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Die nächste Zeit verstrich, ohne daß Therese irgend etwas unternommen hätte. Kam nach peinlichst erfüllter Tagespflicht die abendliche Ruhe des Alleinseins über sie, so geschah es manchmal, daß ihr, während sie schlaflos im Bette lag, nicht nur ihr gegenwärtiger Zustand – daß ihr ganzes Leben, die Vergangenheit bis zum heutigen Tage, ihr so fern und fremd erschien, als wenn es gar nicht die ihre wäre. Ihr Vater, ihre Mutter, Alfred, Max, Kasimir schwebten wie unwirklich durch ihre Erinnerung, und wie das Unwirklichste, ja, wie das Unmöglichste von allem empfand sie es, daß in ihrem Schoße sich etwas Neues, etwas Lebendiges, etwas Wirkliches bilden sollte, ohne daß sie selbst auch nur das geringste davon spürte; daß in ihrem stummen, fühllosen Schoße ihr Kind heranwuchs, ihrer Eltern Enkelkind, ein Geschöpf, das zu Schicksalen bestimmt war, zu Jugend und Alter, zu Glück und Unglück, zu Liebe, Krankheit, Tod, wie andere Menschen, wie sie selbst. Und da sie es durchaus nicht zu verstehen vermochte, war es ihr immer wieder, als wenn es überhaupt niemals sein könnte, – als wenn sie sich – trotz allem – täuschen müßte.
Eine flüchtige, gutgemeinte, aber nicht mißzuverstehende Bemerkung des Dienstmädchens brachte ihr zu Bewußtsein, daß man ringsum zu vermuten begann, 120 wie es mit ihr stünde. In einem plötzlichen herzlähmenden Schrecken empfand sie wieder einmal den Ernst ihrer Lage, und noch am gleichen Tag machte sie sich auf einen Weg, den sie schon zweimal vergeblich gegangen war. Diesmal hatte sie es mit einer Frau zu tun, die ihr sofort Vertrauen einflößte. Sie sprach sachlich und beinahe gütig zu ihr, betonte, daß sie sich über das Ungesetzliche ihrer Tätigkeit keiner Täuschung hingebe, daß die grausamen Gesetze aber auf die sozialen Verhältnisse keine Rücksicht nähmen, und schloß mit dem philosophischen Satz, daß es für die meisten Menschen überhaupt am besten sei, nicht geboren zu werden. Der Betrag, den sie forderte, war nicht übermäßig hoch, und es wurde bestimmt, daß Therese sich am übernächsten Tage zu gleicher Stunde hier einfinden sollte.
Therese war wie erlöst. Die ruhige Stimmung, in der sie die ihr gesetzte Frist verbrachte, ließ ihr wieder zu Bewußtsein kommen, wie angstvoll und bedrückt bei eingebildeter Ruhe sie die letzten Wochen verlebt hatte. Ihr Zustand erschien ihr vollkommen natürlich und beinahe unbedenklich. Die Unannehmlichkeiten oder gar die Gefahren, die sie gefürchtet, hörten auf zu bestehen, alles war ohne Grauen.
Doch als sie zur bestimmten Stunde die Treppe hinaufschritt, war es mit ihrer Ruhe plötzlich wieder vorbei. Sie klingelte rasch, um nicht versucht zu sein, die Treppe hinunterzueilen und die Flucht zu ergreifen. Das Dienstmädchen teilte ihr mit, daß ihre Herrin zu einer Kundschaft aufs Land gefahren sei und erst in einigen Tagen wiederkommen werde, Therese atmete befreit auf, so, als wäre nun eine peinliche Angelegenheit 121 nicht etwa aufgeschoben, sondern ein für allemal erledigt. Im ersten Stockwerk, an einer halb offenen Gangtür, standen zwei Frauen im Gespräch, brachen es plötzlich ab und betrachteten Therese mit einem sonderbaren, hinterhältigen Lächeln. Unten vor dem Tor stand ein Fiaker. Der ihr unbekannte Kutscher grüßte so devot, als wollte er sie zum besten halten. Auf dem Heimweg hatte sie ein Gefühl, als ob man sie verfolgte; sie erkannte freilich bald, daß das nur eine Täuschung gewesen war, fand es nun auch nicht mehr auffallend, daß jener Kutscher sie höflich gegrüßt, und nicht bedrohlich, daß zwei Weiber im Stiegenhaus mit hinterhältigem Blick sie gemessen hatten; trotzdem war sie sich klar darüber, daß sie diesen Weg unmöglich noch einmal gehen oder auch bei einer anderen gefälligen Dame ihr Glück versuchen könne. Es kam ihr der Einfall, nach Salzburg zu ihrer Mutter zu fahren und ihr alles zu gestehen. Die mußte doch begreifen, mußte irgendeine Hilfe für die Tochter wissen. In ihren Romanen kamen doch viel schlimmere Dinge vor, und am Schlusse ging alles gut aus. Und in dem Salzburger Haus, was waren da für verdächtige Geschichten passiert! Waren nicht nachts Offiziere und verschleierte Damen aus dem Tor auf die Straße geschlichen? Und hatte die Mutter nicht sie selbst an einen alten Grafen verkuppeln wollen? Aber bei all dem – wie sollte die Mutter ihr helfen? Sie verwarf den Plan wieder. Dann dachte sie aufs Geratewohl irgendwohin zu reisen, wo man sie nicht kannte, in der Fremde das Kind auf die Welt zu bringen, es einem kinderlosen Ehepaar zur Pflege zu überlassen oder zu schenken oder einfach nachts vor eine Türe zu legen und zu fliehen. Endlich 122 fiel ihr ein, ob sie nicht Alfred aufsuchen, sich ihm anvertrauen, seinen Rat erbitten könnte. Solche Einfälle und noch andere mehr, die sie gleich wieder verwarf, gingen ihr durch den Kopf, nicht nur nachts oder wenn sie sonst allein mit sich war; auch während sie mit der Familie Eppich bei Tische saß, mit den Mädchen spazieren ging, ja, sogar während sie ihnen bei den Aufgaben half. Und sie war schon so gewohnt, ihre Berufspflichten mechanisch und seelenlos zu erfüllen, daß wirklich niemand zu merken schien, was mit ihr und in ihr vor sich ging.
Indes mußte die Frau, bei der sie zuletzt Rat und Hilfe gesucht hatte, längst vom Lande zurückgekehrt sein, und an irgendeinem Morgen sagte sich Therese, daß sie nichts Vernünftigeres tun konnte, als doch noch einmal den Weg zu ihr zu gehen. Schriftlich, ohne ihren Namen zu nennen, aber mit deutlicher Bezugnahme auf die neulich stattgehabte Unterredung, kündigte sie sich für den nächsten Tag an.