Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Am nächsten Morgen schon fuhr Therese nach Enzbach. Sechs Jahre war es nun her, daß sie zum letzten Male dort gewesen. Bald nach dem Tod des alten Leutner hatte die Witwe in eine benachbarte Ortschaft geheiratet, Therese hatte zuerst daran gedacht, sich in einem der anderen Bauernhäuser einzumieten, aber in der Scheu, mit irgendeinem der früher bekannten Einwohner in nähere Berührung zu treten, zog sie es vor, in dem höchst bescheidenen Gasthof des Ortes Quartier zu nehmen.

Auf einem kleinen Spaziergang in der vertrauten Gegend, über Wiesen und Felder nach dem nahen Wäldchen, begegnete sie wohl manchem ihr von früher her bekannten Dorfbewohner, doch auch von diesen schien keiner sie zu erkennen. Sie war so allein, als sie es gewünscht hatte, aber das Wohlgefühl, das sie erhofft, wollte sich nicht einstellen. Sie war recht müde, als sie 314 wieder in ihren Gasthof zurückkam. Der Wirt erkannte sie, während sie bei Tische saß, und fragte sie sogar nach dem Franzl. Innerlich so unbewegt, daß ihr selbst leise schauerte, erzählte sie, daß ihr Sohn in Wien eine gute Stellung habe.

Nachmittags blieb sie auf ihrem Zimmer, draußen flimmerte die heiße Sommerluft, und durch die schadhaften Rolläden in blendenden schmalen Streifen glühte die Sonne auf die Wand. Im halben Schlummer lag sie auf dem harten unbequemen Bett, Fliegen summten, Stimmen, nah und fern verhallend, allerlei Geräusche, vielleicht von der Straße, vielleicht von den Feldern her, drangen in ihren Traum. In der Dämmerung erst erhob sie sich und ging wieder ins Freie. Sie kam an dem Haus vorüber, in dem der Franz Kind gewesen und das nun in anderen Besitz übergegangen war. Fremd lag es da, als hätte es niemals etwas für sie bedeutet. Auf der Wiese vor dem Haus war ein feiner Bodennebel, als melde der Herbst sich vorzeitig an. Unverändert und ungerührt, von verwelkten Blätterkränzen umgeben wie sonst und immer noch mit dem Sprung im Glas, schaute das Muttergottesbild unter dem Ahorn sie an. Von der Anhöhe stieg sie zur Hauptstraße nieder, wo die bescheidenen Villen standen; auf Veranden da und dort unter Deckenampeln saßen Sommergäste, Ehepaare, Kinder, geradeso wie sie immer dagesessen waren. Andere Eltern, andere Kinder, und doch immer dieselben für die Spaziergängerin, der die unbekannten Gesichter im Halbdunkel verschwanden. Oben auf dem Bahndamm sauste eben der Expreßzug vorüber, verklang mit seinem Gedröhn und Geschmetter unbegreiflich rasch in der Ferne, und eine 315 Traurigkeit, immer drückender, senkte sich über Therese, die ins Dunkel schritt. – Später saß sie in der Wirtsstube beim Abendessen, und da sie nur wenig Lust verspürte, ihr muffiges Zimmerchen aufzusuchen, aus dem die Hitze noch nicht gewichen war, blieb sie lange unten, nahm die Zeitungen von den Haken, las den »Bauernboten von Niederösterreich«, die »Leipziger Illustrierte«, die »Forst- und Jagdzeitung«, bis sie müde wurde, und schlief dann, da sie gegen ihre Gewohnheit zwei Glas Bier getrunken hatte, tief und traumlos die ganze Nacht.

Die nächsten Tage aber vermochte sie sich schon an der Sommerluft, der Stille, dem Heuduft zu freuen, wie so oft in früherer Zeit. Sie lag lang am Waldesrand, dachte manchmal an den Franz von einst, wie an ein Kind, das längst gestorben war, und verspürte Sehnsucht nach Thilda in einer milden, fast wohltuenden Art. Diese Sehnsucht, so fühlte sie, war nun das Beste in ihrem Leben und trug sie in irgendeine Höhe, wo sie für gewöhnlich gar nicht zu Hause war, und ein alter Wunsch stieg langsam in ihr wieder auf, der Wunsch, irgendwo auf dem Land, im Grünen, möglichst fern von den Menschen, ruhig dahinzuleben. Lebensabend, dachte sie, das Wort stand plötzlich vor ihr, und da sie ihm gleichsam ins Auge sah, lächelte sie ein wenig trüb. Abend? War es schon so weit?

Ihre Müdigkeit schwand allmählich, ihre Wangen hatten sich gerötet, und im Spiegel erschien sie sich gegenüber den letzten Wochen ganz erheblich verjüngt. Unbestimmte Hoffnungen wachten in ihr auf: es kam ihr der Einfall, daß sie sich wieder einmal bei Alfred in Erinnerung bringen könnte, dann dachte sie, daß 316 Herr Wohlschein doch bald wieder zurück sein müßte, bei dem sie Erkundigungen nach Thilda einholen wollte, von der sie noch immer keine Zeile erhalten hatte.

Auch der Gedanke an ihren Beruf meldete sich wieder und damit eine leise Sehnsucht nach Tätigkeit. Die letzten Urlaubstage, die sie sich noch zu vergönnen beabsichtigt hatte, verbrachte sie in einer wachsenden Ungeduld, ja Unruhe, und als plötzlich Regenwetter eintrat, kürzte sie ihren Aufenthalt ab und traf noch vor dem Termin, den sie sich selbst gesetzt hatte, in der Stadt wieder ein.


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