Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Das alte, wohlerhaltene, offenbar erst in der letzten Zeit wieder instand gesetzte Haus in einer Seitenstraße der Mariahilfer Vorstadt gehörte der Familie Wohlschein seit beinahe hundert Jahren. Im rückwärtigen Trakt befand sich die Fabrik für Leder- und Galanteriewaren, im Erdgeschoß des vorderen der Verkaufsladen. Ein größerer und vornehmerer war in der inneren Stadt gelegen, aber die alten Kunden zogen es vor, ihre Einkäufe im Stammhaus zu besorgen. Die Wohnräume lagen im ersten Stockwerk. Der Salon, in den man Therese eintreten ließ, war behaglich und etwas altmodisch mit dunkelgrünen, schweren Vorhängen und gleichfarbigen Plüschmöbeln eingerichtet. Das Speisezimmer, zu dem die Türe offen stand, wirkte dagegen hell und modern. Thilda kam heiter auf den Gast zu und sagte: »Der Vater ist auch schon zu Hause, wir können uns gleich zu Tisch setzen.« Sie trug ein blaues Stoffkleid mit weißem Seidenkragen, die braunen Haare fielen ihr offen über die Schulter herab, während Therese sie bisher immer nur mit aufgestecktem Zopf gesehen hatte; sie sah jünger und kindlicher aus als sonst. Es war ein trüber Wintertag; in der massiven Bronzelampe über dem gedeckten Tisch brannten die Flammen. »Was denken Sie, wo wir heute waren, der Vater und ich?« sagte Thilda. »Im Dornbacher Park und auf dem Hameau. Um halb acht sind wir fortgegangen.« – »War's nicht etwas neblig?« – »Nicht so arg, und gegen Mittag wurde es fast klar. Wir hatten eine sehr schöne Fernsicht über die Donauebene.«

289 Herr Siegmund Wohlschein trat aus dem Nebenzimmer. Er war ein etwas untersetzter und trotz kleiner Glatze und grauer Schläfen noch jugendlich aussehender Herr mit vollem Gesicht, dichtem, dunklem Schnurrbart und hellen, nicht großen, aber freundlichen Augen. »Freut mich, Sie bei uns zu sehen, Fräulein Fabiani. Thilda hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Bitte zu entschuldigen, daß ich als Hochtourist vor Ihnen erscheine.« Er sprach mit auffallend tiefer Stimme, den Dialekt leicht wienerisch gefärbt, trug einen eleganten Touristenanzug und zu den dunkelgrünen Stutzen Hausschuhe aus schwarzem Lackleder. Die Suppe wurde von einem nicht mehr ganz jungen Dienstmädchen aufgetragen. Herr Wohlschein selbst teilte vor, und so hielt er es auch bei den nächsten Gängen. Es war ein bürgerlich-sonntägliches, trefflich zubereitetes Mahl mit einem leichten Bordeauxwein als Getränk. Die Unterhaltung führte aus dem Wiener Wald, dessen herbstliche Reize Herr Wohlschein rühmte, bald in andere Hügel- und Gebirgsgegenden, die er als begeisterter Tourist durchwandert hatte; Therese, freundliche Fragen beantwortend, erzählte von ihrer Jugend, von Salzburg, von ihrem verstorbenen Vater, dem Oberstleutnant, und von ihrer Mutter, der Schriftstellerin, deren Name in diesem Hause völlig unbekannt schien. Auch ihres Bruders tat sie beiläufig Erwähnung, ohne zu bemerken, daß er einen anderen Namen trug als sie, von ihrem Sohn sprach sie natürlich kein Wort, obzwar sie annehmen konnte, daß dessen Existenz Thilda, wie auch anderen ihrer Schülerinnen, nicht unbekannt war, die ihn früher, als er noch bei der Mutter wohnte, gesehen haben mochten. Niemals noch 290 war ihr sein Dasein, sein Zusammenhang mit ihr so fern und unwirklich erschienen als in dieser Stunde. Herr Wohlschein zog sich bald nach Tisch zurück, Thilda aber führte Therese in ihr helles Mädchenzimmer, in dem sich eine kleine, gewählte Bibliothek befand, und besah mit ihr die Illustrationen eines kunstgeschichtlichen Werkes. Bei der Betrachtung des »Barberino« fragte Thilda Therese, ob sie denn nicht das Original kenne, es hinge hier im Kunsthistorischen Museum; Therese mußte gestehen, daß sie dieses seit einem längst verflossenen Besuch mit einer ihrer Schülerinnen nicht wieder betreten hatte. »Das muß nachgeholt werden«, meinte Thilda.

Herr Wohlschein erschien später, in städtischem Gewand, mit hohem, etwas zu engem Kragen, im Pelz, küßte seine Tochter auf die Stirn und sagte, daß er sich zu einer Tarokpartie in ein nahes Café begebe, aber um acht zum Abendessen wieder daheim sein werde. »Und du?« wandte er sich wie entschuldigend an Thilda. »Was hast du vor?« – »Du darfst auch länger ausbleiben«, erwiderte sie nachsichtig lächelnd. »Ich habe Briefe zu schreiben.« – Briefe? dachte Therese, wahrscheinlich auch an die Mutter, die im Ausland lebt. Gewiß hatte Herr Wohlschein den gleichen Gedanken, denn er schwieg eine Weile, und seine gutmütige Stirn runzelte sich ein wenig. Dann empfahl er sich freundlich von Therese, ohne den Wunsch nach einem Wiedersehen auszusprechen. Bald nach ihm hielt es auch Therese an der Zeit, zu gehen, und Thilda hielt sie nicht zurück.

So war ihr Eintritt in dieses Haus vollzogen, es folgten in Abständen von zwei bis drei Wochen weitere 291 Einladungen zu sonntäglichen Mahlzeiten, bei denen manchmal auch andere Gäste anwesend waren: die verwitwete Schwester des Hausherrn, eine sehr gesprächige Dame in mittleren Jahren, die trotz ihres heiteren Temperaments immer wieder mit betrübtem Kopfschütteln von bedenklichen Erkrankungen im Bekanntenkreis zu erzählen liebte, – der bescheidene und schweigsame ältliche Prokurist der Firma Wohlschein, eine ältere Freundin Thildas, Kunstgewerbeschülerin, die in lustiger, oft boshafter Art von ihren Professoren und Kolleginnen sprach, – aber sie alle, wie noch andere gelegentliche Teilnehmer verblieben nur ganz schattenhaft in Theresens Erinnerung, ja, sie hatte sie gleichsam schon vergessen, ehe sie aus der Türe trat; denn es war, als löschten in Thildas Nähe, auch wenn sie sich an der Unterhaltung kaum beteiligte, die übrigen alle gewissermaßen aus. Therese konnte nicht umhin, ununterbrochen ihre Klugheit, ihre Überlegenheit und irgendwie auch ihre Ferne zu spüren.

Und diese Ferne blieb. Immer, nicht nur in den Unterrichtsstunden, auch bei den Gesprächen nachher oder in Thildas Mädchenzimmer, auch im Museum, das sie mit Thilda zuerst an einem der Weihnachtsfeiertage besuchte, war Therese dieser etwas schmerzlichen Ferne sich bewußt, und manchmal war ihr, als müßte sie die blonde Frau des Palma Vecchio, den Maximilian von Rubens und manche andere dieser entrückten Bildnisse beneiden, denen gegenüber Thilda sich freier, vertrauter, inniger zu geben schien als gegenüber Theresen und vielleicht gegenüber allen anderen lebenden Menschen. 292


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