohnt, daß es ihm unmöglich besondere Schönheit und Freude bedeuten konnte. Mehr als je fiel es diesmal Theresen auf, wie abgeschieden und abgeschlossen, durchaus auf sich selbst und den nächsten Kreis angewiesen die Familie Leutner und ebenso wie diese auch die anderen Familien in dieser Gegend ihr Dasein hinbrachten. Man sah einander oft genug, traf sich auf dem Feld, im Wirtshaus, beim Kirchgang; ein wirklicher Verkehr von Familie zu Familie oder von Person zu Person bestand eigentlich nirgends. Die Gespräche drehten sich beinahe immer um das gleiche, und oft genug geschah es, daß Therese ein und dieselbe unbedeutende Neuigkeit immer wieder, beinahe mit den gleichen Worten, von verschiedenen Leuten berichten hörte. Sie selbst hatte längst aufgehört, den Enzbachern interessant zu sein. Man wußte, daß sie die Mutter vom Franzl und in Wien in Stellung 201 sei. Sie selbst war freundlich gegen jedermann, ließ sich in Unterhaltungen ein, und erst nachträglich pflegte sie zu merken, daß auch sie die Gewohnheit angenommen hatte, irgendeine vollkommen gleichgültige Geschichte ein dutzendmal und immer mit den gleichen Worten zu erzählen.

Um sich die Langeweile zu vertreiben, die sie in den zwei Monaten ihres Aufenthaltes öfter empfand, als sie sich eingestehen wollte, schrieb sie mehr Briefe als seit langer Zeit. Mit einigen ihrer Berufsgenossinnen stand sie in flüchtiger Korrespondenz, bei manchen ihrer früheren Zöglinge brachte sie sich durch gewohnheitsmäßige Kartengrüße in Erinnerung; am ausführlichsten pflegte sie ihrer Mutter zu schreiben, der sie bis zum heutigen Tage von der Existenz ihres eigenen Kindes noch immer keine Mitteilung gemacht hatte und der wie den meisten anderen Leuten sie weiter vorspiegelte, daß sie sich auf dem Lande bei einer Freundin zur Erholung für ein paar Sommerwochen befinde. Daß ihre Mutter etwas ahnte, wenn nicht gar wußte, davon war sie überzeugt; der einzige Mensch, der ihrem Wunsch nach niemals von der Existenz ihres Kindes etwas erfahren sollte, war ihr Bruder, zu dem sich gerade im letzten Jahr nach einer zufälligen Begegnung auf der Straße eine neue, ziemlich förmliche Beziehung entwickelt hatte, so daß er sie im Hause des Fabrikanten, wo sie zuletzt in Stellung gewesen war, einmal besucht hatte.

An den Ministerialrat hatte Therese im Anfang ihres Enzbacher Aufenthaltes einige Briefe gerichtet. Seine Antworten in ihrer kurzen und formellen Art, zu denen die glühenden Anreden und Unterschriften in 202 einem lächerlichen Mißverhältnis standen, wirkten auf Therese unleidlich. Einmal schob sie ihre Erwiderung lange hinaus und ließ es darauf ankommen, ob er sich melden würde oder nicht. Sie hörte nichts mehr von ihm und war im Grunde froh darüber.


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