Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Die zwei Mädchen von vier und sechs Jahren, die ihrer Obhut anvertraut waren, machten ihr um so mehr zu schaffen, als die Mutter, den ganzen Tag in einem Bureau tätig, am späten Abend erst nach Hause kam. Der Vater befand sich angeblich auf einer Geschäftsreise, es kamen niemals Briefe von ihm, und Therese war sich bald klar darüber, daß er seiner Frau, einem reizlosen und mürrischen Geschöpf, auf Nimmerwiedersehen durchgegangen war. Das jüngere Mädchen war kränklich, in der Nacht meist unruhig, was die im Nebenzimmer schlafende Mutter kaum zu stören schien. Als Therese einmal davon sprach, daß es doch vielleicht gut wäre, einen Arzt zu Rate zu ziehen, herrschte die Mutter Therese an, erklärte ihr, daß sie selber wisse, was sie zu tun habe, ein Wort gab das andere, und Therese kündigte ihre Stellung. Sie hatte vorher nicht gewußt, daß ihr der Abschied von dem kleinen kränklichen Mädchen so nahe gehen würde, als es nun der Fall war; und noch lange mußte sie an das blasse, 174 rührende Antlitz des Kindes denken und an sein Lächeln, wenn es nachts wimmernd die Ärmchen um ihren Hals gelegt hatte.

Sie wollte nicht früher wieder nach Enzbach fahren, als sie ihre kleine Schuld an Frau Leutner abtragen konnte, und da sich nicht sofort eine neue Stellung fand, zog sie es vor, in einem kleinen Gasthof abzusteigen. Niemals hatte sie in einem kläglicheren und verwahrlosteren Quartier gewohnt. Sie schlief, ohne sich auszukleiden. Unglücklicherweise regnete es während dieser Tage, an denen sie in hundert Straßen treppauf treppab nach einer neuen Stellung lief, beinahe ununterbrochen. Sie wollte diesmal nicht voreilig sein und sich lieber einige Zeit behelfen, wie es eben ging, als wieder in ein Haus eintreten, wo ihres Bleibens nicht sein könnte. Es begegnete ihr, daß man in Häusern, wo sie selbst offenbar sympathisch wirkte und wo sie auch gern geblieben wäre, wegen ihrer fast dürftigen Kleidung – wie sie an den Blicken der Leute wohl merkte – nicht aufgenommen wurde. Was sollte sie tun? Sich noch einmal an die Mutter wenden und mit einer Art Almosen abgefunden werden? Den Bruder aufsuchen, mit dem sie nun fast jahrelang in keinerlei Verbindung mehr stand? Irgendeine der Damen anbetteln, bei denen sie früher in Stellung gewesen war? Vor all dem scheute sie zurück. Auch wußte sie nicht, wo sie eine ausgiebige Hilfe hätte erwarten dürfen. Wieder einmal, in einer endlosen Nacht, da sie angekleidet auf dem miserabeln Bett lag, das nun ihr Lager bedeutete, kam ihr, wie schon vor Jahren in einer ähnlichen Lebenslage, der Gedanke, sich zu verkaufen. Sie dachte daran wie an etwas Gleichgültiges, nur schwer Durchführbares. War 175 sie denn noch eine Frau? Fühlte sie auch nur die geringste Sehnsucht darnach, in den Armen eines Mannes zu liegen? Das erbärmliche Dasein, das sie führte, als ein Geschöpf, das nie sich selber gehörte, das keine Heimat hatte, das eine Mutter war und, statt das eigene Kind, die Kinder fremder Leute behüten und aufziehen mußte, das heute nicht wußte, wo es morgen sein Haupt hinlegen sollte, das an einem Tag zwischen den Erlebnissen, Geschäften und Geheimnissen fremder Leute als eine Zufallsvertraute oder als eine absichtlich Eingeweihte umherging, um am nächsten als eine gleichgültige Fremde auf die Straße gesetzt zu werden, – was hatte solch ein Geschöpf für Anrecht auf ein Menschen-, auf ein Frauenglück? Sie war allein und zum Alleinsein bestimmt. Gab es denn noch irgendein Wesen, an dem sie hing? Ihr Kind? Ihr Mutterherz war abgenützt, wie ihre ganze Seele, wie ihr Leib und wie alles, was sie am Leibe trug. Auch mit ihrer Schönheit – ach, sie war ja niemals wirklich schön gewesen –, mit ihrer Anmut, mit ihrer Jugend war es vorbei. Sie fühlte, wie ihre Lippen zu einem müden Lächeln sich verzogen. Siebenundzwanzig Jahre war sie alt. War das nicht doch zu früh, um alle Hoffnung aufzugeben? Jener Ball im Hause Greitler fiel ihr ein, der noch gar nicht so weit zurücklag und auf dem sie so viele Eroberungen gemacht hatte.

In der Stille und Dunkelheit des Gemachs, während an das Fenster unablässig die Regentropfen schlugen, unter ihrem abgetragenen Mantel, innerhalb der ärmlichen Hüllen und Kleidungsstücke wurde sie sich plötzlich wieder ihres Leibes, ihrer Haut, ihrer pulsenden Adern so schwellend heiß bewußt, wie es ihr kaum 176 je in einem lauen Bade oder in jenen, freilich längst vergessenen Umarmungen geliebter Männer begegnet war.

Des Morgens erwachte sie wie aus einem wollüstigen Traum, dessen sie sich in den Einzelheiten nicht zu erinnern vermochte. In dieser Stimmung mit neuerwachtem Mut wagte sie den Gang zu einer ihr von besseren Zeiten her bekannten Schneiderin. Man kam ihr mit der größten Freundlichkeit entgegen; zur Entschuldigung ihres etwas defekten Aussehens erzählte sie eine Geschichte von einem verlorengegangenen Koffer, auf ihre Bitte verfertigte man ihr innerhalb vierundzwanzig Stunden ein einfaches, gutsitzendes Kostüm, ohne auf sofortiger Bezahlung zu bestehen, und so trat sie ihre Wanderung – ach, wie oft, wie zum Überdruß oft, hatte sie es schon getan – mit erhöhter Zuversicht wieder an.

Sie fand eine ihr zusagende Stellung im Hause einer Professorswitwe, wo sie die Erziehung zweier stiller blonder Mädchen von zehn und zwölf Jahren zu leiten hatte, die ihrer Kränklichkeit wegen in diesem Jahre eine öffentliche Schule nicht besuchten. Die gute Behandlung, die Therese in diesem Hause zuteil wurde, der angenehme Verkehrston, die Bescheidenheit und Folgsamkeit der jungen Mädchen, die Freundlichkeit der Mutter, deren Wesen noch von der Trauer um den erst kürzlich verstorbenen Gatten umschattet schien, wirkte anfangs wohltuend auf sie ein. Auch der Unterricht bereitete ihr um so mehr Vergnügen, als er ausschließlich in ihre Hand gelegt war; sie begann wieder, wie sie es bei Eppichs getan, sich für die Lektionen vorzubereiten, frischte dabei ihre Kenntnisse in manchen Gegenständen auf und 177 fand in sich manches Interesse wieder, das sie schon erloschen geglaubt hatte. Über Weihnachten erteilte man ihr gerne Urlaub, sie fuhr nach Enzbach, hatte diesmal besonders viel Freude an ihrem Buben –, und was sie trotzdem schon am frühen Nachmittag des zweiten Feiertags in die Stadt hineintrieb, hätte sie selbst nicht zu sagen gewußt. Als sie am Abend mit der Witwe und den zwei Mädchen bei dem kärglichen Nachtmahl saß, schweigsam wie gewöhnlich, während von den andern in melancholischen Andeutungen des verstorbenen Familienoberhauptes gedacht wurde, überfiel sie plötzlich eine so quälende Langeweile, daß sie einen dumpfen Groll gegen diese Menschen zu empfinden begann, in deren trübselige Stimmung sie als ganz Unbeteiligte hineingezogen wurde. Sie hatte es freilich oft genug erfahren, daß auf ihre eigene seelische Verfassung niemals die geringste Rücksicht genommen wurde, daß man sich vor ihr in Freude und in Schmerz mit gleicher Lässigkeit gehen ließ; aber noch nie war ihr dies mit einem solchen Gefühl innerer Auflehnung bewußt geworden als gerade hier, wo sie sich eigentlich über nichts zu beklagen hatte, ja, wo man ihr offenbar wohl wollte. Dazu kam noch, daß man auf ihr Nachhausekommen zum Abendessen heute nicht gerechnet hatte und sie daher noch hungriger von Tische aufstand als sonst. Sie faßte in dieser Nacht schon den Entschluß, das Haus baldmöglichst zu verlassen; doch es dauerte noch bis zum Frühjahr, ehe Therese ihren Entschluß zur Ausführung bringen konnte. 178


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