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Wenige Stunden vor dem beabsichtigten Besuch kam ein Brief von Kasimir. Er war daheim gewesen, so schrieb er ihr, daheim bei seiner Mutter, wundere sich, daß er aus Ischl nichts von Therese gehört habe, heute erst, soeben, hatte er ihren Brief bei dem Portier des Hauses vorgefunden, – »wo wir einst so selig gewesen sind«. Ja, so stand wörtlich zu lesen, und es schwindelte Theresen. Er müsse sie wiedersehen, so endete sein Schreiben, und wenn sein Leben auf dem Spiel stünde.
123 Sie wußte, daß er log. Er war sicher gar nie fort gewesen, er hatte auch gewiß alle ihre Briefe erhalten, nicht diesen letzten nur; aber auch seine Lügen gehörten zu ihm, ja gerade die waren es, die ihn so liebenswert und verführerisch machten. Und sie fühlte ihre eigene Liebe zu ihm so stark, daß sie sich vermessen wollte, ihn von nun an halten, ihn für alle Ewigkeit an sich fesseln zu können. Und vorerst, solange es eben noch möglich war – oh, es war noch lange möglich – noch viele Wochen lang, sollte er von ihrem Zustand nichts erfahren. Was sie ihm früher davon erzählt, das hatte er gewiß längst vergessen. Oder, wenn er sich erinnerte und sie nichts davon sprach, so würde er eben gerne annehmen, daß sie sich geirrt hatte. Nur wieder zu ihm, endlich wieder in seinen geliebten Armen ruhen.
Sie trafen einander beim Stadtpark, wie in jenen fernen schönen Zeiten. Es war ein kalter unfreundlicher Herbstabend, und Kasimir wartete schon, als sie kam. Er schien ihr noch schlanker, hagerer geworden; trug keinen Havelock, sondern einen ziemlich kurzen, allzu leichten, hellen Überzieher mit aufgestelltem Kragen. Er begrüßte sie, als hätten sie einander tags zuvor zum letztenmal gesehen. Ja, wie kam es nur, fragte er, daß sie ihm gar nicht geschrieben hatte? Aber sie habe es doch getan, versicherte sie schüchtern, und die Briefe seien auch abgeholt worden. Wie? Abgeholt? Offenbar von einem Unberufenen! Ungeheuerlich! Er würde dem Portier schon einen Tanz machen. Sie fragte ihn, warum er ihr denn nicht einfach nach Ischl geschrieben, daß er zu seiner Mutter gefahren sei? – Ja, damit habe sie freilich nicht unrecht. Aber wenn sie eine Ahnung 124 hätte von den Zuständen daheim. Ein Bruder seiner Mutter habe Selbstmord verübt, und er wies leicht auf den schwarzen Flor, den er um seinen grauen weichen Hut trug. Aber er wollte heute lieber nichts von den Dingen erzählen, die er daheim erfahren hatte. »Davon, Geliebte, ein andermal.« So drückte er sich aus. Jetzt sei ja alles wieder gut. Er habe sogar Aussicht auf eine fixe Anstellung bei einer illustrierten Zeitung, außerdem habe ein Kunsthändler einige seiner Bilder zum Verkauf übernommen.
Im Gasthofzimmer – ach, sie kannte es von früher her – und es war seither nicht freundlicher geworden – war er zärtlich wie noch nie und lustig, wie in jenen allerersten Tagen. Er fragte nach ihren Sommererlebnissen und erkundigte sich scherzhaft, ob sie ihm denn auch treu geblieben sei. Sie starrte ihn nur an und begriff seine Frage wirklich so wenig, als hätten gewisse verworfene Pläne bei ihr niemals bestanden. Sie erzählte von ihren Spaziergängen, ihren Ausflügen, ihrer Reise nach Salzburg, den Anforderungen ihres Berufs, die sie ein wenig übertrieb. Kasimir schüttelte unzufrieden den Kopf. Unwürdig sei es, er blieb dabei, in solcher Sklaverei zu leben. Aber das sollte nicht lange mehr dauern. Jedenfalls müsse sie das Haus der Familie Eppich verlassen und sich lieber durch Lektionen fortzubringen suchen. Da habe sie doch mehr Freiheit. Er würde ja auch bald sein fixes Einkommen haben, sie könnten eine gemeinsame Wohnung beziehen, und warum – alles wohl erwogen – sollte man eigentlich nicht heiraten? Wäre es nicht das Vernünftigste, sogar praktisch in gewissem Sinn? Es half nichts, sie fühlte sich bereit, ihm zu glauben. Leichte Zweifel wollten zwar in ihr aufsteigen, 125 aber sie duldete nicht, daß sie Macht über sie gewannen. Trotzdem aber hütete sie sich, Kasimir etwas von ihrem Zustand zu verraten. Der rechte Augenblick dazu war noch nicht gekommen. Wer weiß, wie bald ihm das Geständnis nur reine Freude bereiten würde!
Schon drei Tage darauf, an einem Sonntagnachmittag, waren sie wieder beisammen. Er hatte ihr, das erstemal seit ihrer Bekanntschaft, ein paar Blumen gebracht, und was sie am meisten ergriff, er bot ihr einen ganz kleinen Betrag als Rückzahlung eines Teils seiner Schuld an. Sie lehnte ab; er drang in sie, und sie erklärte sich endlich bereit, das Geld von seinem ersten fixen Monatsgehalt anzunehmen, aber früher in keinem Fall. Damit gab er sich zufrieden und steckte das Geld wieder ein. Und nun hatte er sie noch um Entschuldigung zu bitten wegen einer Sache, von der er ihr noch nichts verraten und die er ihr nun nicht länger verhehlen wollte. Die Einleitung machte sie ängstlich; aber wie bat sie ihm ab, als er ihr nichts anderes zu gestehen hatte –, als daß er diesmal mit seiner Mutter von ihr gesprochen. Warum auch nicht? Wie bald sollten sich die beiden Frauen von Angesicht zu Angesicht kennen- und lieben lernen. Theresen standen die Tränen im Auge. Und nun wollte auch sie kein Geheimnis mehr vor ihm haben. Er hörte sie ruhig, ernst, ja mit offenbarer Rührung an. Er hatte es ja geahnt; und im Grunde war es ein Zeichen, daß sie füreinander bestimmt seien, daß sie ewig zusammenbleiben sollten; ein wahres Schicksalszeichen. Aber er hielt es für seine Pflicht, sie vor Übereilung zu warnen. Sie solle vorläufig ihre Stelle im Hause Eppich doch lieber nicht aufgeben; man sehe ihr ja nicht das geringste an, vor Neujahr 126 müsse sie das Haus keineswegs verlassen, bis dahin seien es noch zwei Monate, was könnte indessen alles geschehen, insbesondere, da seine, Kasimirs, Angelegenheiten sich sichtlich zum Besseren wendeten. Sie schied beruhigt, beinahe glücklich aus seinen Armen, in zwei bis drei Tagen spätestens wollte er wieder von sich hören lassen.
Doch sie mußte auf die versprochene Nachricht eine Woche lang warten; und als sie kam, war es eine bittere Enttäuschung, denn Kasimir hatte in der leidigen Erbschaftsangelegenheit unvermutet nach Hause reisen müssen. Sie schrieb ihm sofort an die Adresse, die er ihr angegeben; schrieb ein zweites, ein drittes Mal; es kam keine Antwort. Endlich entschloß sie sich auf das Kuvert, was sie bisher nicht getan, ihren Namen und ihre Adresse zu setzen; – drei Tage darauf nahm sie persönlich von dem Postboten den Brief wieder in Empfang mit dem Vermerk: Adressat hierorts unbekannt. Ihre Erschütterung war nicht so tief, als sie erwartet hätte; sie war ja im Innersten auf dergleichen vorbereitet gewesen. Aber sie wußte nun auch, daß es keinen Ausweg mehr für sie gab als den einen längst beschlossenen, wie immer die Sache enden sollte. Dennoch verschob sie die Ausführung des Entschlusses von Tag zu Tag; ihre angstvolle Unruhe wuchs. In der Nacht quälten sie böse Träume. Der Zufall wollte überdies, daß eben wieder in der Zeitung von einem Prozeß gegen einen Arzt wegen Verbrechens gegen das keimende Leben zu lesen war, und plötzlich war Therese völlig überzeugt davon, daß es ihr sicherer Tod wäre, wenn sie den gefürchteten Eingriff an sich vornehmen ließe. Und als sie sich entschieden hatte, nichts zu 127 unternehmen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, kam eine seltsame, ihr zugleich unheimliche und sie doch beglückende Ruhe über sie.