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Eines Abends – sie wollte eben zu Bette gehen – wurde an ihrer Türe geklingelt. Es war Franz, der draußen stand, beschneit, ohne Winterrock, doch in einem anscheinend neuen Anzug von vorstädtisch elegantem Schnitt. Das rot geränderte Taschentuch ragte ihm wie üblich aus der Rocktasche. Ein ganz anderer stand vor ihr als der, den sie vor mehr als einem halben Jahr zum letztenmal gesehen. Nicht im geringsten ein Knabe mehr – ein junger Herr, wenn auch keiner von der besten Sorte, ja, mit seinem blassen Gesicht, dem pomadisierten, gescheitelten Haar, der Ahnung eines Schnurrbartes unter der stumpfen Nase, den unsicheren und stechenden Augen eine einigermaßen verdächtige Erscheinung.
»Guten Abend, Mutter«, sagte er mit einem trotzigen und dummen Lachen. Sie sah ihn groß, nicht einmal erschrocken an. Er klopfte sich den Schnee von Kleid und Schuhen, und mit einer linkischen Höflichkeit, als träte er in einen fremden Raum, folgte er der Mutter. Ein Rest des Abendessens stand auf dem Tisch. Sein Blick, gierig beinahe, fiel auf den Teller mit Käse und Butter. Therese schnitt ein Stück Brot ab, wies auf das Essen und sagte: »Bitte.« – »Ja, die Kälte macht einem Appetit«, meinte er, strich sich Butter aufs Brot und aß.
»Also, du bist wieder da«, sagte Therese nach einiger Zeit und fühlte, daß sie blaß geworden war. – »Nicht auf ständig«, erwiderte Franz mit vollem Mund und rasch, als müsse er sie beruhigen. »Weißt, Mutter, ich bin nämlich krank geworden auf dem Weg.«
293 »Auf dem Weg nach Amerika«, ergänzte Therese ungerührt.
Ohne darauf zu achten, sprach Franz weiter: »Eigentlich war es nur ein weher Fuß, aber – es ist halt auch mit dem Geld nicht ausgegangen, und mein Freund, der mit war, hat mich im Stich gelassen. Dann hat mir einer g'sagt, man muß einen Ausweis haben aufm Schiff. Also mit der Zeit verschaff' ich mir schon einen. Aber für'n Moment hab' ich mir denkt, is doch das gescheiteste, fahrst wieder retour.«
»Seit wann bist du denn wieder da?« fragte sie langsam.
»Ich hab' nicht sehr weit zurück gehabt«, erwiderte er ausweichend mit seinem trotzigen Lachen. Dann erzählte er, daß er auch »gearbeitet« habe, nämlich als Aushilfskellner an Sonn- und Feiertagen in einem Wirtshaus. Und wie er behauptete, hatte er Aussicht, in der allernächsten Zeit als »Speisenträger« fest angestellt zu werden. Er hätte schon längst eine solche Anstellung gekriegt, wenn es ihm nicht an allerlei Notwendigem fehlte, vor allem an Hemden; und auch mit seinem Schuhwerk sei es übel bestellt. Er wies der Mutter das Paar, das er an den Füßen trug: dünne Lackstiefeletten mit völlig durchtretenen Sohlen. Therese nickte nur. Sie wußte selbst nicht, ob die Regung, die sie verspürte, Mitleid war oder Angst, daß der Junge ihr wieder in der Tasche liegen würde.
»Wo wohnst du denn eigentlich?« fragte sie. – »Ah, mit dem Quartier hat's keine Not. Obdachlos, Gott sei Dank, bin ich nicht. Da hat man immer schon Freunde.« – »Du kannst ja hier wohnen, Franz«, sagte sie. Doch kaum hatte sie's ausgesprochen, so bereute sie's schon.
294 Er schüttelte den Kopf. »Da g'hör' ich nicht her«, sagte er trocken. »Aber wenn du mich für heut nacht da möchtest schlafen lassen, da saget ich nicht nein. Ich hab' einen weiten Weg, und bei dem Schneegestöber mit die Schuh' –«
Therese erhob sich, zögerte aber gleich wieder. Sie hatte aus dem Wäscheschrank eine der wenigen Banknoten nehmen wollen, die sie dort verwahrte, aber sie fühlte, daß das höchst unvorsichtig wäre. So sagte sie: »Ich mach' dir dein Bett auf dem Diwan, und – vielleicht finden sich auch ein paar Gulden, daß du dir ein Paar Schuhe kaufen kannst.« – Franz runzelte die Stirn und nickte, ohne zu danken. »Kriegst es zurück, Mutter, ich versprich dir's, in spätestens drei Wochen.«
»Ich verlang' nichts zurück«, sagte sie. Franz zündete sich eine Zigarette an und starrte in die Luft. – »Eine Flasche Bier hast nicht zu Hause, Mutter?« Sie schüttelte den Kopf. – »Aber – einen Rum vielleicht?« – »Ich mach' dir einen Tee.« – »Ah, kein Tee, Rum allein macht wärmer. Ich weiß ja, wo du ihn aufgehoben hast.« Er stand auf und ging in die Küche.
Therese breitete die Leinwand auf den Diwan. Draußen hörte sie Franz rumoren. Mein Sohn?! fragte sie sich fröstelnd. Während Franz noch draußen war, nahm sie rasch eine Fünf-Gulden-Banknote aus ihrem Schrank, aber noch während sie wieder zusperrte, stand Franz, unhörbar hereingeschlichen, hinter ihr, die Rumflasche in der Hand. Er tat, als hätte er nichts gesehen. Sie hielt den Schein in der hohlen Hand verborgen und hielt ihn weiter so, bis das Lager fertig war. Er schenkte sich den Rum in ein Wasserglas, füllte es fast zur Hälfte, setzte es an die Lippen. »Franz!« rief 295 sie. Er trank aus und zuckte die Achseln. »Wann einem kalt ist«, sagte er. Er warf Rock, Gilet und Kragen ab. Er hatte nur ein zerschlissenes Trikotleibchen an, kein Hemd, streckte sich auf den Diwan und zog die Decke über sich. »Gute Nacht, Mutter«, sagte er.
Sie stand regungslos, stumm; er drehte sich zur Wand hin und schlief gleich ein. Da nahm sie eine zweite Banknote zu fünf Gulden aus dem Schrank und legte beide Scheine auf den Tisch. Dann setzte sie sich eine Weile hin, den Kopf in die Hände gestützt. Endlich löschte sie das Licht und ging in ihr Schlafgemach, sie kleidete sich nicht völlig aus, legte sich hin, versuchte einzuschlafen, doch es gelang ihr nicht. Kurz nach Mitternacht erhob sie sich wieder, auf den Zehenspitzen schlich sie ins Nebenzimmer. Franz atmete ruhig. Sie mußte daran denken, wie sie in früherer Zeit manchmal seinen Kinderschlaf bewacht hatte; auch heute lag er da, wie er als Kind meistens da gelegen war: die Decke übers Kinn gezogen, und da es dunkel war, sah sie im Geist nicht sein Gesicht von heute, sondern eines aus längst verflossenen Zeiten. Ja, auch er hatte einmal ein Kindergesicht gehabt, auch er war einmal ein Kind gewesen, und auch heute – oh, das war gewiß, sähe sein Gesicht anders aus, wenn sie ihn nicht einmal umgebracht hätte.
Unwillkürlich, wie aus einer verschütteten Tiefe, war dieses Wort ihr ins Bewußtsein emporgestiegen, und sie hatte doch etwas ganz anderes gemeint: wenn ich mich um ihn mehr hätte kümmern können – das hatte sie denken wollen –, dann sähe er wohl anders aus. Wenn ich eine andere Mutter gewesen wäre, wäre mein Sohn ein anderer Mensch geworden. Sie erbebte in 296 tiefster Seele. Leise, fast ohne ihn zu berühren, strich sie ihm über das gescheitelte, pomadisierte Haar. Ich will ihn bei mir behalten, sagte sie vor sich hin. Morgen früh will ich noch einmal mit ihm reden. Dann begab sie sich wieder zu Bette und schlief nun wirklich ein.
Als sie um sieben Uhr früh erwachte und ins Nebenzimmer trat, lag die zerknüllte Decke auf dem Fußboden, die Rumflasche war zu drei Vierteilen leer, und Franz war fort.